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Drittes Lebensfragment

Erstes Kapitel .
Spätsommer des Untergangs

Schlaffer, staubiger Augustwind in den Straßen Wiens! Die Luft ist nicht heiß. Es herrscht nur die föhnhafte Wärme einer lethargischen Gleichgültigkeit. Selbst der Boden, den man tritt, streckt sich ausgepumpt und empfindungslos. Menschen schieben unbeeilt dahin. Kein Unglück, keine Empörung, kein Zusammenbruch liegt auf ihren Zügen, nicht einmal der Hunger, nur matte Verständnislosigkeit für das, was war, und das, was sein wird. Die meisten Männer tragen Uniformen. Aber sonderbare Zusammensetzungen sind darunter, die man in keiner »Adjustierungstabelle für das k. u. k. Heer und die k. k. Landwehr« finden kann. Ein kleiner Junge von achtzehn Jahren etwa schlottert in einem mächtigen Soldatenmantel, wozu er eine graue Sportmütze trägt, während ein langes Skelett in Wickelgamaschen aus einem verschollenen Friedenswaffenrock mit Spinnenarmen hervorwächst. Überall bewegen sich in größeren Haufen oder paarweise, selten aber allein die Gespenster der Front unter der Menge. Ihre Farbe kann man kaum mehr »feldgrau« nennen, ein Wort, in dem noch ein Rest von Grün und Trotz steckt, sie sind erdgrau, dreckgrau, grabesgrau. Feldsoldaten, Urlauber, Verwundete, Leute meist schon der oberen und unteren Altersgrenze. Mit den erstaunten Augen aufgerüttelter Schläfer trotten sie des Weges und können nicht begreifen, daß es Asphalt gibt, Kaufläden, Spiegelscheiben, gedeckte Tische und Weiber. Sie schlurfen in einer brenzligen Gestankhülle von getrocknetem Schlamm und Karbol. Man weicht ihnen aus. Keiner ehrt mehr die Vaterlandsverteidiger in ihrer Elendsgestalt, für niemanden sind sie Helden. Mit Widerwillen und dem flüchtigen Bedauern, das man unappetitlichen Pechvögeln entgegenbringt, hütet sich jeder, mit diesen schmutzstarrenden Bazillenträgern der Ruhr und des Flecktyphus in Berührung zu kommen.

Die meisten Reserveoffiziere – ihre Zahl ist Legion – scheinen wenig Wert darauf zu legen, von den jammervollen Kriegsgestalten gegrüßt zu werden. Auch unter ihnen sehen viele ebenso erdig aus und laufen in einem nicht minder erstaunten Halbschlaf durch die Stadt. Ein anderer Teil dieser äußerst verbreiteten Spezies des europäischen Menschen hat das Spiel noch nicht verlorengegeben. Das sind die Leute, die entweder das Glück eines Halbtauglichkeitsbefundes oder einer hochmögenden Protektion genießen. Sie sitzen in den Kanzleien der Militärämter oder in den hundert verborgenen Schlupfwinkeln jener phantastischen Unternehmungen, die der Vater Krieg mit der lotterhaften Dame Wirtschaft fruchtbar gezeugt hat. »Zentralen« nennt man diese Unternehmungen und ihre uniformierten Schutzbefohlenen »Tachenierer«, ein Wort, das soviel wie Drückeberger bedeutet und das aus dem Fundus der Gaunersprache in den zeitgenössischen Wortschatz Österreichs eingedrungen ist. Unter den Reserveoffizieren besagter Gattung sieht man immer noch etwelche, die selbstbewußten Grimm zur Schau tragen, keine schwarzseherischen Zweifel an sich herankommen lassen, Sporen, Lackschuhe, Breeches bevorzugen und auf einen schneidigen Eindruck Gewicht legen. Aktive Offiziere hingegen zeigen sich fast überhaupt nicht. Sie haben die Lust verloren, das entzauberte Straßenbild der Residenz zu beleben wie einst. Auch der buschige Major fehlt ganz und gar, der in Friedenszeiten all jene unglücklichen Militärpersonen »stellte«, die sich eines schlappen Grußes oder sonstigen Vorschriftsfehlers schuldig machten. Nur hie und da streift in einem Auto das betretene Gesicht eines Höheren vorüber, der sich nicht mehr auskennt.

Eine auffällige und allgemeine Erscheinung auch in den Straßen der Inneren Stadt ist der Rucksack. Vor Jahren noch das Requisit von Ausflüglern, Bergsteigern, Landläufern, hat er nun eine ungeahnte und allgültige Bedeutung gewonnen. Männer und Frauen schleppen ihn auf dem Rücken, wobei das Wort »schleppen« den Sachverhalt fälscht. Schlaff hängen die Rucksäcke. Die Leute tragen sie in witternder Unruhe als Symbol dieses Jahres gleichsam geschultert. Auch gutgekleidete Herren schämen sich solcher Sitte nicht. Aufmerksam, mit der lauernden Vorsicht des Pürschgängers durchstreift man die Stadt. Dies und jenes hat ein Bekannter ausgekundschaftet, ein Freund preisgegeben: Irgendwo in einem äußeren Bezirk befinde sich ein Laden, wo man unter der Hand und ohne Fleischkarte Dauerwurst einhandeln könne. Meist entpuppt sich die schöne Einflüsterung als ein Selbstbetrug. Dennoch trägt der Unerschrockene Beute davon. Wenn auch keine Fleischwaren, so sind es doch ein paar Kerzen, einige Tuben Sidol, eine Tüte klebriger Seidenbonbons oder zweifelhafte Fischkonserven. Nicht nur die berufsmäßigen Schleich- und Kettenhändler, Hamsterer, Haifische, Schieber, nein, auch die harmlosesten Menschen sind von der unermüdlichen, prickelnden Jagdlust besessen. So treibt selbst der Hunger sonderbare Sports- und Spiel-Blüten. Es gibt nicht nur gemeine Raffer, sondern geborene Abenteurer der Verproviantierung, Rutengänger verbotener Genüsse, meisterliche Schatzgräber und, wie auf allen Gebieten des Daseins, ein paar Genies. Ihnen, den Gottbegnadeten, fliegt alles zu. Sie müssen sich um nichts bemühen. Ihr Wesen zieht mit Zauberkraft die seltenen Glücksgüter an. Sie haben im unwiderstehlichen Augenzwinkern schon die Kenntnis der Adressen, die Tiefenschau der Verstecke. Großmütig verkaufen oder verschenken sie ihre Brotkarten, Fettkarten, Fleischkarten, Zuckerkarten, diese schmalen Wechsel auf den Hungeranteil, von dem die Unbegabten leben müssen. Der Bettel geht sie nichts an. Sie sind »eingedeckt«, wie eines der mächtigen Bannworte heißt, von denen die Zeithexe täglich neue erfindet.

An gewissen Orten der Stadt bilden sich, ohne äußerlich besonders auffällig zu werden, Stauungen der Gier. Diese Plätze liegen – so will es ein uralt-ungeschriebener Brauch der Städte – in der Nähe des Flußkanals. Hier kann einen Spaziergänger, der Glück und ein zahlungskräftiges Aussehn hat, ein beredter Blick treffen, ein geheimnisträchtiges Räuspern mahnen. Die Verschwörer ziehn sich in einen Hausflur zurück, und aus der Tasche eines schäbigen Ulsters taucht eine Stange ungarischer Salami, ein Paket Würfelzucker, eine Tafel Schweizer Schokolade, eine Flasche polnischen Schnapses. Das sind Schätze reiner Gnade, vor denen man erschauert, Schätze, die, wenn man es recht bedenkt, in keiner irdischen Valuta errechenbar sind. Unterwürfig bezahlt der Passant jede Summe, denn er ahnt, daß die Banknote ein gefährdeter Papierfetzen ist und vielleicht morgen schon ein ungültiges Tauschmittel vorstellen wird. Käufer und Verkäufer machen sich schnell aus dem Staub. Das Gewissen kümmert sich nicht um die Herkunft der Ware. Der Kenner weiß, daß sie aus den Magazinen der Heeresverpflegung stammt. Er selbst war ja ein paar Monate lang eingerückt und ist mit den Rechnungsoffizieren und Beamten der Intendantur bekannt.

Über das ganze Land ist ein mächtiges Raubnetz geworfen. Tausend Organe aber sorgen dafür, daß gewisse Maschen dieses Netzes immer wieder zerschnitten werden und der Plünderungssegen einem Teil der Reichen und Klugen zugute komme. Dann und wann erhebt ein knorriger Weltverbesserer seine Stimme, macht sich lächerlich und wird beiseite geschafft. Die schwerfällige Obrigkeit ist dieser gelenken Niedrigkeit hilflos ausgeliefert. Nur manchmal, wenn der politische Augenblick günstig ist, um die öffentliche Empörung in brauchbare Bahnen zu leiten und das allgemeine Bewußtsein von der Wahrheit abzulenken, wird der Staatsanwalt vorgeschickt. Er zettelt mit dienstwilligem Pathos einen Prozeß an, in dessen Zuge die Sittlichkeit wiederhergestellt und ein Haufen kleiner oder mittlerer Juden eingesperrt wird, weil sie den Preis von Wollsocken oder Taschentüchern »hinaufnumeriert« haben. In diesem Jahr des Hungers freilich mußte man auch schon zu schärferen Purgantien greifen, und neben den kleinen Opfern fiel mitunter auch ein größerer Mann. Die Sittenkomödie derartiger Prozesse verteilte man fürsorglich auf mehrere Wochen, damit das Publikum Zeit fand, seine Wut bis auf die Neige zu genießen und infolgedessen die Orakelsprüche des Heeresberichts zu überschlagen.

Der Heeresbericht erregt die wenigsten mehr. Jetzt eben – es ist Mittag – gellt der Ruf »Extraausgabe« von allen Seiten über die Kreuzung des Schottenrings. Niemand horcht auf, niemand bleibt erschrocken stehn. Gleichgültig nimmt man den Kolporteuren das Blatt aus der Hand, wirft einen Blick auf den fetten Titel und knüllt gelangweilt den täglichen Graus zusammen: »Neue Erfolge der Deutschen bei Soissons.« Wer glaubt noch an diese Siege? Die Rucksackträger, lüsterne Pfiffikusse oder hoffnungslose Grämlinge, traben weiter. Verwundete und Urlauber, feldgraues Totenvolk, erschrockene Revenants, betteln mit ihrem verständnislosen Lächeln den Bürgersteig um Verzeihung, daß sie sind. Ein draller Reserveoberleutnant macht sich bemerkbar. Die elektrischen Wagen schreien in den ungeölten Kurven wie schimpfende Xanthippen. In Dienstautos oder Privatwagen fahren gewichtige Herren in die Sitzungen. Mitten auf der Straße, unbekümmert um den Verkehr, hat sich eine Gruppe von Männern ineinander verbissen, denen allen der Hut im Nacken sitzt. Der unterrichtete Zeitgenosse ahnt sogleich, daß es sich hier nicht um einzelne Salamistangen und Zuckerhüte handelt. In dieser Gruppe triumphiert der menschliche Geist mit den schwindelerregenden Unwirklichkeiten der höheren Mathematik. Das, was nicht ist, wird als ein Seiendes gewertet und berechnet. Das, was keiner gesehn hat und keiner sehn wird, wandert als Zahl mit Zinsen und Zuschlag von einem zum andern. Irgendwo in einer nordböhmischen Grenzstation soll ein Waggon mit Seife stehn. Wer weiß, ob das wahr ist. Die Gruppe aber scheint sich nicht um die Wirklichkeit zu scheren, sondern nur um die emporschnellenden Gewinnziffern dieser Traum-Seife. In der vollkommenen Verödung wird das Nichts fruchtbar.

Der Rolladen der Tabaktrafik am Anfang der Währingerstraße rasselt empor. Durch die zweihundert Meter lange Menschenschlange davor zuckt hoffnungsfreudige Bewegung. Die Vordersten in der Reihe sind schon seit zehn Uhr angestellt. Die letzten fünfzig etwa werden leer ausgehn. Sie haben nichts als die Hoffnung auf ein Wunder. Aber auch diese hoffnungslose Hoffnung ist wertvoll genug, ihr eine Stunde zu opfern. Nicht anders geht es beim nahen Bäckerladen zu, der schon eine halbe Stunde früher geöffnet hat. Der Unterschied ist nur der, daß sich hier fast durchwegs Frauen in der Schlange drängen. Abgehärtet und ergeben wie die Männer im Schützengraben, stehen sie ihre Zeit aus. Kein junges Gesicht. In Wien scheint es seit einem Jahre nur alte Frauen zu geben. Alle haben schlappe Strümpfe und schiefgetretene Schuhe an den Füßen. Eine der mächtigen Triebfedern des städtischen Lebens, die weibliche Eitelkeit des Beins, ist erloschen.

Mehr und mehr beleben sich die Straßen. Breite Sonne verklärt den Platz. Die Blumen auf den Beeten des Votivparks werden laut. Ein alter Herr blinzelt krampfhaft zu den Hauskronen auf. Er trägt einen hellgrauen Sommeranzug und einen Strohhut, beides die abgeschabten Reliquien einer Welt voll Freud und Lebenslust. Wäre nicht der Trauerflor um seinen linken Arm, würde man sich mißbilligend nach ihm umsehen. Er studiert noch immer das Gesimse der Häuser und den Himmel: Wenn man da hinaufschaut, könnte man denken, es sei nichts gewesen ... Kein Krieg, kein Elend, alles beim alten ... Warum soll ich mir nicht vorstellen, daß ich 1918 nur träume, und daß wir jetzt in Wirklichkeit 1908 haben oder 1898, das schöne Jahr 1898. Es schaut ja alles ganz gleich aus ... Nur das physikalische Institut ... dort war eine Gartenwirtschaft ... Soll ich auf den Burghof zur Wachablösung gehn? ... Komisch, daß mir dieser Einfall kommt, wo ich doch keinen Soldaten mehr ansehn kann ... Damals bei Kriegsbeginn bin ich täglich hingegangen und habe den ›Prinz Eugen‹ mitgesungen ... Aha, jetzt weiß ich, wieso mir der Einfall kommt ... Gestern ist die Burgmusik an der Albrechtsrampe vorbeimarschiert ... Kein einziger Strizzi war dabei ...

Um das Restaurant am Schottenplatz macht der Herr einen großen Bogen. Dort vor dem Eingang steht ein »Zitterer«. Der Spaziergänger hat vor zwei Monaten bei der verunglückten Tiroler Offensive einen Sohn verloren, und seine Nerven sind dem Zitterer noch nicht gewachsen. Zitterer werden die rückenmarkverletzten Opfer der Schüttellähmung genannt. Das Volk hat merkwürdigerweise gegen diese Elenden ein ausgesprochenes Mißtrauen. Man glaubt ihnen das Zittern nicht, man hält es für eine zähe und verschlagene Form des Simulierens. Das Mißtrauen mag seinen tieferen Grund darin haben, daß sich das Geschütteltsein mit aufdringlicher Schamlosigkeit an das Erbarmen zu wenden scheint. Dennoch gibt ihnen jeder, der es kann, ein Almosen, um den schrecklichen Eindruck loszuwerden. Aber auch derjenige, der in den Unglücklichen keine Simulanten sieht, kann sich einer leisen Abneigung nicht erwehren. Militärpatrouillen suchen die Straßen nach derartigen Kranken ab. Aber die Disziplin der Invaliden ist schon so sehr gelockert, daß kein Verbot und keine Torwache sie hindert, die Baracken des Grinzinger Kriegsspitals täglich zu verlassen und ihren Bettelgang anzutreten. Wenn Gefahr naht, verschwinden sie mit unerwarteter Behendigkeit in den Haustoren.

Auch der Zitterer aus dem Schottenplatz verduftete plötzlich in die Wirtshausküche. Ferdinand sah ihn nicht mehr, als er das Restaurant betrat.

Der Speisesaal ist überfüllt. An jedem der Tische sitzen vier und fünf Menschen, die füreinander keine Augen haben und aufgeregt ihre Teller bearbeiten. Das Lokal hat einen guten Namen. Der Ruhm der Wirtschaften wechselt freilich von Tag zu Tag. Mit Windeseile spricht es sich herum, wo ein erfinderischer Wirt einen neuartigen Fleischersatz, einen wohlschmeckenden Saft, eine ungewöhnliche Mehlspeise aus dem Nichts hervorzaubert. Gewiegte Kenner stöbern Wirtschaften auf, wo aus geheimgehaltenen Beständen noch immer ein hochprozentiges Bier geschenkt wird und die siebenmal Eingeweihten auch an fleischlosen Tagen ein Kalbspörkelt aus Flachsen und Knorpeln erhalten. Im Grunde sind alle Tage fleischlos. Weil aber das Wort mächtiger ist als die Wirklichkeit, bleibt an zwei oder drei Tagen der Woche das Fleischverbot aufgehoben. Die Phantasie der Köche vermählt sich mit der Phantasie der Gäste. Mit Wohlbehagen werden schwindelhafte Gerichte verschlungen, die verschieden betitelt sind, zumeist aber aus denselben Dingen bestehn, aus Bruchreis, schwarzer Einbrenne, Gemüseblättern und der platonischen Idee von etwas Hackfleisch; das Ganze ein klumpiges Gemengsel. Diesem Hauptgang geht ein Teller brauner oder weißer Suppe voraus. Gebräunt wird die Brühe durch einen halben Suppenwürfel. Auf dem Tellergrunde wartet eine Schicht Ulmer Gerstel des Hungrigen, schalige Graupen, zwischen denen sandartige Körner tückisch auf die Zähne lauern. Das Menü beschließt eine Mehlspeise. Sie trägt schlichte und ehrliche Namen, »Weinkoch« zum Beispiel. Es ist nichts als die aufgeweichte Schmolle maishaltigen Brotes, die, mit verdächtiger Margarine versetzt, in einer Puddingform ausgebacken und schließlich mit säuerlicher Weinverdünnung übergossen wird. Nach folgenden Mahlzeiten, die sie gierig und in großen Portionen hinabwürgen, erheben sich die Gäste mit schwitzenden Stirnen. Falsche Sättigung lähmt die Glieder. (Am häuslichen Tisch gibt es nicht einmal eine falsche Sättigung.) Die Leute tragen ihre windgeblähten Bäuche ins Freie. Nach einer Stunde aber meldet sich schon der neue Hunger.

Ferdinand zahlte. Er wollte die Zeit, die ihm für Wien blieb, ausnützen, um durch die Straßen zu schlendern. Der Zug nach Bruck, wo er in irgendeiner Kanzlei Dienst tat, ging um fünf Uhr. Sein rechter Arm war noch immer schwer beweglich, was aber weniger von der gut geheilten Schulterverletzung herrührte, als eine Nachwirkung der Kopfwunde war. Dennoch hatte er sich schon vor zwei Monaten wieder zur Truppe gemeldet, weil ihm das Rekonvaleszentenleben lästig zu werden begann. Dem Ansuchen wurde stattgegeben, zugleich aber erfolgte seine Versetzung zu einem anderen Regiment. Er wußte warum. Tatsächlich erhielt er am Tage seines Einrückens eine gerichtliche Vorladung. Der Auditor aber, der ihn über das Ereignis auf der Halde von Kolkow verhörte, entpuppte sich glücklicherweise als ein wohlwollender Ziviljurist, der den Krieg und das ganze Militär verwünschte. Mit kristallener Logik entwarf er ein Protokoll, worin der Vorfall als gelungener Fluchtversuch der Verurteilten, als passive Resistenz der Truppe und als Nervenversager des jungen Leutnants restlos aufgeklärt wurde. Dieser Akt schlug jede weitere Verfolgung nieder. Ferdinand saß nun unbehelligt in seiner Kanzlei in Bruck an der Leitha. Der Dienst war nicht der Rede wert, zumal jeder Vormittag mit der elektrischen Behandlung seines Armes hinging. Hie und da bekam er Kurieraufträge nach Wien und Graz. Auch heute hatte er eine dienstliche Sendung im Kriegsministerium abgeliefert.

Ferdinand war nun gewissermaßen vermögend. Die Gage eines ganzen Jahres mit Verwundetenzulage und andern Gebühren hatte sich im Laufe seiner Krankheit angesammelt. Der arme Junge fühlte mit Erstaunen eine ziemlich füllige Brieftasche an seiner Brust. Während er jetzt in die Herrengasse einbog, hing er einer Lieblingsträumerei nach. Könnte er nicht mit seinem Gelde – es waren etwa zwölfhundert Kronen – irgendwo auf dem Lande verschwinden, in ein verschollenes Bergdorf am besten, dort eine Stube mieten und nichts mehr vom Krieg wissen, von Vorgesetzten, Untergebenen, Spitälern und Transporten, sondern nur leben, leben, solange die Barschaft reicht. Und bei seinen bisherigen Lebensvorstellungen war er überzeugt, die lumpige Summe werde eine gehörige Zeit vorhalten. Diese Träumerei ging bald in wildere Phantasien über. Die Welt, eine uniformierte Drachenbrut, schnaubend von Grausamkeit, Unterdrückung und Schadenlust! Schrie nicht alles nach Erlösung? Eine Stunde der Größe hatte er selbst erlebt. War es nicht zukunftweisende Vorbestimmung, daß er einmal schon über sich emporwachsen durfte? Millionen Zertretene harrten des Menschen, der sie sammeln und gegen das Schandgesetz der Macht führen würde. Warum nicht er? In der letzten Zeit mehrten sich diese knabenhaften Phantasien der Empörung. Im Felde hatte Ferdinand den Krieg wie ein Schicksal hingenommen, dagegen es ebensowenig Berufung gibt wie gegen ein Erdbeben. Seine eigene Tat auf der Halde von Kolkow, der Tag im Graben Ferdinandowka III, die nachfolgende Leidenszeit hatten ihn erweckt. Als er das erstemal die Zusammenhänge der Weltschuld ahnte, verfiel er – die Heilung war damals noch nicht vollendet – in krampfhafte Erregungszustände. Seit jenem Tage versuchte Ferdinand mit aller Energie, die er besaß, zur Klarheit zu kommen. Dies aber war nicht möglich. Er ging jetzt wöchentlich dreimal in ein Café und ackerte die Zeitungen durch, er verschaffte sich Bücher, er führte Gespräche mit den Soldaten aller Nationen, die in der Brucker Garnison standen; die Folge war eine schmerzhafte Verwirrung, die ihm aber selber als Klärung erschien. Statt eines reifen und ausgeführten Bildes trug er ein wüstes Fresko im Kopf, auf dem Gut und Böse, Leid und Schuld in grellen Farben geschieden war. Die Welt zerfiel ihm nur in zwei Menschengruppen: In die kleine der Macht-Bestien, der Steidler-Naturen, und in die große der Schuldlos-Leidenden. Die Phantasien des Offizierssohnes handelten immer gebieterischer von revolutionären Taten, Aufständen, Meutereien, Gehorsamsverweigerungen. Oft dachte er daran, dem Kriegsdienst öffentlich abzuschwören. Er sah dann eine feierliche Szene, wo er angesichts eines Stabes hoher Offiziere seinen Soldateneid widerrief und Hunderttausende (unsichtbar hinter seinem Rücken) ihm Gefolgschaft leisteten.

Ferdinand litt manchmal an einem unangenehmen Fluggefühl in den Beinen. Auch dies war noch eine Wirkung des Kopfschusses, die sich meist dann geltend machte, wenn sich der Gedankenablauf der erregtesten Stelle seines Innenlebens näherte. Es war ihm, als habe die Schwerkraft plötzlich vergessen, seine Person sicher und zuverlässig an die Erde festzunieten. In solchen schwankenden Momenten mußte er vorsichtig stehenbleiben. So auch jetzt.

Da erblickte er vor sich einen kleinen Offizier, dessen Rücken er kannte. Der Herr hatte seine Kappe weit zurückgeschoben und die Hände in die Hosentaschen vergraben, wodurch er unmilitärisches Wesen und kecken Mut zugleich zur Schau trug. Er schien vor sich hin zu pfeifen, während seine starken und runden Beine, die in Ledergamaschen steckten, den Boden mit nachlässiger Verachtung traten. Das Auffälligste aber war der Rücken des Offiziers, ein bewußter Rücken, der Blicke auffangen konnte. An der nächsten Ecke schwenkte er ein und warf einen kurzen Blick auf die hohen Fenster eines mächtigen Gebäudes, das der engen Straße ein ungewöhnlich finsteres Renaissance-Gesicht zukehrte. Auch Ferdinand sah zu dem dunkelgrauen Bau empor, von dem eine bedrückende Wirkung ausschattete, denn er glich mit seiner erbarmungslosen Grandezza einer amtlichen Zwingburg oder einem militärischen Kanzleihaus. Nur die hohen Fenster gehörten einem großen Café an, das innerhalb dieser offiziellen und mißvergnügten Stilart hauste. Der Offizier verschwand mit schnellen und gleichsam gierigen Schritten im Portal des Kaffeehauses.

Kein Zweifel! Ronald Weiß!

Ferdinand wollte ihm mit einem Sprung nachstürzen. Er stand aber still und sah aufmerksam zu der großen Uhr empor, die über der Drehtür des Lokals angebracht war. Zwei, weniger fünf Minuten. Unverrückbar grub sich diese Zeit in sein Gedächtnis, obgleich er sie damals gar nicht wahrzunehmen glaubte. Unverrückbar auch grub sich in sein Gedächtnis die unbegründete Angst, die ihn lähmte, der flüsternde Wunsch, der ihn von hier fortlocken wollte, die geheime Erregung, die ihn anzog, ehe er dem alten Kameraden folgte und den Raum betrat.


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