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Fünftes Kapitel.
Engländers Sendung

Seit langer Zeit schon bemühte sich Ferdinand, Alfred Engländers Aufenthalt auszukundschaften, denn ein Jahr bereits hatte er nichts mehr von ihm gehört. Seine Briefe, die er an Feldpostnummer und Ersatzbatterie des Artillerieregimentes richtete, in dessen Dienst der Freund stand, kamen als unbestellbar zurück. Hatte man den unbrauchbaren Soldaten anderswohin versetzt, hatte man ihn gänzlich fortgeschickt oder war er im Kriege umgekommen? Die Ungewißheit über Engländers Schicksal bedrückte Ferdinand, seitdem er im Säulensaal verkehrte, doppelt stark.

Alles Forschen blieb erfolglos. Von Alfreds Brüdern wurde Ferdinand mit gemischten Gefühlen und schlecht verhüllter Abneigung empfangen. Alfred sei vor ein paar Monaten von der Superarbitrierungskommission wegen »Geistesschwäche« als ganz und gar dienstuntauglich entlassen worden. Leider entspreche diese erstaunliche Diagnose so ziemlich der Wahrheit, denn der Bruder weigere sich, seine Adresse anzugeben, und behebe alles, sogar die Geldsendungen, unter einem Postfach. Ständig wechsle er seine Wohnung, damit ja niemand auf seine gutverwischte Fährte kommen könne. All das geschehe nur aus Haß gegen die Familie, die unmöglich zu machen Alfreds Lebensaufgabe sei. Man habe auch vergeblich einen Arzt in seine Nähe zu bringen versucht, die einzige Form der Hilfe wohl, die noch übrig bleibe. Durch die ewige Zickzackflucht sei auch dieser Rettungsversuch mißglückt. Nun aber habe die Familie die peinliche Sache satt. Alfred möge bleiben, wo er wolle. Ein trauriger, ein verlorener Fall, den auch so fürsorgliche Seelen wie die Brüder nun endgültig aufgegeben hätten

Täglich machte Ferdinand lange Streifzüge durch die Stadt, um den Zufall einer Begegnung herauszufordern. An gewissen Punkten hatte er ein hellsichtiges Gefühl: Hier ist er in der Nähe. Aber der Verfolgte zog sich dennoch immer weiter zurück.

Einmal, nachmittags gegen fünf Uhr, als Ferdinand in einem plötzlichen Anfall von Schwermut aus dem Säulensaal auf die Straße trat, sah er auf dem Gehsteig gegenüber Alfred Engländers Gestalt stehen. Die beiden begrüßten sich nicht wie Freunde nach einer langen Entbehrung, sondern starrten einander stumm an. Dies aber waren die ersten Worte, die Engländer sprach:

»Ich warte hier schon fünf Viertelstunden auf dich, denn ich habe in einer schrecklichen Zeit meines Lebens das Gelübde abgelegt, die Stinkhölle dieses Cafés nie wieder zu betreten.«

Wenn etwas Langerstrebtes eintritt, so ist die erste Empfindung selten reine Freude und weit öfter ein mit Enttäuschung gemischter Trotz. Ferdinand schämte sich und war zugleich mißmutig darüber, daß in den Begrüßungsworten Engländers eine Maßregelung enthalten schien.

»Komm, wir werden in meine Wohnung gehn«, sagte er und blieb auf dem Wege immer ein Stück vor Alfred voraus. Dieses hastige Vorangehn aber hatte noch einen andern Grund, die Angst nämlich, seinen Freund anzusehn, so schrecklich hatte Engländer sich verändert.

Nun standen sich die Freunde nach tragischen Jahren in einem schmalen Zimmerchen dieser Stadt wieder gegenüber. Beide waren Kriegsopfer. Aber wenn auch Ferdinand eine tief eingebuchtete Schädelnarbe trug und sein rechter Arm noch immer schwach und schmerzhaft im verwundeten Schultergelenk hing – so war Engländer, der niemals den Feind gesehen, dennoch ärger zugerichtet. Er hatte die Haare völlig verloren. Sein Gesicht glänzte verschwollen und gelb. Er kniff die Lider sekündlich unter einem nervösen Zwang zusammen, wobei der Mund schief aufwärts zuckte. Der verwahrloste Anzug ließ nicht erkennen, ob sein Zustand der Armut entstammte oder einer gesteigerten Achtlosigkeit. An Rock und Weste fehlten die meisten Knöpfe, und die Riemen der Schuhe waren vielfach zusammengeknotet.

Ferdinand, dem seine Kälte von vorhin weh tat, schloß ihn fest in die Arme. Engländer bekannte:

»Es ist heut nicht das erstemal, daß ich dir aufgelauert hab. Sei nicht bös! Aber ich habe mich immer davongemacht, wenn du in Gesellschaft dieser Gesichter dort herauskamst ...«

»Da sind doch auch sehr gute Gesichter drunter«, sagte Ferdinand und spürte, daß sich der Trotz wieder in ihm sammle.

»Gut sind diese Gesichter nicht, Ferdl, sie sind, was du willst, aber nicht gut. Übrigens versteh mich! Ich lege keine Kritik an. Du mußt wissen, ich hab gar keine Zeit mehr zur Kritik. Ich hab auch keine Zeit für die Vergangenheit mehr. Also paß auf, ich sag's dir gleich: Von dem, was ich durchgemacht hab, werd ich kein Wort erzählen und auch du wirst mir nichts erzählen. Das liegt hinter uns. Kein Wort über Krieg, Militär, Verwundung und ähnliche Schweinereien! Und daß du in diese Gesellschaft geraten bist, weißt du, das hat wohl sein müssen, das überrascht mich nicht. Mir kommt's so vor, als hätt ich dir das vor Jahren schon verkündigt.«

»Was hast du denn gegen diese Gesellschaft?«

»Gar nichts habe ich gegen sie. Ich wiederhole, daß mir keine Zeit mehr übrigbleibt, Kritik anzulegen. Ich bin jetzt der Mensch auf der Welt, der am meisten weiß. Das mußt du mir glauben. Es lebt in Wien keiner, und in Paris und in Rom und in Jerusalem und in China und im Tibet keiner, der so tief vorgedrungen ist wie ich. Daran läßt sich nichts ändern! Wozu Kritik? Sie ist ja auch nur ein heuchelmoralischer Ausdruck der Lebenskonkurrenz. Ich brauche keine Kritik. Alles, was ist, steht an seinem Ort und Fleck. Gott hat auch den Dreck geschaffen. Er weiß warum. Ich weiß ebenfalls warum. Er zieht uns durch den Dreck, um zu sehen, ob er an uns hängenbleibt. Dies ist die Geschichte von den vierzig Jahren, die Israel in der Wüste irrt. Jeder wird auf die Probe gestellt. Auch du! Warum nicht du? Ich selber war ja das Werkzeug, das dich hinausgestoßen hat. Sonst könntest du heut ganz gemütlich ein Dorfkaplan oder Feldkurat sein, anstatt im Säulensaal zu sitzen.«

Engländer lachte ausgiebiger, als es dieser Vorstellung entsprach. Ferdinand aber hatte, während er antwortete, das peinliche Bewußtsein, nicht aus sich selber zu sprechen, sondern unter dem Einfluß dessen, was täglich und stündlich seit ein paar Wochen in sein Ohr einging:

»Ich weiß nicht, warum du gerade die Geistigen und Künstler mit dem Worte ›Dreck‹ beehrst. Es sind ein paar großartige Leute darunter. Wenn irgend jemand eine bessere Zukunft und die Erlösung von all dem Gräßlichen erdenken wird, so sind sie es. Ich verstehe dich nicht. Glaubst du wirklich, daß die Bestien von uniformierten Leuteschindern, von Ministern, Schiebern und Fressern weniger Dreck sind?« Ferdinand wußte genau, daß er eine Phrase ausgesprochen habe, an die er selbst nicht sehr glaubte. Engländer aber machte das schmerzensvolle Gesicht eines Sterbenden, der daran gehindert wird, seine letzten Verfügungen zu treffen:

»Du zwingst mich, meine Zeit mit Nebensachen zu verschwenden. Den Unterschied kann ich dir leicht aufzeigen. Irgendein General, ein Minister, ein Holzfäller, ein Metallarbeiter, das ist alles so ziemlich genau das gleiche. Ein Stück belebter, mehr oder minder kluger Materie, weiter nichts! Der eine dreht Schrauben, der andere einen diplomatischen Akt. Sie wissen von der Tiefe des Lebens nichts und haben auch keine Verpflichtung, etwas davon zu wissen. Aber der Geist ist ein furchtbarer Zustand und eine entsetzliche Pflicht. Bei dem leisesten Verrat, bei dem geringsten Abfall geht er in stinkende Verwesung über, die der Schrecken aller Engel ist. In den Gesichtern, von denen wir sprechen, kann ich das Zeichen dieser Verwesung lesen, das luziferische Siegel des Abfalles, die Sucht, Rache zu nehmen für den Zustand unbeschreiblichen Elends, der Gottverlassenheit heißt. Schau dir die moderne Kunst dieser Leute nur an! Ihr Merkmal ist der Haß ohne Grund, der Haß an sich. Du hast das Wort Erlösung mißbraucht. Glaubst du, diese Leute denken an die Zukunft oder lieben das Volk, das Proletariat, dessen Namen sie immer im Munde führen? Die Schwindler der Politik sind noch Heilige gegen sie! Sie suchen die Revolution, wie der Kranke ein Betäubungsmittel, um den eigenen Greuelzustand loszuwerden.«

Engländer schluchzte ohne Ursache plötzlich auf. Es war unheimlich. Dann wandte er sich von Ferdinand weg. Er wollte Persönliches ihm nicht ins Gesicht sagen:

»Jeder Mensch ist halt eine Art Spiegel, der eine zerbrochen, der andere mit Kot beschmiert, die meisten sind angelaufen oder leer. Die genialen Spiegel enthalten vielleicht das Abbild der wahren Wirklichkeit ... Und in dir ... mein Lieber ... in dir war oder ist noch ein ganz kleines Stück blauen Himmels drin, sehr fern freilich schon und wolkig ... Aber darum hab ich dich gleich gern gehabt, und darum auch warte ich seit Tagen vor dem Café auf dich, darum bin ich hiehergekommen, nachdem ich mich von allem losgesagt habe, aber auch wirklich von allem ...«

Er winkte ab:

»Schweig! Sag jetzt nichts! Ich hab keine Zeit. Du darfst mich nicht unterbrechen. Ich werde versuchen, dir zu erklären, was ich für die Welt tun will ...«

Engländer legte sich auf Ferdinands Bett, schloß die Augen und schien nach einer Weile eingeschlafen zu sein. Ferdinand konnte einer wachsenden Beklemmung nicht Herr werden. Endlich kam die fremdgewordene Stimme wieder:

»Du weißt ja, daß ich Jude bin. Was ist schon wieder? Unterbrich mich nicht!«

»Ich hab gar nichts gesagt.«

»Du unterbrichst mich fortwährend.«

»Ich weiß nicht, was du hast.«

»Du willst natürlich sagen, daß ich meinem Geiste nach ein Christ bin. Das stimmt auch. Dem Fleische nach ein Jude, dem Geiste nach ein Christ wie Paulus, der Apostel, den ich verstehe wie mich selbst. Hierin liegt auch das ganze Problem.«

Ferdinand hätte gerne Licht gemacht, denn es herrschte ein regenfinsterer Nachmittag, aber er fürchtete sich, Engländer zu reizen. Dieser bemerkte das leichte Abirren in den Gedanken seines Zuhörers und fuhr auf:

»Was willst du eigentlich?«

»Nichts, gar nichts! Bist du aber komisch!«

»Ich bitte dich inständigst, nun ganz bei der Sache zu bleiben. Es geht nicht nur um mein Heil. Bist du jetzt gesammelt? – Kann ich reden?«

Ferdinand setzte sich still hin. Engländer aber sprach zur Zimmerdecke empor:

»Du hast recht. Ich bin ein Christ, dem Geiste nach. Und eine meiner großen Sünden ist es, daß ich äußerlich nicht zu Christus getreten bin und die Taufe verschmäht habe. Die Ursache meines Verharrens kann ein Mensch wie du nicht begreifen. Sie ergibt sich aus einer äußerst schwierigen Lage, die zu überwinden ich nicht die Kraft hatte. Ich war ein Sklave der Menschenfurcht, ich war zu eitel, mich durch einen scheinbar vorteilhaften Tausch in den Verdacht des Opportunismus zu setzen ...«

Und er fügte nach einer Weile träumerischen Nachdenkens hinzu:

»Eines darf man auch nicht vergessen, die Blutseinwirkung einer frommen und christusscheuen Väterkette in mir ...«

Ferdinand konnte einen Zwischenruf nicht unterdrücken:

»Ist es dem Geiste nach nicht gleichgültig, in welche unappetitliche Pfaffen-Matrikel wir eingetragen sind?«

Engländer höhnte:

»Du redest wieder einmal von der Höhe der Intelligenz herab. Die Benennung einer Sache ist wahrhaftig nicht gleichgültig. Im Anfang war das Wort. Ehe man den Apfel einen Apfel nannte, war er ein wesenloses Ding und keine Frucht. Wir sehen die Wirklichkeit nur als armseliges Skurzo. Durch die Benennung, durch die heilige Formel und den Ritus wird das göttliche Wesen der Welt in unsre verkürzte Wirklichkeit gezogen. Das ist das Geheimnis der Taufe. Deine Ohren aber dürften schon allzusehr volkswirtschaftlich vorgebildet sein, als daß du für meine Überzeugungen mehr als Erbarmen übrig hättest. Ich seh dir's an.«

Ferdinand schaltete das Licht ein:

»Warum sprichst du so feindselig mit mir?«

»Verzeih!« – Engländer litt mit geschlossenen Augen. – »Du mißverstehst mich gründlich. Daß ich davon mit dir überhaupt rede, ist der allergrößte Freundschaftsbeweis meines Lebens. Aber es ist einfach schrecklich, daß du mich nicht zu Worte kommen läßt.«

Er stöhnte verzweifelt:

»Da haben wir jetzt die Bescherung. Auf diese Weise kommt mir die ganze Sache durcheinander. Ich wollte ja gar nicht von mir reden, obgleich ich Grund genug dazu habe. Nur du führst mich tückischerweise immer wieder auf die Eselsbrücke des Ichs. Meine Lebenslage ist bloß deshalb von einzigartiger Wichtigkeit, weil sie die Lage von ganz Israel im Kerne enthält. Das tragische Schicksal Israels ist mein Schicksal: Die faktische Verleugnung unseres Messias gegen besseres Wissen!«

Ferdinand bekämpfte den Wunsch nicht mehr, Engländer zu reizen:

»Ich habe mir niemals den Kopf über den Messias oder ähnliches zerbrochen. Aber an den Juden hat mir eines immer gut gefallen, daß sie dem Christentum trotz aller Verfolgungen wie Helden widerstanden haben!«

»Ich bitte, sich solcher sechstklassigen Banalitäten zu enthalten«, schrie Engländer und wurde blutrot. »Israel und Christus sind Eines. Deinem heldenhaften Widerstand haben wir den jüdischen Materialismus zu verdanken, der das erbitterte Ressentiment Israels gegen sein höheres Selbst ist, und dazu noch den septischen Nihilismus jeder Abtrünnigkeit. Verstanden?«

Er wurde wieder ruhig und giftig:

»Daß wir an einer Weltwende leben, wirst vielleicht auch du glauben?«

»Und ob!«

»Und diese Weltwende haben deiner Meinung nach natürlich Kaiser, Könige, Generale, Politiker und Industrielle veranstaltet?«

»Bis zu einem gewissen Grade, ja ...«

»So?! Und die Revolution soll das alles wegfegen! Dann aber wird eine bessere Zeit anbrechen! Wie?«

»Ich weiß es nicht. Warum aber soll ich nicht hoffen und glauben?«

»Du armer Mensch! Wird der Mist beseitigt, wenn man ihn aufwirbelt? Ihr alle werdet daran ersticken. Ich allein weiß den Weg ...«

»Da bin ich aber neugierig.«

»Leider sinken die Gottesideen im Laufe der Geschichte zu scheinheilig maskierten Machtideen menschlicher Interessenverbände herab. Das stimmt für die katholische Kirche und fürs Judentum. Gottesideen aber können nur bis zu einem gewissen Punkt niedertauchen, dann schnellt sie ihr innerer Auftrieb wieder empor. Der Punkt ist jetzt erreicht, der Äon geschlossen. Das weiß ich. Vielleicht wissen es aber auch andere. Ein ungeheuerer Mensch wie der Dunajower Rabbi weiß es bestimmt. Und der Kardinal-Fürsterzbischhof von Wien dürfte es ahnen ...«

Eine großmännische Verschlagenheit flog über Engländers gedunsene Züge: »Ich kann sagen, daß ich seit Złoczów Tag und Nacht studiert habe, um meine Beweise zu finden. Nicht übel die Andeutungen im Talmud, Sohar und Sefer Jezira ... Ich habe schließlich auch gelehrte Hilfe gehabt. Nimm nur den Namen Jesus auf Hebräisch: Jehoschua ...«

Ihm kam ein erfreulicher Einfall:

»Herrgott, du bist ja erzbischöflicher Seminarist gewesen! Bravo, bravo! Da wirst du dich ja noch ein bissel ans Hebräische erinnern. Jehoschua! Stell dir den Namen gut vor!«

Er malte fünf große Buchstaben in die Luft:

»Das Tetragramm, der Gottesname, und dazwischen eingesprengt ein ›Sch‹, hebräisch Schin, schau her ...«

Unablässig zeichnete er große Striche vor Ferdinands Augen.

»Das Schin ist, wie der Sohar sagt, eine der drei Mütter, aus denen die Schöpfung stammt. Goethes Faust hat übrigens nicht nur seine Mütter kostenfrei aus dem Sohar bezogen. Wovon hab ich gesprochen? Ich weiß nicht, du hast soviel Negation in dir, daß ich mich gar nicht konzentrieren kann. Ach, ja! Das Schin. Du wirst wissen, daß unser heiligstes Gebet, das Schemah, mit einem Schin beginnt. Nun aber schau dir so ein Schin gut an! Es besteht aus vier Balken. Ahnst du etwas? Das Schin ist nichts anderes als ein Kreuz, dessen Enden anders gelegt sind. Mitten in den jüdischen Gottesnamen steht ein Kreuz eingesprengt, das als fünfter Buchstabe das Tetragramm zum Messiasnamen ergänzt. Geht dir endlich ein Licht auf?«

Er schlug sich mehrmals mit der flachen Hand gegen die Stirn:

»Eine spielerische Nebenerkenntnis, weiter nichts ... O Gott, wenn es mir nur besser ginge! Ich brauche Kraft, Kraft, Kraft, um die Sache durchzuführen ...«

Ferdinand wußte nicht, was er von dem tollköpfigen Zeug zu halten habe. Er erinnerte sich, daß Engländer schon im Anfang ihrer Freundschaft ähnliche Szenen aufgeführt hatte, denen man hilf- und verständnislos gegenüberstand. Der Verdacht war nicht abzuweisen, daß auch heute wie damals der Wille zu verblüffen und zu verwirren die Hauptrolle spielte. Nur das Gesicht des Freundes war völlig verwandelt. Er hatte dem Anschein nach eine schwere Gelbsucht noch nicht überstanden. Während er die Augen fest zugekniffen hielt, flehte er:

»Ich bitte dich, schweig jetzt nur fünf Minuten lang! Ich muß mich sammeln, damit ich dir rein chronologisch die Entstehung meiner Idee ...«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Ferdinand wartete gehorsam und suchte vergeblich, in diesem fremden Gesicht seinen Freund zu finden. Nach einer Weile begann Engländer, ohne die eingekniffenen Augen zu öffnen, mit einer von Tränen zitternden Stimme:

»Im September 1907 oben auf dem Semmering ... Ich war noch ein ganz junger Bursch ... Damals ist der alte Engländer, mein Vater, gestorben ... Ich werde ihn jetzt immer nur den alten Engländer nennen, nicht aus Respektlosigkeit, sondern weil das Wort ›Vater‹ mir enorme Schwierigkeiten bereitet ... Ich hab den alten Engländer nicht leiden können ... Alles, was ich an mir selbst verabscheue, hab ich an ihm gehaßt ... Wir sind nicht gut miteinander gestanden ... Auch er war voll Ärger und Unzufriedenheit über mich und hat immer nur zu seinen älteren wohlgeratenen Söhnen gehalten ... Ich aber war gewiß noch viel ungerechter gegen ihn als er gegen mich ... Eine schreckliche Jugend voll Krach und Bitterkeit lag hinter mir ... Und dann kam diese Nacht ... Der achtundzwanzigste September 1907 ... Am Abend um neun Uhr ist er in einem Bergsanatorium gestorben ... Ich bin aus der Familienversammlung geflohn ... Regen, Nebel, Sturm, keine Seele mehr draußen ... An die Wege hab ich mich nicht gehalten, sondern bin die ganze Nacht in den Bergen herumgeirrt ... Es war kein Schmerz, sondern wie eine Hypnose ... Darf ich je wieder essen, da er nicht mehr essen kann? ... Das hab ich mich hundertmal gefragt ... Und darf ich noch oben auf der Erde leben, wenn er jetzt eingescharrt werden wird? ... Ich hab mich hingeschmissen und mein Gesicht mit Wollust in schmutzige Löcher gegraben, um dasselbe zu erleiden, was ein Toter erleidet ... Am Morgen haben sie dann eine Jagd nach mir veranstaltet ... Und jetzt kommt es ... Paß gut auf ... Heute ist wieder der achtundzwanzigste September ... Der Jahrestag ... Voriges Jahr aber an diesem Tage hatte ich einen gewaltigen Traum ... Es war meine schlimmste Zeit in Złoczów, knapp vor unserem Abmarsch an die Südfront ... Der Oberleutnant, mein Feind, hat mich tagein, tagaus sekkiert wie einen räudigen Hund ... Du warst fort, ich hatte keinen Schutz mehr und hab nur gehofft, daß ich über kurz oder lang doch krepieren werd ... Da kam eines Nachts der Traum ... Wieder war er gestorben, der alte Engländer ... Wieder hab ich mich weinend und schreiend im Regen verirrt ... Diesmal aber sind es keine Berge, sondern eine große sumpfige Ebene ... Plötzlich weiß ich, hier, wo ich steh, hier unter meinen Füßen liegt er begraben ... Ich knie nieder und beginn die Erde aufzuscharren wie eine Schermaus ... Es geht fabelhaft ... Ich komme in ein enges, aber unendliches Grabensystem oder Grabsystem, das sich unter der Erdoberfläche überallhin verzweigt ... In einer kleinen Grabkammer steht der alte Engländer vor einem Pult und betet ... Er hat sogar ein Käppchen auf ... Ich hab ihn während seiner Lebenszeit niemals beten gesehn ... Der alte Engländer war ein überzeugter Liberaler und Freigeist ... Wenigstens hat er das immer behauptet, und ich hab Streit genug mit ihm wegen dieser Dinge gehabt ... Jetzt aber steht er da in seinem unkomfortablen Grab, neigt sich fromm nach allen Seiten und betet ... Und ich weiß in diesem Augenblick, daß Millionen Tote ringsumher in ihren Kämmerchen stehn und beten ... Ein ganz komisches Gefühl das ... Der alte Engländer aber zieht ein gestörtes Gesicht und sieht mich über seinen schiefen Zwicker an ... Mach dich nicht lächerlich, Alfred, sagt er ... Aber was soll ich denn tun, Papa, frag ich ihn ... Denk über uns Juden, also auch über dich, besser und richtiger nach, mein Kind, erklärt er, blättert in seinem Gebetbuch und beginnt wieder zu summen ... Dieser Traum hat mich furchtbar aufgeregt ... Dir sagt er natürlich nichts ... Ich kann das verstehn ... Mich hat er monatelang beschäftigt ... Ich hab studiert und studiert, besonders während meiner Spitalszeit, und alle meine Anschauungen noch einmal vom Grund auf geprüft ... Die Überzeugung, die ich unter großen Schmerzen – ich war auch sehr krank – gewonnen hab, ist unerschütterlich ... Ich muß jetzt die große Gelegenheit ergreifen ...«

Er fuhr vom Bett auf:

»Herrgott, wie spät ist es?«

Ferdinand sah auf die Uhr:

»Acht vorüber ...«

Engländer zeigte großen Schrecken:

»Da müssen wir aber schnell fortgehn! Ich hab eine Verabredung mit Simon Kurz. Du mußt Kurz kennenlernen. Er ist ein Wissender und billigt meine Idee. Mach dich fertig! Ich beschließe, daß du der Christ dem Fleische nach bist, der Zeuge meiner Tat sein soll.«

Ferdinand versuchte zu lachen, um den Engländer von einst hervorzulocken. Vielleicht war das alles doch bloß eine Art krankhaften Theaters. Alfred aber ging auf sein Gelächter nicht ein, sondern sah ihn nur fassungslos an. Da beschloß Ferdinand aus Neugier und Besorgnis, dem Freunde zu folgen.

Sie kehrten in eine der kleinen Kaffeeschenken ein, die man in Wien »Tschecherln« nennt. Es war eine Gegend, die Ferdinand kaum kannte, weit draußen, in der Brigittenau. Er wartete sehnsüchtig, wann hinter dem gelbsüchtigen Antlitz und unsinnigen Gehaben der echte Alfred auftauchen werde. Ihn verwirrte die Angst eines Kindes, das sich in einem lieben Menschen nicht mehr auskennt, weil er es durch unbehagliche Gesten und unheimliche Worte erschreckt. Engländer zog Ferdinand an einen schmutzigen Tisch. Aufgeregt belauerte er die Tür:

»Er verspätet sich sonst nie. Das muß heute einen ganz besonderen Grund haben.«

Die Gesellschaft, die in dem Tschecherl verkehrte, war von auffälliger Art. Polnische Juden mit schreckbereiten Augen und angstvoll schlurfendem Schritt gingen ein und aus. Sie prüften vorsichtig und tiefgründig die Gesichter der Anwesenden. Manche von ihnen schleppten Bündel, Pakete oder Rucksäcke mit sich. Erwiderte jemand ihren suchenden Blick, so gerieten sie in Erregung, verschwörerhafte Zuckungen spielten über ihre Züge, sie blinzelten, winkten und tanzten, um etwaige Käufer anzulocken. Marktweiber saßen umher und bliesen auf ihre erfrorenen Finger. Kutscher und Chauffeure spielten Karten. Ein paar billige Dirnen ruhten von ihren Anstrengungen aus.

Ferdinand kam auf den Krieg zu sprechen, auf das letzte Jahr, das sie beide getrennt hatte, und versuchte, Engländer behutsam auf den Weg zu bringen, damit er von all den Einbildungen ablasse und auf sein Leben zu sprechen komme. Dieser aber wendete den Blick nicht von der Tür:

»Ich bitte dich, das ist doch jetzt alles ganz gleichgültig. Seitdem ich das wahre Medikament kenne, denk ich gar nicht mehr an solche Sachen ... Wo er nur steckt?«

Fast wäre Ferdinand aufgebraust. Aber er beherrschte sich:

»Verzeih, Engländer! Ich bin mit dir ganz und gar nicht zufrieden. Du siehst ja unmöglich aus. Und seit zwei Stunden quälst du mich mit orphischen Worten. Was ist denn eigentlich los?«

»Du wirst es zur richtigen Zeit erfahren.«

Ferdinand schob wütend die Tasse weg:

»Also, weißt du, jetzt hab ich's satt. Gib mir eine menschliche Antwort!«

»Da ist er!«

Engländer stieß mit der Hand in die Richtung der Tür. Dort stand ein kleiner Mann in einem langen Überrock, der ihm bis an die Knöchel reichte. Auf dem Kopf trug er einen komischen schwarzen Strohhut. Engländer schrie:

»Kurz! Achtung! Kurz!« Aber Kurz regte sich nicht. Dicht vor der Tür führten zwei Marktweiber ein kriegerisches Zwiegespräch. Wer in das Lokal treten wollte, mußte den Zwischenraum ihres Wortkampfes durchschreiten. Kurz stand angewurzelt. Engländer rief ihn neuerdings an:

»Machen Sie einen Umweg, Kurz!«

Dann wandte er sich zu Ferdinand:

»Er ist strenggläubig, echt strenggläubig. Die Tradition verbietet es einem Gelehrten, zwischen zwei Frauen hindurchzugehn.«

Kurz reichte Ferdinand eine schlaffe, weltabgewandte Hand. Man konnte nicht recht unterscheiden, ob das rötliche Gewucher auf seinen Backen ein Bart war oder nur unbarbierter Stoppelwuchs. Der Singsang seiner Stimme klang gleichgültig, doch auch wehleidig und müde. Er zerzog seine Antworten.

Engländer verging vor Ungeduld:

»Nun, was bringen Sie? Haben Sie ihn endlich gesprochen?«

Kurz sang vor sich hin:

»Nein! Mit ihm selbst hab ich nicht gesprochen ... Das stellen Sie sich zu leicht vor ... Aber es wird gehn ...«

»Wann wird es gehn? Morgen?«

»Nein! Morgen noch nicht ...«

»Sie sind schrecklich, Kurz! Man muß alles aus Ihnen herauspumpen. Reden Sie doch einmal von selber! Wann also?«

Den kleinen Juden verließ seine langsame und wehleidige Ruhe nicht:

»Erst müssen die großen Feiertage vorüber sein ...«

»Mein Gott, das ist noch mehr als eine Woche ... Wer weiß, was bis dahin geschieht? ... Die Vernichtungsteufel werden stärker von Tag zu Tag ... Vielleicht wird uns in vierzehn Tagen niemand mehr hören wollen ... Immer nur warten, warten ...«

Kurz wiegte den Kopf:

»Was kann man machen? Hat die Welt bis heut gewartet, wird sie auch bis nächste Woche warten ...«

Engländer senkte seine Stimme nicht, da er jetzt zu Ferdinand sprach:

»Kurz ist christusgläubig! Es ist ein Wunder bei einem Ostjuden! Wir sind ganz unabhängig zu den gleichen Resultaten gekommen. Er ist ein Tief-Überzeugter! Aber, was auch geschehen sollte, er wird immer orthodox bleiben ...«

Er wandte sich wieder erregt zu dem kleinen Mann:

»Nicht wahr, Kurz? Sie werden ihm die Frage stellen und er wird unbedingt antworten?«

Simon Kurz ließ sich in keine allzu bestimmten Versprechungen ein:

»Es kann schon sein ...«

»Und mein Freund hier kann mitkommen, was?«

Die Antwort klang nicht übermäßig einladend:

»Wenn der Herr will, kann der Herr mitkommen.«

Simon Kurz hielt die ganze Zeit über den Kopf gesenkt. Seine Augendeckel waren halbgeschlossen. Engländer bemerkte Ferdinands Erstaunen darüber und verkündete mit unverhohlenem Stolz:

»Die Vorschrift fordert, daß ein Gelehrter in unbekannter Gesellschaft oder an einem öffentlichen Ort die Augen niederschlägt.«

Und er fügte nicht minder laut hinzu:

»Kurz ist in der Strenge seines Lebens ein Heiliger!«

Ferdinand gewann an diesem Abend keine Klarheit mehr über Engländers »Idee« noch über seinen wahren Zustand.


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