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Zehntes Kapitel.
Führerwahl

Der zweite November brachte in mancher Hinsicht eine Enttäuschung. Elkan und die andern Strategen hatten gehofft, daß sich auf dem Platz vor dem Kriegerdenkmal, wohin das entscheidende Meeting einberufen war, die halbe Garnison der Reichshauptstadt einfinden werde. Man rechnete mit zehn- und zwanzigtausend Mann. Es kamen keine fünfzehnhundert.

Das Gerücht von der bedingungslosen Waffenstreckung und vom Chaos an der Front war überallhin durchgesickert. Der Krieg hatte sein Ende erreicht. Damit aber verschwand auch die Aufruhrstimmung der Mehrzahl aller Mannschaften. Revolution, das war ja für die meisten der verzweifelte Wille, nicht mehr an die Front zu gehn. Beruhten die Gerüchte auf Wahrheit, so konnte man aufatmen. Zugleich aber mit dem Bewußtsein der beseitigten Lebensgefahr machte sich eine andere Wirkung geltend. Auch diejenigen, welche in den letzten Tagen brandstifterische Reden geführt hatten, fühlten sich mit einemmal ungemütlich und betreten. Vier unsinnige Jahre des Todes, des Schreckens und der Verstümmelung! Die Zwecklosigkeit des Opfers, dies war das erste, was von der Niederlage den Menschen zu Gefühl kam.

Diesen Rückschlag, diesen Dämpfer auf der schwungvollen Stimmung hatten die Revolutionäre nicht erwartet. Die Woche war unter heiserem Geschrei, phantastischem Pläneschmieden, richtungslosem Debattieren und trunkenen Ausschweifungen hingegangen. Nichts stand heute fest außer der entriegelten Abenteuerlust, der Erbitterung und Eitelkeit einzelner Individuen.

Hatten die Zweifler recht? Glich die Zeitgeschichte in Wahrheit einem photographischen Negativ, auf dem nur das Nichts deutlich hervortritt, das Versäumnis, der Zufall, das Unbeabsichtigte? So war der Krieg ausgebrochen, ohne daß der Fernblick derer, die ihn erklärten, auch nur den Umkreis der nächsten fünf Tage umspannt hätte. So auch spielte sich der Umsturz ab, mit dem einzigen Unterschied, daß die Planlosigkeit und Verwirrung deutlicher zutage trat. Die Menschen hatten nicht den geringsten Einfluß auf ihr Los. Die Unterschrift eines Esels, eines Schwächlings, einer Memme oder eines Narren setzte die Riesenlunte in Brand. Nachher kam die Wissenschaft mit ihrem Treppenwitz, fingerte am unauflöslichen Weichselzopf der Geschehnisse und zog willkürlich (je nach dem politischen Standort des Entwirrers) Ursache und Folgen heraus. Ferdinand lernte den antiken Schicksalsgedanken verstehn. Kein Mensch konnte auch nur innerhalb der winzigsten Sekunde den eigenmächtigen Ablauf seiner Vorstellungen sich klarmachen, geschweige denn lenken. (Wie sehr traf das gerade auf einen Mann wie Ferdinand zu!) Und dieser unbelauschte Ablauf war der Ackerboden, aus dem alle Taten und Ereignisse sproßten. Ohne Widerstand also regierten Dämonen mittels der regellosen Vorstellungsreihen menschlicher Gehirne die Welt, und die sogenannten Herrscher hatten diesen wahren Herrschern nichts anderes entgegenzusetzen als die freche Einbildung ihrer Logik und Zielbewußtheit. Ach, nicht im Willen und nicht im Denken lag das Geheimnis der Geschichte, sondern im abgefeimten Zusammenspiel des Lebens selbst, das ähnlich wie das menschliche Bewußtsein nichts als eine gehetzte, fiebrische Bilderflucht war, deren Gesetzmäßigkeit Gott allein enträtseln konnte.

Wer hatte zum Beispiel die Anregung gegeben, daß sich die Kriegsinvaliden gerade auf die Stufen des Denkmals stellen sollten? Weiß wußte nichts davon, Elkan nicht und auch sonst niemand. Sie waren einfach die ersten am Ort gewesen und hatten deshalb den besten Platz, den erhöhten, weithin sichtbaren Sockel besetzt. Keine umstürzlerische Regie aber hätte ein aufpeitschenderes Bühnenbild erdenken können, als dieser Zufall, der eine Gruppe von Halb- und Dreiviertel-Menschen heraushob, deren mechanische Glieder, Krücken, metallene Schienen, Stützkorsetts, deren zerschmetterte Antlitze und hohle Totenköpfe ein Gewoge von apokalyptischem Grauen ergaben. Ferdinand mußte sich durch die Scharen einen Weg bahnen, um zu seinen Freunden zu gelangen. Er bemerkte, daß die Frontgesichter noch immer weit weniger Wut und Empörung zeigten als das erstarrte, ratlose Schmachten der Für-Ewig-Entfremdeten. Einen Augenblick dünkte es ihn, als seien diese da mit ihrer kindhaften Erwartung in den Augen leichter zu etwas Friedvoll-Sanftem zu führen als zum Rachewerk.

Hinter dem Denkmal war ein Platz für den Tisch freigehalten, an den sich die Leiter der Versammlung zurückziehen konnten. Wimpel saß da und sortierte Papier. Elkan gab den Rednern die letzten Richtlinien. Das Meeting dürfe sich heute nicht auflösen, ehe nicht mindestens drei oder vier Kompagnien der künftigen »Roten Wehr« aufgestellt seien. Weiß, als militärischer Oberbefehlshaber, bezeichnete den Raum im Hintergrund des Platzes, wo Anwerbung und Einreihung der Truppen stattfinden sollte. Er war braunrot vor Aufregung. Die Leute salutierten ihm stramm; er dankte kurz mit dem Zeigefinger, den er lässig zum Kappenschild erhob.

Diesmal war auch Basil erschienen, der einen erstaunlichen Anblick bot. Sein langgestrecktes Skelett stak in einer zerrissen-unzureichenden Uniform. Die nackten Unterarme langten traurig aus den Ärmeln hervor. Auf seinem erlauchten Schädel saß eine rotgebänderte Kappe, die um zwei Nummern mindestens zu klein war.

»Sie müssen unbedingt reden«, forderte Elkan, der sich von dem weisen Priesterhaupte, der hageren Gestalt und jämmerlichen Montur einen malerischen Effekt versprach.

Die Tagung eröffnete ein älterer Invalide von der Höhe des Monuments herab. Dann wurde Basil, der sich im letzten Augenblick zu wehren begann, erbarmungslos hinaufgehoben. Da stand er nun oben, der Verfasser der ›Gegenreformation‹ und fünfzig anderer Bücher, der Herausgeber zahlloser geistvoller Zeitschriften, der Kenner hochnäsig-ausgefallener Literaturen, der Patent-Erotiker, der Meister verwickelter Galanterie, der Preisfechter nächtlicher Gespräche, da stand er nun oben, Basil, der große Schriftsteller und arme Hund. Vor ihm breitete sich die graue niedergedrückte Masse aus, die mit saugenden Augen an seinem Gesichte hing, dessen feine Fremdheit sie mit großer Erwartung erfüllte. In Basil aber ging etwas Qualvolles vor. Er sah zuerst eine dämmernde Flut von Gestalten und dann einen schwarzen Abgrund, an dessen anderem Ufer sich das gewöhnliche Leben der Stadt abspielte, wohin er gerne entkommen wäre. Sekunden vergingen, und er, dem die Sprache sonst sklavisch diente, fand keine Worte, mit denen er den schwarzen horchenden Abgrund hätte ausfüllen können. So krank und elend war Basil in diesem Augenblick. Totenblässe fiel auf seine Züge. Endlich begann er, an ein paar Sätzen zu arbeiten. Seine sonst so überlegene Stimme war jetzt glanzlos und leise, daß nicht einmal Ferdinand, der in der Nähe stand, ihn verstehen konnte. Man vernahm nur ein paar überaus begriffliche Worte vom »fluchwürdigen Liberalismus, der die wahre Kriegsschuld trage« und von der »Überwindung des bürgerlichen Zeitalters«, hochtrabende Redensarten, die nicht in diese Stunde und vor dieses Volk gehörten. Ferdinand empfand ein großes Mitleid mit dieser gravitätisch-müden Gestalt, die sich hier wieder eine Niederlage holte. Denn die Folge der unbestimmten und kaum verständlichen Worte war jene eigentümliche Wegwendung und Gekränktheit, von der eine Menschenmasse immer ergriffen wird, wenn ein Redner, Schauspieler, Sänger »abfällt«. Basil unterbrach sich, machte eine Pause und begann von neuem. Aber das Glück verließ ihn nun ganz und gar, er verhedderte sich und fand überhaupt kein Wort mehr. Ein paar spöttische Zwischenrufe. Da lüftete der Unglückliche mit einem sonderbaren Ruck in höchst zivilistischer Weise die Kappe und rief mit stumpfem Ton:

»Es lebe der Kommunismus und die katholische Kirche!«

Da die wenigsten etwas gehört hatten und die Menge nicht wußte, woran sie war, kam es zu keinem Anstand, nicht einmal zu Gelächter. Die Scharte aber mußte sogleich ausgewetzt werden. Weiß wurde vorgeschickt und bei seinem Erscheinen mit leidenschaftlichen Zurufen empfangen:

»Hoch, der Genosse Weiß!« Es zeigte sich, daß die ursprüngliche Befürchtung, seine Popularität könne durch Tatenlosigkeit verbraucht worden sein, nicht gerechtfertigt war. Ronald hatte lange über eine Wirkung nachgedacht, in der auch das heutige Meeting gipfeln könne. Er wollte seine goldenen Sterne wieder an den Uniformkragen nähen, um sie neuerdings der Revolution mit kühner Gebärde zu opfern. Etwas Besseres war ihm leider nicht eingefallen. Elkan widerriet heftig die Wiederholung von dramatischen Schlagern, die nur einmal gelingen.

Immerhin entstand bei Ronalds Auftritt einiges Leben. Als er die Aufforderung in die Menge warf, sich nach dieser Stunde nicht zwecklos zu verlaufen, sondern zu einer festen Macht zusammenzuschließen, um der ganzen Welt den Willen des Proletariats zu diktieren, da kam Bewegung unter die Leute, und in vielen traurig wartenden Augen erwachte ein Feuer. Diese Bewegung ihrerseits steigerte den Schwung des Redners, der mit durchdringendem Schall seine Stimme hell färbte:

»Ihr sollt nun aus Soldaten der Vergangenheit, aus Militärsklaven des alten Zwangsstaates zu Soldaten einer besseren Zukunft werden, zu Kämpfern der siegreichen Massen. Keinen Offizieren, keinen Vorgesetzten, keinen entwürdigenden Strafen mehr werdet ihr ausgeliefert sein ...«

Bei diesen Worten geschah etwas Unerwartetes. Ein dicker und gewichtiger Mann hatte sich auf die Rednerplatte hinaufgearbeitet und schob jetzt mit einer ruhigen Armbewegung Weiß beiseite. Es war niemand anderer als Doktor Dengelberger, der Abgeordnete und Freund des Präsidenten Aschermann. Es hatte zuerst den Anschein, als werde dieser alte erfahrene Politiker Weiß und Genossen binnen wenigen Minuten an die Wand drücken. Die schwarze behagliche Gestalt, das graue Professorenbärtchen, die weltdurchschauende Brille, all dies wirkte ungemein vertrauenerweckend und nervenberuhigend. »Auf den kann man sich verlassen.« Dieser Altmeister der Volksversammlung besaß die Kunst, mittels seiner lebensfreudigen Erscheinung und überzeugenden Persönlichkeit dermaßen schöne Gefühlserleichterungen hervorzurufen. Im Gegensatz zu der koboldartigen Aufregung der politischen Neulinge gingen von ihm Ströme dämonischer Väterlichkeit aus. Er sprach ohne jede Mühe, er suchte keine zugespitzten Formeln, verschmähte den leisesten Tonfall von Demagogie, er hielt keine Rede, sondern bahnte eine ernste Unterhaltung in schwerer Stunde an. Warme, menschenliebende Besonnenheit war das Element, dem seine Worte entfluteten:

»Aber, Genossen Soldaten, was macht ihr mir da für Dummheiten? Wißt ihr eigentlich, was ihr wollt? Ich bin fest davon überzeugt, daß weder ihr noch diese Herren da es wissen. Alsdann, ich will euch sagen, was ihr vorhabt. Ihr wollt dem österreichischen Proletariat in den Rücken fallen. Die Arbeiterschaft steht geschlossen hinter ihrer Partei in eiserner proletarischer Disziplin. Ihr aber versucht es jetzt in diesen schweren Tagen, durch unüberlegte und zwecklose Eigenmächtigkeiten an dieser Disziplin zu rütteln, wo gerade ihr die Verpflichtung hättet, sie unerbittlich aufrechtzuerhalten. Soldaten, die alte Welt ist zusammengebrochen. Wir müssen sie nicht mehr stoßen. Schritt für Schritt marschiert die Revolution. Radau aber, merkt euch das, ist keine Revolution ...«

Weiß sprang vor und überspannte seine Stimme:

»Genossen! Laßt euch nicht von den Sozialdemokraten umwerfen. Es ist alles gemeine Lüge! Sie wollen euch entwaffnen, unschädlich machen und dann an die Bourgeoisie verkaufen ...«

Er kam nicht weiter. Der gemütvolle Bariton Dengelbergers, der sich des aufgeregten Stichwortbringers herzhaft zu freuen schien, erfüllte wohllautend die Luft:

»Ich kann zwar nicht so schreien wie dieser Herr«, sagte er und räusperte sich, »aber ich will euch dafür aufrichtig und rückhaltlos über unsre Lage berichten. Das arme, besiegte Deutschösterreich ist von blutgierigen Feinden umgeben. Zu den alten Todfeinden treten nunmehr noch die Tschechen, die Ungarn und die Südslawen, unsre ehemaligen Landsleute. All diese Herrschaften warten mit großer Genußsucht auf die grauenhafte Katastrophe, die uns bedroht, auf den Augenblick, in dem wir verhungern, uns zerfleischen und gegenseitig auffressen. Wir haben – und jetzt sag ich euch, Genossen, die lauterste Wahrheit – kaum mehr für eine Woche Lebensmittel in Wien. Unabsehbar wird das Ende sein, wenn es uns Sozialdemokraten nicht in zwölfter Stunde gelingt, diese belagerte Stadt zu verproviantieren. Jeder vernünftige Mensch kann sich ausrechnen, wer bei sinnlosen Unruhen draufzahlen wird. Die Ärmsten der Armen. Eure Mütter, Frauen und Kinder! Die Partei, Soldaten, baut fest auf euch, auf euren Mut, eure Treue und eure Vernunft. Sie wird euch rufen, wenn die Revolution in Gefahr schwebt und eurer Arme bedarf. Wer aber die proletarische Solidarität und Disziplin durchbricht, um sich auf eigene Faust wichtigzumachen oder seine persönliche Rachsucht zu befriedigen, der ist ein Feind der Revolution und ein Helfershelfer der finstersten Reaktion. Und dann, Soldaten, seid gescheit und denket an euer eignes Schicksal! Werden diese Herren, die vom Himmel geschneit kommen, für eure Menage, für eure Unterkunft und Löhnung sorgen können, wenn alles drunter und drüber geht? Und was wird aus euren Angehörigen, Genossen, wenn kein Laib Brot mehr zu finden ist, wenn die Leute auf den Straßen sterben und die ansteckenden Krankheiten sich mit Sturmeseile ausbreiten?«

Der Redner sprach immer breiter und ruhiger. Er bekam unwiderstehlich die Leute in die Hand und steuerte ohne Kraftvergeudung auf den Wellen seiner Wirkung. Da machte Elkan einen langen, überraschenden Schritt und stellte sich dicht vor Dengelberger auf, indem er die behäbige Gestalt dadurch den Blicken entziehen wollte. Der nicht allzu laute aber schneidende Ton des Russen fuhr mit harten, fremden Silben in die Menge. Sein dunkles abgezehrtes Gesicht wurde, während er sprach, immer schmäler vor Haß:

»Dieser Abgeordnete hier, der vor langer Zeit, noch im Frieden, als Volksvertreter in das Schwindelparlament der Monarchie gewählt wurde, wagt es, ihr Opfer des Krieges, euch Genossen zu nennen! Ich bewundere euch, daß ihr ihn habt zu Ende reden lassen. Er hat ein einziges Mal die Wahrheit gesagt. Jawohl, Feinde warten auf euren Untergang. Aber nicht die Italiener, die Franzosen, die Tschechen und Südslawen sind euch Feinde. Der Todfeind des Proletariers ist die sozialdemokratische Partei. Dieser Abgeordnete hier war es, der den Krieg nicht nur duldete, sondern sogar begrüßte. Dieser Abgeordnete hier war es, der vor Kaisern, Ministern, Kapitalisten, Generalen und medizinischen Massenmördern auf dem Bauche kroch. Dieser Abgeordnete hier war es, der überall, wo während des Krieges die Soldaten aufmuckten und die Arbeiter in den Streik traten, unsere Freiheitsbewegung verriet und niederschlagen half. Dieser Abgeordnete hier war so patriotisch, daß er sich niemals eurer annahm, wenn Offiziersbestien euch anbanden, krummschlossen, ohrfeigten, prügelten und bestahlen. Dieser Abgeordnete hier deckte die Militärjustiz. Als vor zwei Jahren ein Held des Proletariats die gerechte Todesstrafe an einem kaiserlichen Ministerpräsidenten vollzog, war es dieser Abgeordnete hier, der in seiner Zeitung schrieb, jener Held sei nur ein armer Verrückter. Soldaten, Invaliden! Dieser Abgeordnete hier hat kein Mandat von euch. Ihr hättet ihn nie zu eurem Vertreter gewählt, denn er ist ein ganz gewöhnlicher Opportunist, einer, der den Mantel nach dem Winde dreht. Dieser Abgeordnete hier würde euch, wenn die Niederlage zufälligerweise ein Sieg wäre, jetzt, in dieser Stunde, da er euren Freund spielt, mit Maschinengewehren an die Front jagen lassen. Gebt diesem Herrn Abgeordneten eines monarchistischen Reichsrats, der längst schon krepiert ist, die einzig richtige Antwort, Genossen!«

Die Masse brach in ein sirenenartig aufheulendes »Huh« aus, das sich sogleich in schepperndes Stimmengewirr zerschlug. Da und dort plärrte der Ruf auf:

»Abzug, Dengelberger!«

Der alte Politiker, der mit einer solchen Kraft und einem derartig scharfen Angriff nicht gerechnet hatte, geriet ins Wanken. Seine Brille funkelte forschend umher. Die Taktik aufbauender Ruhe und ernsthaft-bodenständiger Gemütlichkeit hatte gegen die schäumenden Heißsporne der eigenen Partei stets noch den Sieg behalten. Aufregung war immer ein schwacher Punkt des Gegners, den Dengelberger mit überlegener Weisheit zu treffen verstand. Dieser russische Jude aber war ein Fall für sich. Seine maßlosen Angriffe verwundeten schwer. Einige Widerhaken blieben auch in Dengelbergers kraftstrotzendem Fell stecken. Mehrere Sekunden lang war das ausgeglichene Selbstbewußtsein dieses so starken Mannes, der ein Leben ehrlicher Arbeit und verdienten Aufstiegs hinter sich hatte, peinlich getrübt. Er unternahm einen erprobten Abwehrstoß, der unter anderen Umständen den Gegner unzweifelhaft erledigt hätte. Aber angesichts der gefährlichen Zusammenrottung und wütenden Anklage war diese an sich geschickte Parade ein schwerer Fehler:

»In solchen Zeiten«, sagte er freundlich und mit jovialem Lächeln, »tauchen immer allerlei Zug'reiste auf, die uns nicht gern haben und nicht nach Wien gehören. Sie möchten gern einen Pallawatsch anrichten, der ihnen ja sehr billig zu stehn kommt. Wir Wiener aber sind ein menschliches Volk und bedanken uns für asiatische Sitten und Gebräuche ...«

Grell fuhr Elkans Stimme dazwischen:

»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«

Dieser Schrei zerriß aufreizend die Luft. Dengelberger öffnete den Mund. Seine schöne Stimme aber kam gegen Elkans schartigen Klang nicht mehr auf:

»Ihr seht nun selber, auf welcher Seite der Herr Abgeordnete steht. Kein christlichsozialer und kein deutschnationaler Gemeinderat hätte das schöner sagen können ... Seht her, Genossen, was für eine prachtvolle Goldkette der Proletarier Dengelberger hier auf seinem Bauch trägt ...«

Und er tippte mit dem Finger auf den bürgerlichen Uhrschmuck des gewichtigen Mannes. Geheul von allen Seiten:

»Abzug, Dengelberger! Nieder die Sozialdemokraten! Nieder! Verräter!«

Der Abgeordnete hob die Arme, um sich noch einmal für sein Wort Ruhe zu erobern. Diese Bewegung aber verstärkte nur den Tumult, der sich selbst genoß. Da setzte Dengelberger den Hut auf und stieg gelassen von seinem Posten herab wie ein Mann, der den Krawall von ein paar Desperados nicht überschätzt.

Die Abfuhr des allbekannten Sozialisten löste aufgischtenden Jubel aus. Es war klar. Die Partei konnte der Anklage nicht standhalten, sie hatte sich als Verräterin entpuppt, sie vertrat nicht mehr den Willen der revolutionären Soldaten und Arbeiter. Mit Dengelbergers Niederlage hatte der Tag einen kaum erhofften Gipfel erklommen. Sogleich aber wurde die starke Wirkung in kleine Münze eingewechselt, denn jetzt schossen wiederum die gewissen spritzigen Redner auf, die mit ihren heiseren dialektgefärbten Unklarheiten den Elan der Masse verbrauchten.

Ein Wink Elkans. Ferdinand wurde von ein paar Armen gepackt und hinaufgehoben. Er glaubte zu vergehn. Schreck rieselte ihm über den Rücken. Was sollte er tun, was sagen? Wie er aber so frei dort oben stand und, frischeren Winden gleichsam ausgesetzt, den Platz und die Menge überschaute, da kam ein großer Friede über ihn. In hoffender Bereitschaft lauschten tausend Augen. Er sah die Kriegsinvaliden, er sah die fahlen Gesichter der Grabensoldaten, er sah schließlich nur mehr ein Gesicht. Es war der ergraute, ausgemergelte Kopf eines sehr alten Infanteristen, der ihm unsagbar traurig entgegenschwebte. Wie tief vertraut erschien ihm dieses zermürbte, abgelebte Antlitz, das er im Felde hundertmal gesehen hatte. Es war der alte Landsturmmann auf der Halde von Kolkow, es war der arme Blinda im Dreckgraben von Ferdinandowka III, es war die gichtkranke Ordonnanz in der Kanzlei von Bruck und viele, viele andre noch. In Ferdinands Kehle bildete sich ein kleiner Knoten von Erschütterung. Als aber diese Verengung aufging, fiel es ihm plötzlich leicht, zu reden. Es brauchte kein Nachdenken. Er wußte kaum, daß und was er sprach:

»Brüder!« (›Genossen‹ zu sagen, wäre ihm als eine Zudringlichkeit und unerlaubte Anbiederung allzu schwer geworden.) »Wir alle haben in diesen Jahren Fürchterliches erlitten. Nie kann dieses Leiden an uns wieder gutgemacht werden, ebensowenig wie die Getöteten zum Leben erwachen können! Ein Tag, Brüder, wie heute, kommt für uns kein zweites Mal. Ihr habt schrecklich draufgezahlt, nun aber werdet ihr es verhindern, daß in Zukunft wieder ein ähnliches Leid, daß wieder die niedrige Blutschmach eines Krieges über die Welt komme! Ergreifet die Macht, die euch diese Stunde bietet, um die Welt für ewig von der Blutschmach zu erlösen!«

Wenn auch der hier festgehaltene Wortlaut der kurzen Rede nicht zuverlässig sein mag – Ferdinands Worte kamen weit weniger glatt zu Gehör –, so war ihr Sinn doch genau derselbe. Aber nicht die bescheidene Rede, sondern das Wesen des Redners erzeugte die eigentümlich angenehme Schwingung, die sich über die Nächststehenden verbreitete. Es war ein Klang, der zu den aufreizenden Wortpeitschen der anderen in Widerspruch stand, aber dennoch sein Teil zum großen Erfolg des Meetings beitrug.

Ferdinand stieg in das zustimmende Gewoge hinab. Er erschrak nicht wenig, als sich jener alte Soldat, dessen trauriges Gesicht ihm während seiner Rede die Welt bedeutet hatte, dicht zu ihm drängte, seinen Arm zärtlich berührte und mit großem Ernst und gerührter Stimme ausrief:

»Führen Sie uns!«

Es klang so unbegreiflich, dieses: »Führen Sie uns!« Zugleich aber war es wie ein dumpfer Keulenschlag der Verantwortung, der auf Ferdinands Kopf niederging.

Weiß trat zum Schlußwort an. Die gute Stimmung durfte nicht länger rednerisch mißbraucht werden:

»Genossen! In den größten Städten Mitteleuropas bilden sich zu dieser Stunde Rote Armeen, die alle Proletarier aller Länder vereinigen und den imperialistischen Krieg für immer verhindern werden. Wählet hier sogleich durch Zuruf ein revolutionäres Militärkomitee! Meldet euch alle zum Eintritt in die Kompagnien der Revolution! Für Löhnung, Verpflegung und Kasernen ist gesorgt. Es lebe die Rote Volkswehr!«

Die Wahl ging blitzschnell vor sich.

»Genosse Weiß«, donnerte es von allen Seiten. Dann akklamierten die Leute ein paar andere Reserveoffiziere, die sich hier eingefunden hatten. Zuletzt wiesen viele Hände lebhaft auf Ferdinand hin. »Der dort! Dieser Leutnant dort, oder was er ist! Wie heißt er eigentlich?«

Weiß rief den Namen aus, den die ganze Versammlung schallend wiederholte. Ehe Ferdinand noch ein Wort sagen konnte, war er zum Mitglied des revolutionären Militärkomitees gewählt.

In wirrer Unordnung flutete nun alles gegen den Hintergrund des Platzes, wo eine Kreidelinie für die antretenden Mannschaften über das Pflaster gezogen war. Etwa siebenhundert Mann meldeten sich auf der Stelle, lauter junge Leute zumeist. Eine lange, zwei Glieder tiefe Front besetzte den Gehsteig. Vor dieser Front tanzten Weiß, seine Adjutanten und noch ein paar andere Aufgeregte. Wimpel legte in wohlbekannter Art ›Präsenzstandeslisten‹ an. Man zählte die Reihen, teilte sie in Züge ein, gab ihnen Chargen und Kommandanten, und ehe noch eine halbe Stunde vergangen war, besaß die Rote Wehr vier Kompagnien in sogenannter Friedensstärke.

Indessen war Elkan mit einer Deputation ausgezogen, um beim neuerrichteten »Staatssekretariat für Heerwesen«, das im alten Kriegsministerium amtierte, Verpflegung und Unterkunft für tausend Mann anzufordern. Diese kleine Abrundung nach oben war politisch gerechtfertigt. Morgen konnte die bewaffnete Macht, auf die er sich stützte, schon die doppelte und dreifache Höhe erreicht haben. Die vier Kompagnien waren nur ein Anfang, ein Ersatzkader. Elkan wollte in den nächsten Tagen dafür sorgen, daß nicht nur das Herz der alten verdonnerten Offiziere, sondern auch die neuen Machthaber und die gesamte Bürgerwelt durch phantastische Zahlen eingeschüchtert würden.

Auch Ferdinand betätigte sich eifrig, indem er nach den ewigen Grundsätzen des Reglements Ordnung in die sich bildenden Kompagnien brachte. Er fügte die Kameradschaften, Rotten, Züge zusammen, auf welche von Urbeginn der soldatische Aufbau gegründet ist. Während dieser Beschäftigung aber erfüllte ihn durchaus kein revolutionärer Schwung, sondern nur ein sonderbarer Unmut. Er kam sich lächerlich vor und, anstatt befreit, wieder einmal gefangen.

Ronald Weiß hingegen erlebte große Minuten. Ihn umgaben im dichten Kranz sämtliche Zeitungsreporter Wiens. Von einem Berichterstatter war er nun selbst zu einem Gegenstand der Berichterstattung aufgerückt. Die Notizbücher zitterten vor Gier und Ungeduld. Weiß aber, der Kenner und Meister, lenkte mit Umsicht die öffentliche Meinung:

»Wer schreibt für Berlin?«

»Rosen ... Rosen ...« meldete die ganze Runde.

»Wo ist Rosen?«

»Hier!«

»Paß auf, Rosen! Du gibst es natürlich telegraphisch fürs erste Morgenblatt. Aber keine Drecksnotiz, sondern mindestens hundert Zeilen, verstehst du?«

Er begann zu diktieren, unterbrach sich aber bald.

»Rosen! Warum grinst du so blöd? Du glaubst, daß ich mich wichtig mach, was, wie?! Da überschätzt du mich. Je mehr von der Revolution in den Blättern steht, um so realer ist sie. Als alter Journalist könntest du schon wissen, daß ein Ereignis gar nicht existiert, ehe es berichtet wird. Die Welt ist erst vorhanden, wenn sie in die Zeitung kommt. Mir scheint, das hast du noch nicht gelernt ... Also weiter!«

Kaum aber hatte er wieder begonnen, hielt er von neuem inne:

»Wo ist Hrdina?«

»Nicht gekommen ...«

»Was heißt das, nicht gekommen? Wer wird nach Prag berichten? Was ist das für eine Wirtschaft in einer Zeit, wo man nichts telephonisch geben kann? Sollen die Prager glauben, daß bei uns noch immer die Burgmusik aufzieht?«

Und er sorgte energisch dafür, daß den Dienst des pflichtvergessenen Hrdina ein anderer genau in seinem Sinne übernahm. Dann entließ er die Kollegen:

»Meine Herren, ich schließe hiermit die Pressekonferenz. Morgen nachmittag erwarte ich Sie alle wieder. Das Tageskommuniqué wird in der Kaserne ausgegeben werden, welche die Rote Wehr beziehen wird. Sie können dort auch Stimmungsbilder sammeln. Die Zeitungen müssen in den nächsten Tagen von nichts anderem voll sein als von uns!«

Nach einer Stunde kehrte Elkan mit der Deputation zurück. Eine große Kaserne auf der Mariahilferstraße, also mitten in der Stadt, keine zehn Minuten von der Burg, dem Parlament und den Regierungsgebäuden entfernt, war den revolutionären Truppen zur Verfügung gestellt worden. Ein Sieg ohnegleichen, den niemand erhofft hatte:

»Hoch die Rote Wehr!«

Jubel brauste zu den Dächern empor.

Abmarsch! Gott weiß, wer plötzlich die Musikkapelle zusammengetrommelt hatte, die sich an die Spitze des Zuges stellte.

Das erstemal im Leben dieser Stadt blitzte und donnerte die Marseillaise durch die erschrockenen Straßen.

Weiß schlenderte neben Ferdinand hinter der letzten Abteilung einher. Die Kappe saß ihm tief im Genick. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und pfiff die Hymne scharf mit. Nichts in seinem Wesen verriet den neuen Machthaber und Feldherrn der Revolution. Ferdinand mußte über ihn lachen, denn er hatte sein abenteuerlichstes Wildwestgesicht hervorgeholt. Als der Zug am Parlament vorbeimarschierte, sagte er knabenhaft-glückselig:

»Das kann gut werden!«


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