Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Lebensfragment

Erstes Kapitel.
Alfred Engländer und die Intelligenz

»Auch Sie werden hereinfallen«, sagte der schwarzgekleidete, etwa fünfundzwanzigjährige Herr zu Ferdinand, der regungslos in fröstelnder Haltung in der tiefen Fensternische des kleinen Schlafsaals saß. Das Fenster war von dem ereignisreichen Emporstreben des Domturmes ausgefüllt, denn der Schlafsaal befand sich in dem berühmten Churhaus zu Sankt Stephan, wo damals in den Jahren vor dem Krieg das Internat des erzbischöflichen Seminars untergebracht war. Ferdinand überdauerte hier in dieser dumpfigen Stube mit zwei anderen Alumnen, denen es nicht besser ging als ihm, den Rest der Sommerferien. Seine beiden Schlafgenossen hatten am heutigen Sonntag einen Ausflug nach Baden unternommen, und er war in dem ausgestorbenen Internat allein zurückgeblieben.

Ferdinands Besuch, jener junge schwarzgekleidete Herr, der mit wiegenden Schritten auf und ab ging, hieß Alfred Engländer. Er machte den Eindruck eines Menschen, der nicht ganz zu sich selber paßt. Ziemlich groß, trug er schon einen ansehnlichen Bauch und ein backenrotes rundliches Gesicht vor sich her, das für bequeme unverskrupelte Lebensauffassung zu zeugen schien. In dieses Gesicht aber, zu dem von Rechts wegen dicke Lippen gehörten, war ein scharfer strenger Mund geschnitten, und unter der Stirne trauerten – nicht minder erstaunlich – zwei schwachsichtig-schwermütige Augen. Bei Erschaffung dieses Menschen schien die modellierende Natur zwei verschiedene Entwürfe durcheinandergebracht zu haben.

Ferdinand hatte Engländer in den Vorlesungen des erzbischöflichen Seminars kennengelernt. Zu welchem Zwecke und durch wessen Förderung dieser junge Jude, der nicht einmal getauft war, die theologischen Vorlesungen besuchte, wußte niemand. Ferdinand erwiderte die Sympathie Engländers, die ihm, dem Neunzehnjährigen, auf eine belehrend überlegene Weise zuteil wurde. Er saß, wie es seine Gewohnheit war, unbewegt und hielt die Augen niedergeschlagen. Seine unfertige Gestalt steckte in jenem Gewande, das angehende Kleriker zu tragen pflegen. Die Hände verbarg er meist in den ziemlich weiten Ärmeln. Er sah sehr schlecht aus. Dadurch, daß er das braune Haar in die Stirne geschnitten trug und seine tiefgesenkten Wimpern mit den Augenschatten zu schwarzen Flecken zusammenschmolzen, wirkte sein Aussehen noch elender. Über seinem ganzen Wesen lag die Erloschenheit, wie sie allen Staatskindern, allen Geschöpfen eignet, deren Vater der Staat ist. Seit seinem zehnten Jahr, seitdem er Tante Karolins Haus verlassen und getrennt von Barbara lebte, war er bis auf diesen Tag kaserniert gewesen. Militärschule zuerst bis zur Katastrophe, dann das Alumnat und jetzt hier das Seminar in Wien. Welch eine Vorstellung, daß es Menschen gibt, die ihr Leben frei gestalten dürfen und es nicht mit tiefer Dankbarkeit für Speis und Trank als ein Verhängtes, als Verhängnis hinnehmen. Sie dürfen nach eigenem Ermessen über die Straße gehen, nach freier Wahl essen, trinken, sitzen, lesen, rasten. Märchenhafter Gedanke, daß solch ein Mann wie Engländer keinen vorgeschriebenen Rock trägt, sondern sich nach seinem Geschmack bei einem Schneider den Anzug machen läßt, der ihm gefällt.

Alfred Engländer, der ein Wesen wie Ferdinand noch niemals kennengelernt hatte, wurde von dem halbbewußten Leiden dieses Gefangenen immer stärker ergriffen. Er besuchte ihn seit dem letzten Semester regelmäßig, nahm ihn auf Spaziergänge mit und brachte ihm heimlich Bücher. Obgleich Ferdinand zumeist schwieg und Engländer immer redete, fühlte sich der Ältere doch nicht als Wohltäter, sondern eher als Beschenkter. Er war ein aufgeregter, mit sich selbst zerfallener Mensch, und die eigentümliche Ruhe des Gefangenen vermehrte sein inneres Unzufriedensein. Dies kam immer wieder zum Ausdruck:

»Wissen Sie, was das Beste an Ihnen ist«, fuhr er fort, »Sie sind kein intelligenter Mensch! Gott, wenn Sie sich dieses Manko nur erhalten könnten!«

Er unterbrach sich:

»Ich hoffe, Sie verstehen, daß ich Sie mit dieser Feststellung nicht beleidigen, sondern auszeichnen will. Ich halte Sie selbstverständlich für keinen dummen, keinen ungeistigen Menschen, ganz im Gegenteil. Was mit Ihnen los ist, läßt sich aber sehr schwer definieren. Schade nur, daß auch Sie auf den Intellekt hereinfallen werden, was keinem modernen Menschen erspart bleibt. Ihre Ansichten von vorhin beweisen das ...«

Engländer blieb hinter Ferdinands Rücken stehen:

»Sehen Sie, ich komme aus einer ganz anderen, sehr geweckten Welt. Meine Kindheit, meine Umgebung, meine Brüder, meine Freunde, alle waren und sind äußerst intelligent. Und ich selber bin leider Gottes meiner Natur nach ein intelligenter Mensch bis in die Fingerspitzen. Eine hübsche Geschichte hab ich übrigens vor ein paar Tagen bei einer sozialdemokratischen Versammlung erlebt, wo ein sehr intelligenter Dummkopf einen Vortrag über die ›Sozialen Elemente des Urchristentums‹ hielt. Nachher hörte ich, wie ein Arbeiter zu einem anderen sagte: ›Dieser Jesus ist für seine Zeit ein ganz intelligenter Mensch gewesen.‹ Und der Bursche, im Vollbesitz seines Beton-, Dynamo- und Pferdekraftbewußtseins, fühlte sich hocherhaben über Jesus.«

Ferdinand lachte nicht. Es sah aus, als hätte er es längst schon aufgegeben, diese Haßausbrüche, die er gut kannte, verstehen zu wollen. Engländer aber ließ mit Wucht ein Buch, das er ergriffen hatte, auf die Tischplatte niedersausen:

»Ist nicht ein einziger Satz der Dogmatik, irgendeine Definition des Lateranense oder Tridentinums nicht nur an Welttiefe, sondern auch an wissenschaftlichem Verstand hundertmal gewaltiger als diese ganze freidenkerische Geistesverfassung?«

Und er deklamierte auswendig und mit Pomp:

»Gratia actualis est internum auxilium supernaturale, quod Deus propter Christi merita homini lapso largitur per modum motionis transeuntis ad operandum in ordine ad ejus sanctificationem.«

Er genoß den knappen Hammerklang dieses Satzes, dem er selbstberauscht nachblickte, als wäre er von jener vorübergehenden Gnadenregung nicht ausgeschlossen, deren Wesen in solch hartes und großartiges Latein gepreßt ist. Ferdinand hingegen fand dergleichen Sätze von ganzem Herzen abscheulich. Ebensowenig konnte man einen Gymnasiasten, dessen Lehrstoff »Homer« war, von der Schönheit der Ilias überzeugen als ihn von dem Werte dogmatischer Formeln. Dieses Studium hatte er sich nicht selber gewählt, es war ihm aufgezwungen worden, wie sein ganzes Leben bisher. Es war eine der lästigsten Formen seiner Gefangenschaft. Für Engländer bedeuteten diese Dinge aber fremde, ja exotische Welten, in denen er sich mit dem Stolz eines Entdeckers bewegte. Seitdem er in theologischen Studien lebte, erschien ihm die liberale Freigeisterei, in die er hineingeboren war, als ein grauenhafter Rückschritt aus einem lichten Geist-All in platt-überheblichen Primitivismus. Es war ihm unbegreiflich, daß nicht die meisten Menschen die gleiche Wandlung durchmachten wie er, weshalb er sich mit all seinen alten Bekannten zerstritt und sehr bald vereinsamt dastand. Jetzt schob er einen Stuhl zu Ferdinand hin. Dieser Junge war der einzige Mensch, der ihm naheging. In dem kleinen Seminaristen lebte etwas von der »Intelligenz« Unberührtes, etwas sehr Seltenes und Staunenswertes, wenn man an die übrigen Duckmäuser dachte, die nur schnell unterkommen wollten. Vielleicht konnte er ihn noch auf seinen Weg bringen. Dies war aber nicht der Grund, warum Engländer in der verwaisten Sonntagsnachmittagstunde im Angesichte Ferdinands seinem Monolog weiter nachhing. Er war ins Reden gekommen, und da konnte ihn nichts zurückreißen. Die Gefahr seines Denkens lag in einer Geläufigkeit des Wortes, die ihn über Stock und Stein lockte. Man hätte ihm leicht vorwerfen können, er spreche allzu »druckreif«, wenn ihn seine Sprunghaftigkeit und ein gewisser Singsang in der Erregung vor solchem Verdacht nicht geschützt hätte. Da er, wie gesagt, sich mit aller Welt zerschlagen hatte, war er beträchtlich redehungrig. Kein Wunder, daß er recht weit ausholte, um jene Erkenntnisse gut zu stützen, die ihm auf dem Herzen brannten:

»Einst hat sich der Intellekt von seinem Gott-Inhalt losgerissen« – er kam sehr schnell ins Schreien – »oder glauben Sie etwa, daß ein Origines oder Thomas weniger Intellekt hatten als ein Experimentalpsychologe heute? Der von Gott abgezogene Intellekt, das ist der intelligente Mensch, oder auch das Nichts. Die Intelligenz an sich besteht ja gar nicht. Sie ist ein rein formales Prinzip. Ich hab sie einmal für mich folgendermaßen definiert: Messende Bewältigung des Lebenseindrucks, Technik! Jawohl! Technik oder der ungeheure Leerlauf der Intelligenz! Verstanden? Ich bin natürlich nicht Obskurant genug, all diese Sachen schlechthin zu verachten. Eisenbahnbrücken, Betonbauten, Autos, Wolkenkratzer, Kanalisierung, Lichtreklame, Blériots Flugversuche, die Brüder Wright. No, und wenn schon! Der Mensch hat sich an noch größere Wunder gewöhnt. Auch die Sonne und die Fixsterne sind keine üble Lichtreklame. Aber die Intelligenz will ihm ja das Verwundern austreiben. ›Was leuchtet hier‹, fragt er. ›Eine Glühbirne‹, antwortet sie. ›Warum leuchtet sie?‹ ›Weil Kohlenfäden glühen.‹ ›Warum glühen sie?‹ ›Weil ein elektrischer Strom von der und der Spannungskraft hindurchgeht.‹ ›Und was ist das, der elektrische Strom?‹ ›Eine der Substanz eignende Kraftwirkung, die unter gewissen Bedingungen in Erscheinung tritt.‹ Daraufhin macht der Mensch eine enttäuschte Verbeugung, die Intelligenz aber verwarnt ihn: ›Vor allem, mein Lieber, verwundere dich nicht! Wunder ist nur der Laienausdruck für die Finsternis, die ich mit meiner erstklassigen Glühbirne noch nicht aufgehellt habe. Morgen werde ich dir eine klarere Antwort geben. Heute aber verwundere dich also nicht und sei froh, daß du ein anständigeres Licht im Hause hast als dein Großvater ...‹«

Hier sprang Engländer auf. Seine dicken Backen erglühten von wirklicher Wut, und er schrie:

»Ich aber sage dir: ›Verwundere dich!‹«

Ferdinand fuhr unter diesem Anschrei zusammen. Immer, wenn eine laute Stimme ertönte, erschrak er unter der Vorstellung, ein Lehrer oder Vorgesetzter brülle ihn an. Engländer bemerkte gar nicht die Wirkung seines Ausrufs. Er befand sich schon in dem fortgeschrittenen Stadium, wo er ins Weite und zur ganzen Menschheit sprach:

»Schon unser Lehrer Aristoteles hatte die Verwunderung den Ursprung der Philosophie genannt. Leider war unser Lehrer Aristoteles ein ziemlich trockener Schulfuchs, sonst hätte er hinzufügen müssen: Es gibt, mein Lieber, eine Rangordnung der Verwunderungen, verstehst du? Nicht dasselbe ist es, mein Lieber, ob du dich über einen Vacuum Cleaner verwunderst oder über die Erbsünde, verstehst du? Aber ein intelligenter Mensch verwundert sich doch nur über den Vacuum Cleaner. Gott weiß, wann dieser stinkige Unfug angefangen hat.«

Engländer, der sonst immer eine angespannte Haltung beobachtete und seine Fettleibigkeit hinter einer strengen Würde zu verbergen suchte, streckte jetzt, vom Gegenstand hingenommen, seinen Bauch in fahrlässiger Weise vor:

»Ich weiß übrigens genau, womit es angefangen hat. Schuld an der modernen Intelligenz sind selbstverständlich die Engländer.« Eine gehässige Tücke überzog sein gutes Gesicht. Die Engländer, sie waren Alfred Engländers fixe Idee. Sein Haß ging soweit, daß er, dem das Schicksal einen verhaßten Namen auferlegt hatte, diesen sehr gerne mit einem anderen vertauscht hätte. Dem aber stand die Furcht im Wege, daß manche das Motiv einer Namensänderung als Flucht vor dem jüdischen Einbekenntnis mißdeuten könnten. Nichts aber hätte Engländer mit peinlicherer Scham erfüllt als ein solches Mißverständnis, doppelt darum, weil er der katholischen Weltanschauung tief ergeben war. Die Reinheit dieser Zuneigung sollte nicht ein Schatten des Verdachtes trüben, daß sie etwa der unlauteren Quelle eines nutzstrebigen oder snobistischen Zweckes entsprungen sei. In dieser verwickelten Scham war auch der Grund dafür zu suchen, daß Engländer, ein unter Theologen angestaunter Kenner der Dogmatik und Patristik, sich nicht hatte taufen lassen. Befragte man ihn darüber, erwiderte er, daß er sich noch nicht frei fühle, das Martyrium einer falschen Auslegung zu tragen. Er behielt seinen Namen und seine alte Religion, die er in vieler Beziehung hochschätzte. Kam er aber auf die Engländer zu sprechen, so sprühten seine Augen Haß:

»... Die Engländer natürlich und ihre amerikanische Nachgeburt! So ein Wiclif oder ein anderer Ketzer hat den Anfang gemacht. Mit der Leugnung eines Sakramentes hat es begonnen, und womit hört es auf? Mit der Metaphysik der Wasserspülung!«

Plötzlich kam es wie eine Verrücktheit über ihn. Er schloß die Augen, stellte sich in die Mitte des Raumes, faltete die Hände und begann im Tonfall eines kleinen Pfaffen folgende blasphemische Litanei zu plärren, deren Witz aber seine Wut nicht entspannte, sondern nur noch steigerte:

»Heiliges Kapital, erbarme dich unser!

Heilige Verzinsung, rechtmäßig aus ihm geboren, erbarme dich unser!

Heiliger Profitgeist der Intelligenz, dritte Person, erbarme dich unser!

Ihr hochheiligen Chöre und seligen Geister des Petroleums, der Baumwolle, der Kohle, des Leders, der Gummierzeugung, der Maschinenbestandteile, bittet für uns!

Alle heiligen Apostel und Evangelisten des Geldmarktes und der zu ihm gehörigen modernen Wissenschaft, bittet für uns!

Alle hochheiligen Mönche und Einsiedler der Trusts und Aktiengesellschaften in Landhäusern mit fließendem Wasser, Zentralheizung und Rembrandtbildern, bittet für uns!«

Diese Teufelslitanei gegen den zeitgemäßen Lauf der Welt hatte Engländer so aufgeregt, daß ihm der Schweiß auf der Stirne stand und er mit geballten Fäusten mehrmals durchs Zimmer lief. Hinter seinem Haß verbarg sich die Bitterkeit des stetigen Familienzwistes mit seinen Brüdern und ihrer intelligenten Weltauffassung.

Ferdinand hatte die lästerliche Parodie ebensowenig erfaßt wie dieser weiße gewölbte Raum des Churhauses, dem solche Worte noch nie untergekommen waren. Beide, er und der Raum, fühlten sich durch diesen Ausbruch leicht gestört. Ferdinand versuchte jetzt, das Gespräch auf seinen Ausgangspunkt zurückzuführen. Vorsichtig flüsterte er, wie man die letzte gefährliche Karte auf ein schon schwankendes Kartenhaus legt:

»Aber die Offenbarung ...?«

In den Religionsdisputen, die diese ungleichen Freunde miteinander führten, spielte der junge Priesteramtskandidat die Rolle des Freigeistes und der Jude die Rolle des Christgläubigen. Es wäre unrichtig, wollte man bei Ferdinand von Zweifelsqualen und Gewissenskonflikten des Glaubens sprechen. Er litt zu sehr unter dem allgemeinen Drucke seines Sklavenlebens, als daß geistige Dinge ein Übergewicht bekommen hätten. Die Lehren, Formeln, Gebräuche, die man hier in sein Hirn stopfte, waren ihm unendlich gleichgültig. Sie erschufen nichts als eine dumpfe, schwer atembare Atmosphäre, deren erstickende Unerträglichkeit ihm jetzt, und zwar gerade durch Engländers Persönlichkeit, klar zu werden begann. Er brauchte gar nicht von Gott abzufallen, weil all diese Dinge Gott, so wie er ihn in sich trug, niemals berührt hatten. Sie waren ja nur Schulgegenstände, die man von Berufs wegen lernen muß. Er, als ausgestoßenes, mittelloses Staatskind, hatte ja keine Wahl. Daß diese ledernen »Gegenstände« einen Lebenswert besaßen, erfuhr er erst an Engländer. Die Folge war erstaunlicherweise ein wachsender Ekel vor allem Klerischen. Mitten während eines Gespräches, in welchem Engländer die ärztliche Wissenschaft verhöhnte, war in Ferdinand der leidenschaftliche Gedanke aufgestiegen, er selber müsse Arzt werden, dies sei der wahre Beruf, zu dem er tauge. Von Stund an wurde ihm die Vorstellung des geistlichen Amtes, zu dem ihn die staatliche Fürsorge ganz mechanisch bestimmt hatte, zu einem gräßlichen Druck. Der neue Gedanke, in den sich sein Freiheitsdurst verwandelt hatte, zerstörte seit Tagen seinen Schlaf. Wer würde ihm helfen? Vergebliche Hoffnung! So verschüchtert war er, daß er bisher nicht einmal den Mut gefunden hatte, sich Engländer zu eröffnen. Dieser aber, der keine Ahnung von dem besaß, was in Ferdinand vorging, stürzte sich mit Angriffsfeuer auf das Wort »Offenbarung«:

»Sehr gut!« Seine Stimme dehnte sich im Vollbewußtsein unwiderleglicher Beweise:

»Bitte sehr, Offenbarung! Ich stelle mich jetzt gerne auf den Standpunkt der modernen Altertumswissenschaft. Die Bibel, das Alte Testament, das heilige Buch der Juden, ist ein nachexilisches Kompendium, von Esra und Nehemia, zwei gelehrten Politikern, zusammengestellt, wer weiß, vielleicht auch voll archaisierender Fälschungen, durchaus bewußtes zweckhaftes Menschenwerk, überfließend von allgemein vorderasiatischen Zitaten, die hinab bis zur Zeit des sumerischen Weltreiches und hinan bis zur hellenistischen Epoche reichen. Mit einem Wort: ein eklektisches Sammelsurium. Ich stelle mich, wie gesagt, ohne zu grinsen, auf den Standpunkt der Wissenschaft, obgleich ich es in den Fingerspitzen fühle, daß der Standpunkt dieser voraussetzungslosen Wissenschaft mit antisemitischer Elektrizität nicht übel geladen ist. Es ist ferner selbstverständlich, daß ich als gebildeter Zeitgenosse davon überzeugt bin, daß es schon vor vielen Jahrzehntausenden auf diesem Planeten Menschen, in sympathischen Urhorden organisiert, gegeben hat, die nicht erst auf Adam und Eva warten mußten. Ihrem kannibalischen Schutz waren zwar nicht die Parkanlagen des Paradieses empfohlen, sondern irgendwelche bewohnbaren Zonen in Mexiko, Atlantis oder Lemuria. Gut! Auch die Urzeugung des organischen Lebens dürfte weniger auf ein Kommando in hebräischer Sprache zurückzuführen sein als auf die Einwirkung ultravioletter Sonnenstrahlen. Solch ein Strahl im übermütigen Jugendalter hat eine faule Erdscholle so lange gekitzelt, bis sie sich selber wehe tat, welche unangenehme Empfindung von vielen für den Ursprung allen Lebens und Bewußtseins gehalten wird. Dies alles weiß ich, und meine Offenbarungsgläubigkeit, der Kinderglaube in mir, der so gerne an den Unsinnigkeiten und Widersprüchen eines alten Literaturwerkes festhalten möchte, ist gezwungen, abzudanken. Schön! Aber so wahr mir Gott helfe, hier stehe ich und kann auch anders!«

Damit man Engländers ungehemmte Wortseligkeit verstehe, muß bemerkt werden, daß diese bei ihm sehr oft die Folge einer körperlichen Schwächung war. Die körperliche Schwächung hatte hinwiederum ihre Ursache in den Kasteiungsstrafen, die er zur Buße gewisser fleischlicher Widerstandslosigkeiten über sich verhängte. Da er ein starker und genußgieriger Esser war, bestand die Strafe zumeist im Entzug von Mahlzeiten. Ertappte er sich selber auf der Straße bei unkeuschen Umblicken, so folgte das Opfer der süßen Speise bei der nächsten Mahlzeit. Artete die Begierde in »Nachsteigen« aus, wurde jeweils das Mittags- oder Abendmahl gänzlich gestrichen. Hatte die fleischliche Schwäche aber noch aktivere Formen angenommen, so dehnte sich das Fasten auf einen, anderthalb, in ganz schweren Fällen auf zwei Tage aus. Die gelungene Durchführung einer solchen Strafe fand ihren Lohn in der stolzen Erhöhung des geistigen Selbstbewußtseins und in einer unaufhaltsamen Verschnellerung des Gedankenablaufs. So stand es auch heute um Engländer, der im Augenblick die zwanzigste Stunde des Hungers hinter sich hatte! »Achtung! Ich bitte um etwas Verstandesschärfe«, rief er aus. »Zwei Kosmogonien stehen einander gegenüber: Hier der biologische Professor, sagen wir, Madenstierer, dort unser heiliger Lehrer Moses, ob er nun gelebt hat oder nicht. Ich bin übrigens bereit, diesem Herrn Professor Madenstierer glatt zu beweisen, daß weder Karl der Große, die Jungfrau von Orleans, Darwin, noch er selber je gelebt haben. Verstanden? Zwei Weltschöpfungslehren also! Im formalen Sinn ist die des Madenstierer um nichts evidenter als die mosaische. Weder er noch Mose waren Augenzeugen der Weltentstehung. Beide wenden sich an unseren Glauben für ihre Methoden. Verstanden? Der Unterschied liegt allein in diesen Methoden, das heißt in den Göttern, von welchen sie ihre Offenbarung empfangen haben. Madenstierers Gott ist der Intellekt und er nennt seine Offenbarung Hypothese. Auch sie lebt von dem Glauben, den wir ihr schenken. Ich gehe einen wichtigen Schritt weiter und behaupte, daß die Offenbarung Mosis, auf der die Kirche ruht, mit Seelenruhe die Hypothese des Professors in sich aufnehmen kann, wie ein größerer Begriff den kleineren. Beweis: Das heilige Volk der Juden – sie sind trotz aller zeitlichen Intelligenz im überzeitlichen Sinn ein heiliges Volk –, also die Juden lehren, daß die Bibel, die Offenbarung, einen mehrfachen Sinn besitze, den Buchstabensinn, den Erzählungssinn, den mystischen Sinn und einen höchsten letzten Sinn, den Gott allein kennt. Haben Sie das kapiert, was? Der Offenbarungsinhalt ist also kein fester Tatbestand, der den Menschen unverrückbar zugänglich ist, sondern ein tiefverschleierter ewiger Anlaß des Forschens und Sinnens. So entstand der Wunderbau des Talmud, dem Lehrgebäude der Kirche nicht unähnlich, denn beide entstammen der Auslegung. Jetzt aber kommt der springende Punkt. Die Auslegung ist durchaus keine Hemmung, sie ist eine Förderung des freien Forschens, und wer weiß, ob nicht in irgendeiner Talmudstelle oder beim heiligen Thomas die Hypothese Madenstierers mit enthalten ist. Das Gotteswort ist ein unausschöpfbarer Abgrund, in dem sowohl die biologische als auch die theologische Kausationslehre ineinander Platz haben, es ist der mathematische Ort der versöhnten Widersprüche. Beweis? Hierfür gibt es nur den relativen, aber großartigen Beweis der Geschichte. Denn unter uns leben nur zwei sozusagen ewige und unverwandelte Gestalten, die katholische Kirche und das Judentum. Wir sehen im geschichtlichen Verlauf, daß alle rein rationalen Lehren binnen kurzer Zeit abblühen. Und was die Hypothese des Professors Madenstierer anbelangt, so kann man das berühmte Wort des intelligenten Ibsen zitieren: ›Eine gut gebaute Wahrheit lebt zwanzig Jahre.‹ Diese Kurzlebigkeit wissenschaftlicher Annahmen kommt daher, daß sie sich einzig auf die Wahrnehmung, Erfahrung und Vernunft stützen. So muß zwangsläufig jede Erkenntnis von heute eine Ignoranz von morgen sein, genauso wie der Aberglaube von gestern ein Wissen von übermorgen werden kann, denn unsere sinnliche Wahrnehmung ist dem Wandel der Zeitalter unterworfen. Die vorgeschichtlichen Völker untergegangener Kontinente hatten vielleicht andere Sinnesorgane als wir. So nur kann man den ungeheuren Gedanken der Tradition verstehen. Sie ist der kollektive Zusammenschluß der Generationen über die Zeit hinweg zum Zwecke ersprießlicher Arbeit. Denn sie allein kann die Fehlerquelle des Zeitgebundenen und Individuellen ausschalten. Ist das klar? Unbewegt allein bleibt der Gedanke an Gott, ob er nun in hebräischen, lateinischen oder chinesischen Schriften niedergelegt ist. Alt wird nur die Wissenschaft, die sich an Gott bindet. Alle gottlose Intelligenz ist subalterne Gesinnung und Unmusikalität. Die Idioten! Als ob eine Melodie darum weniger vorhanden wäre, weil irgendein akustischer Schulmeister ihre Tonschwingungen zählen, aber ihren produktiven Zusammenhang nicht erfassen kann! Verstanden?«

Ferdinand hatte seine ruhigen Augen während dieses sich überstürzenden Vortrages nicht von Engländers Mund gewandt. Der zugespitzte Klang der Worte traf nur sein Ohr. Geistesabwesenheit, wie sie ihn seit letzter Zeit immer in den Seminarvorlesungen überwand, umrauschte ihn auch jetzt. Was gingen ihn diese siriusfernen Dinge an? Er sah gespannt die Speichelblasen, die sich auf dem Munde des Sprechers bildeten, wenn die Einfälle mit ihm durchgingen. So bemerkte er in Engländers hervorgesprudelter Apologetik die Unebenheiten, Fälschungen und Gedankensprünge nicht, bei denen ihn ein guter Gegner hätte packen können. Erst als jener noch irgendein nicht ganz geglücktes Gleichnis von einem Augenarzt anbrachte, der nicht einmal den Sehnerv versteht, das Wesen des Lichtes aber erfaßt zu haben glaubt, da entfuhr ihm wider Willen ein Seufzer, der durchaus nicht zur Sache gehörte:

»Mein Gott, könnt' ich doch nur ein Arzt werden!«

Engländer stutzte und unterbrach sich. Es schien, als bemerke er erst jetzt, daß jemand seinen Verstiegenheiten zuhöre. Er wechselte den Tonfall:

»Ach so, Sie wollen Arzt werden! Ich verstehe das ganz gut. Ich verstehe es, daß man von hier weg will, daß man dieses Leben unter mittelmäßigen Pfaffen nicht aushält. Sie wollen Mediziner werden? Sie werden es werden, Sie werden alles werden, was Sie wollen. Ein Mensch wie Sie kommt um die Intelligenz nicht herum. Man kann sie nicht überspringen, man muß hindurch. Sie werden in kurzer Zeit an den ganzen Mist glauben, zum Beispiel, daß nicht unsere Gottesferne, sondern irgendeine Wirtschaftsordnung daran Schuld hat, wenn sich die Menschen wie Schurken benehmen und einander kalt lächelnd zugrundegehen lassen. Man muß hindurchgehen. Ich hab auch an all diesen einfältigen Mist geglaubt. Sie wollen sich selber verstoßen. Bitte! Ich verstehe das sehr gut und werde Ihnen höchstwahrscheinlich dabei helfen. Sagen Sie einmal, haben Sie nicht irgend etwas zu essen? Ein Stück Brot?«

Ferdinand öffnete den kleinen Schrank, der zwischen zwei Betten stand. In guter Ordnung wurden ein paar ärmliche Habseligkeiten sichtbar. Ein zweiter Anzug, ein anderes Stiefelpaar und ein bißchen Wäsche. Diese evangelische Armut rührte Engländer sehr, und er begann über das Versprechen nachzudenken, das er, ohne es zu beabsichtigen, dem Seminaristen gegeben hatte. Ferdinand holte einen Teller mit einem schon angeschnittenen Striezel hervor. Dieses mandel- und rosinenhältige Gebäck war ein Geschenk Barbaras, das ihm die Post gestern gebracht hatte. Engländer, der auf einmal sehr schlecht aussah, schnitt ein großes Stück von dem Laib herunter und begann gierig zu kauen. In Ferdinand dröhnte das Wort helfen so stark nach, daß er Herzklopfen bekam. Um durch irgend etwas seine Erregung zu bemänteln, wollte er Licht machen.

»Lassen Sie es nur, wie 's ist«, grunzte Engländer mit vollen Backen.

Daraufhin setzte sich Ferdinand wieder in die Nische, in der noch ein Bodensatz des Tages schwamm. Vom Tisch her kam die kauende Stimme:

»Komisch, daß ich von Ihnen eigentlich gar nichts weiß. Warum reden Sie niemals von sich?«

»Sie haben das doch nie verlangt und auch nie danach gefragt«, entgegnete Ferdinand erstaunt, worauf Engländer bekannte:

»Sie müssen nämlich wissen, ich bin ein ziemlich egoistisches Schwein!«

Er nahm seinen Sessel und setzte sich dicht neben Ferdinand. Dieser aber rückte ein wenig fort, denn Engländers Atem streifte ihn, als er meinte:

»Vielleicht kann ich Ihnen zu den Irrtümern verhelfen, die Sie brauchen.«

Wie Wasser in einen tiefergelegenen Ort, drang dieses nochmalige »Helfen« in Ferdinand ein. Engländers Stimme bekam eine andere Schwebung:

»Wo kommen Sie denn eigentlich her?«

Eine Spannung löste sich. Warm durchrann es ihn. Verwundert über seinen eigenen, entfremdeten Stimmfall, begann er das erstemal zu Engländer von sich selbst zu sprechen.


 << zurück weiter >>