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Drittes Kapitel.
Gebhart und die Zerstörung

Eine lange, nicht minder wirre Nacht. Man saß zuerst in einem traurig-kleinen Lokal. Die Gesellschaft wuchs wiederum schnell. Die frühe Polizeistunde jagte den Haufen auf die Straße. Gebhart wich nicht von Ferdinands Seite. Er schien seinen Zustand zu begreifen und umgab den neuen Bekannten mit Zeichen einer zarten Fürsorge, die in ihrem Ungeschick rührend war. Von der Desertion sprach er nicht wieder. Da keine Wirtschaft mehr offenstand, stellte irgend jemand seine Wohnung zur Verfügung. Es war ein muffig möbliertes Zimmer, in dem es zu wenig Stühle gab. Das Banditenlager wurde zum großen Teil auf dem nackten Fußboden aufgeschlagen. Alles schrie, stritt, witzelte und deklamierte durcheinander. Nachbarn beschwerten sich. Zu trinken gab es nur sehr wenig. Aber die Spannung der Zeit wirkte wie Alkohol. Ferdinand, der Einsame, war plötzlich von vielen Freunden umgeben. Man bot ihm Bruderschaft an. Endlos weit trat alles Gestern zurück. Kaum erinnerte er sich mehr, wann und wie er hierhergekommen war. Der Rausch einer durchbummelten Nacht, der alle jungen Leute einmal erfaßt, er erlebte ihn jetzt. Von Stunde zu Stunde wurde er freier und kühner im Gespräch. Er war unter den letzten, die am frühen Morgen die toten Straßen durchschweiften und darauf warteten, daß ein Kaffeehaus geöffnet werde. Erst um neun Uhr verabschiedete er sich von Gebhart.

In einem kleinen Hotelzimmer legte er sich angekleidet aufs Bett. Drei Stunden eines gehetzten Schlafes, wie man ihn nach großen Reisen (von stoßenden Achsen in den Kurven gerüttelt) hinträumt, erlösten ihn nicht von der Verwirrung. Später ließ er sich die Züge nennen, die für ihn in Betracht kamen. Aber noch vor dem Ostbahnhof kehrte er wieder um. Ein übernächtiges Prickeln schaudernder Freiheit durchlief ihn. Was hatte er zu verlieren? Wem war er Rechenschaft schuldig? Er selbst glich ja all den Verwundeten und Urlaubern, die mit starren Augen jenseitigen Erstaunens die Stadt durchstrichen. Warum sollte er nicht verschwinden? Mit dem seltsam müden Fluggefühl in seinen Gliedern fühlte er sich frei wie ein neugieriger Toter, der Stimmen, Gerüche, Leiber sucht, die er nicht mehr versteht.

Nachmittags stellte sich Ferdinand im Säulensaal ein. Dreimal noch wiederholte er Fluchtversuch und Rückkehr, dann war er endgültig gefangen. Die Kraft, die ihn am unwiderstehlichsten gefesselt hielt, war Gebhart. Zwischen allen anderen Erscheinungen des Cafés und Ferdinand stand ein Zwischenraum der Fremdheit, der sich nicht ganz überbrücken ließ. Weiß war durch alte Freundschaft und gemeinsames Erlebnis davon natürlich ausgenommen. Mit Gebhart aber verband ihn etwas, das nicht nur der Sympathie oder Bewunderung entsprang. Man kann es Verwandtschaft nennen, Verwandtschaft nicht in einem persönlichen, sondern in einem sozialen Sinn, der, ohne daß beide davon wußten, im Blute lag. Der Sohn des altösterreichischen Obersten fühlte sich zu dem Sohne einer altösterreichischen Beamtenfamilie hingezogen, mochte dieser auch in tödlichem Zwist von seiner Welt abgefallen sein. So wirken die Interessen der Gattung auch noch bei Leuten sympathiebildend, die geistig diese Gattung längst verleugnen und bekämpfen. Gebharts Worte, seine Gesten, seine Manieren zeigten trotz der Einwirkung des Kokains eine gründliche Abgewogenheit und einen Edelmut, die ihn hoch über das Gewimmel des Säulensaals erhoben. Das zerlittene Gesicht bewies, daß der Mann, wie jede vornehme Natur, alles bar bezahlt hatte. Stechler, Weiß, ja selbst Basil glichen Spiegelbildern, die der Augenblick warf. Alles, was sie kündeten, brachten sie erregt oder wie eine alte Leier zur Geltung; es schien ein Abklatsch einst erlebter Erkenntnisse zu sein (Basil), oder ihnen plötzlich einzufallen, ohne verbindliche Folgerichtigkeit, ohne Heute und Morgen (Weiß). Man spürte, daß sie im Angesicht des Todes nichts von alledem glauben würden, wofür sie sich zum Ruhm des Augenblicks begeisterten. Sie waren wie Hülsen, in denen die Teufel dieser Tage mit tollen Einflüsterungen rumorten.

Alles hingegen, was Gebhart sprach, klang vorsichtig und überlegt. Und doch verbarg sich hinter dieser ruhigen, fast gelehrten Art die tollste aller Besessenheiten.

Ferdinand lernte freilich Gebharts Lehre anfangs nur in Bruchstücken und Andeutungen kennen, denn er fand selten Gelegenheit, mit ihm allein zu sprechen. Immer umflatterten ihn die grauen Krähen. Bis auf Angelika mißfielen sie Ferdinand gründlich. Er verstand nicht, was all die Frauenzimmer wollten, die ohne Gruß zum Tisch huschten, ein scharfes Geflüster veranstalteten und ohne Gruß wieder verschwanden. Unklar blieben ihm die Dinge, die so leidenschaftlich beflüstert wurden. Zweierlei fiel ihm auf: Die Überheblichkeit, die diese Frauen, eine wie die andere, an den Tag legten, als gehörten sie, durch Gebharts Huld geadelt, der vornehmsten Verschwörung an. Und dann das Wort »Beziehung«, das immer wieder aus dem Getuschel tauchte.

»Beziehung«, so hieß der Grundbegriff von Gebharts Welterneuerungslehre. Die Beziehung der Menschen sei verbogen und verdorben, weil seit Jahrtausenden die Beziehung der Geschlechter verdorben und verbogen sei. Er nannte den Namen des furchtbaren Übels, das die naturgewollte Beziehung der Geschlechter, die Liebe, verpestet hatte: Vergewaltigung! Immer wieder entwickelte er den gleichen Gedanken. Die Menschheit sei schon viel zu krank, um des Übels klar bewußt zu werden. Es gebe kein anderes Geschlechtsleben als mehr oder minder verhüllte Notzucht. »Der Mann vergewaltigt das Weib, das sich rächt, indem es ihn der Freiheit beraubt.« Alle Lebens- und Staatsformen, alle politischen Verhältnisse der Welt seien auf Notzucht gegründet, entstammten dem giftigen Augenblick, da das natürliche Mutterrecht vom machtberauschten Patriarchat, von der Autorität vernichtet ward. So pflanzte sich der Akt einer tödlichen Schuld wachsend fort bis auf den heutigen Tag. Die letzte gewaltige Folge sei der Weltkrieg, dieser blutigste Gottesdienst der Machtreligion.

Gebhart liebte die großen geschichtlichen Bögen. Sein verfallen ritterliches Knabengesicht mit dem grauweißen Schopf schüttelte sich vor Abneigung, wenn er den Namen einiger Menschheitsheroen nannte. Er haßte Moses, die Propheten, Sokrates, Platon, von den Tathelden ganz zu schweigen. Er sah in diesen Männern höllische Dämonen, die dem Vergewaltigungstrieb und dem Machtgedanken die Moral geliefert hatten: Vaterverehrung, Monotheismus, Monogamie. Auch den Friedensversuch Christi erkannte er nicht an, da er vor dem wahren Problem ausweiche und Selbstvergewaltigung predige, wodurch auch die Welt eben das geworden sei, was sie ist.

Warum Gebhart aber die Babylonier allen andern frühgeschichtlichen Völkern vorzog, war nicht leicht zu erkennen. Vielleicht hing es damit zusammen, daß er ein vortrefflicher Kenner der Bibel war und sie immer wieder heranholte, was für einen so entschlossenen und unerbittlichen Anarchisten merkwürdig erschien. (Aber auch diese Bibelkenntnis hatte ihren soziologischen Grund. Die Vorfahren Gebharts waren steirische Protestanten gewesen, die sich sogar über die Gegenreformation hinaus behauptet hatten. Erst sein Vater, der berühmte Rechtslehrer, war zum Katholizismus übergetreten.) Die Geschichte von Achab und Jesabel, wie sie in der Chronik der Könige steht, ging ihm besonders nahe. Er verstieg sich sogar zu der kühnen Behauptung, daß vielleicht die Weltgeschichte einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn die babylonische Prinzessin Jesabel, die Hure Babylons, nicht von den unappetitlichen Propheten besiegt und den Hunden vorgeworfen worden wäre. Jesabel, das war das schöne Babylon, der süße Astartedienst, die hehrste Liebesreligion, die es je gegeben hatte, milde, fröhlich, taubenweihend, triebbejahend. Wer weiß, wie das Antlitz der Zeit heute aussähe, wenn Babylon, wenn Jesabel, wenn Astaroth nicht dem Gotte Israels unterlegen wären, der die Machtbesessenheit und die Triebbekämpfung vorstellt. Dies aber sei das tiefste Seelengesetz, daß der Wille zur Macht nur den rachsüchtigen Ausweg bedeute, den die geschädigte Lust suchen müsse.

Aber was tun? Astaroth und ihre Liebesreligion waren besiegt. Man mußte den Dingen ins Auge schauen. Gebhart fühlte, daß die Stunde nun gekommen sei, auf die er seit jener Nacht gewartet hatte, da er mit neunzehn Jahren aus dem Hause seines Vaters ausgebrochen war. All die tausend Wortkämpfe, die Debatten fiebrischer Nächte, die er mit Nihilisten, Anarchisten, Maximilisten, Syndikalisten in den polizeibekannten Kneipen der halben Welt geführt hatte, nun sollten sie Wirklichkeit werden. Geduldig war er den Schulmeinungen entgegengekommen, wie sie allenthalben von den kleinen Geistern verzapft werden. Er hatte nichts gegen die ökonomischen Aufwiegelungslehren, denn auch sie dienten der notwendigen Zerstörung. Ein Arzt muß schließlich nicht nur ursachen-, sondern auch symptombekämpfende Mittel anwenden. Er selber empfahl Ferdinand die Lektüre des ›Kommunistischen Manifestes‹. Dieses Schriftchen schuf, trotz seiner oberflächlich-mechanistischen Grundlage, geistige Voraussetzungen, die er brauchte. Die Wahrheit stand in derartigen Büchern nicht zu lesen. Sie blieben zeitgebunden in der Erörterung spätester Folgen stecken und stiegen nicht zu den kranken Ursachen, zu den vergewaltigten Müttern. Gleichviel, die Revolution mußte mit allen Mitteln herbeigeführt werden, damit die völlige Vernichtung der Gesellschaft gelingen könne. Ohne den gründlichsten Untergang war das Heil nicht möglich, wofür Gebhart ein Schlagwort geprägt hatte: Sexuelle Revolution.

Vor vielen Jahren, als er noch Privatdozent der Psychiatrie an einer der österreichischen Universitäten war, hatte Gebhart eine Arbeit verfaßt über »die Bewegung der Adamiten im Mittelalter«. Er war den Spuren dieser seltsamen Heiligen gefolgt, die in Umsturzzeiten einst sich die Kleider vom Leibe rissen, in hellen Haufen über Land zogen und in frommer Unzucht sich vermischten. Kein Zufall diese Stoffwahl! Er selber war ja eine Adamitenseele.

Stundenlang, tagelang, nächtelang hockte man beisammen. Wie Kohlenstaub hing der Zeit Wahnsinn und Verderb in der Luft. Ferdinand hatte den Fremdheitsschreck des ersten Tages überwunden. Er glaubte, an den richtigen Ort geraten zu sein, wohin ihn sein suchendes Schicksal gewiesen habe. Nun zog er mit schmerzhaften Nerven die brenzelnden Funken in sich, die im Café hin- und herüber sprangen. Statt zu schlafen, las er. Manchmal holte Gebhart ihn aus, fragte dies und jenes über seine Vergangenheit. Ferdinand gab kärglichen Bericht. Nichts fehlte in seiner Erinnerung, aber er wunderte sich, wie mühsam es war, die Dinge aus ihrer unendlichen Entschwundenheit zurückzuholen. Wenn dem Frager ein Wort, ein Ereignis gefiel, überströmte sein graugelbes und doch junges Mönchsgesicht von dem Lächeln kindlicher Begeisterung, das lange Zeit brauchte, um in jener Schlaffheit zu erlöschen, wie sie die Züge der Drogengenießer kennzeichnet. Er streckte dann die zittrige Hand aus, um Ferdinand zu berühren, der ein Zurückzucken kaum beherrschen konnte. Der Schauder vor dieser Hand verlor sich nicht.

Von sich selber und seinem Leben sprach Gebhart niemals. Dies erhöhte sein Geheimnis. Durch Weiß wäre manches zu erfahren gewesen. Aber Ferdinand hatte eine Scheu davor und vermied es, Ronald auszufragen. Einmal aber kam Weiß von selber auf Gebharts Vergangenheit zu sprechen. Er erwähnte einen dunklen Punkt, einen Prozeß, der nur mit Rücksicht auf die Stellung des angesehenen Vaters einen glimpflichen Verlauf genommen habe. Es handelte sich dabei um nichts Geringeres als eine Mordanklage. Der junge Arzt, so wurde behauptet, habe einer selbstmordsüchtigen Hysterikerin zu dem gewünschten Gift verholfen.

Ferdinand brachte das Gespräch rasch in andere Bahnen. Er wehrte sich gegen das Unheimliche, dessen Gebhart genug besaß. Nur den reinen und großen Menschen wollte er in ihm sehen, den Geist, dessen Leben und Lehre der Gewaltlosigkeit allein gewidmet war. Solche dunkle Geschichten standen im Widerspruch dazu.

Er mußte sich eingestehen, daß es noch andere Widersprüche gab. In der ersten Zeit hatte Gebhart ihn gezwungen, seine Wohnung mit ihm zu teilen. Der Verschwörer- und Rebellenromantik jungenhaft ergeben, meinte er damit, den Deserteur vor den Nachstellungen der Behörde am besten zu schützen. Zu dieser Zeit aber besaßen die Behörden samt ihren Fahndungen und Streifen längst nicht mehr Macht genug, all die Zehntausende von Ausreißern zurückzuholen. Ferdinand hatte übrigens sein Vorhaben ausgeführt und an seine vorgesetzte Stelle in Bruck folgendes dienstgemäße Schriftstück gerichtet.

   

»Ich endesgefertigter Leutnant der Reserve Ferdinand R. erkläre, daß ich mich nicht länger an meinen Soldateneid gebunden erachte. Als Gegner des Krieges und jeglichen Blutvergießens bin ich in keiner Form mehr gewillt, meine Person dem Massenmorde zur Verfügung zu stellen. Ich verzichte auf alle Bezüge, Gebühren und Rechte, die mir aus meiner Charge erfließen.«

   

Bei Gebhart hatte Ferdinand nur dreimal genächtigt. Länger konnte er es nicht aushalten. Der Priester Astaroths, der Verkünder eines Tausendjährigen Reiches der erlösten Lust, lebte in Zimmer und Küche, soweit man ein luftloses Loch mit zerbrochenen Hoffenstern Küche nennen kann. Aber nicht die Armut war es, die Ferdinand abstieß. Er hatte einst elendere, quälendere Schlafsstätten noch kennengelernt als Gebharts Kammer. Es war der Schmutz, die Verwahrlosung, das Hoffnungslos-Unmenschliche, das sich in dieser Wohnhöhle überall kundtat: Zerstörte Betten, ungescheuerter Fußboden, umherliegende Kleider, Wäschestücke, Stiefel, ein Chaos von Tassen, Gläsern, Flaschen, Büchern und Papieren. Hier hauste Gebhart mit Lisa. Dieses »mit« darf aber nicht zu hoch genommen werden, denn die verdrossene schwerbelastete Person spielte nur den Vorstand der übrigen weiblichen Klientel. Bis auf Angelika und Lisas Schwester, ein sechzehnjähriges, von uralter Traurigkeit gebeugtes Mädchen, wechselte die Gesellschaft häufig. Fast allnächtlich herbergte hier eine neue Erscheinung, die sich auf den Fußboden hinlegte. Die Mitglieder dieses Frauenordens glichen einander alle aufs Haar in ihrer Reizlosigkeit und Vernachlässigung.

Wer aber in dieser Wohnung babylonische Vorgänge gewittert hätte, wäre sehr im Irrtum gewesen. Ein merkwürdiges Sodom und Gomorrha war hier aufgeschlagen. Es erschöpfte sich in einem endlosen Geschwätze. Weit vorgebeugt, verklärt, saß der Raubhahn unter seinen Hennen und warf ihnen Worte wie Körner zu. »Beziehungen« wurden untersucht, verfolgt, ergründet, anerkannt und verworfen. Ernsthafte Sitzungen galten der Frage, ob das neue Verhältnis Angelikas zu diesem oder jenem der inneren Wahrheit gemäß abgelaufen sei, ob ein Liebeswechsel einzusetzen habe oder nicht. Die weibliche Sucht, erotische Dinge pausenlos zu bereden, die sich sonst nur Frauen gegenüber austobt, hier feierte sie unter Gebharts verständnisvollem Vorsitz tägliche Triumphe. Die Jugend von damals war ein psychologisches Geschlecht. Gebharts tiefschürfendes Urteil galt deshalb diesen armen, aus dem Nest gefallenen Wesen als unwiderrufliche Offenbarung. Er regelte den Ablauf der Liebe, damit sich in keine Beziehung Lüge und Gewalt einschleiche. Durch Anordnung und Verbot, die sich aus der Analyse ergaben, regierte er seinen Harem, vollüberzeugt, damit die »sexuelle Revolution« vorzubereiten. Jeden Fall erwog er gewissenhaft. Sein Urteil kam zögernd und vermied jegliche Nötigung. Er schien eine unbeschränkte Macht zu besitzen. Befahl er einer der Hörigen auf die Straße zu gehn, um, wie er sich ausdrückte, einen seelischen Heilungsprozeß zu beschleunigen – sie ging. Es gab Nöte und Verwicklungen, die anderer Arzneien bedurften. Man sollte dem Drange gleichgeschlechtlicher Liebe ruhig nachgeben. Herr der Welt war Eros. All seine Formen galten Gebhart als naturgewollt. Auch was zwischen Mann und Mann, zwischen Frau und Frau schwebte, durfte nicht unterdrückt werden. Hierin lag seine einzige Berührung mit dem verhaßten Plato. Die Homosexualität hatte seiner Anschauung gemäß eine große Aufgabe im seelischen Leben der Menschheit zu verrichten. Sie war es recht eigentlich, die den Trieb über seine tierischen Bedingnisse emporhob. Sie allein lehrte jedes der beiden Geschlechter verstehn, warum es als Geschlecht liebenswert sei. Ohne daß ein Mann zum Beispiel aus innerster (gleichgeschlechtlicher) Einfühlung nachempfand, weshalb er als Mann geliebt werde, blieb er roh und ungefüge. Die homosexuelle Seite seines Wesens erst verhalf ihm dazu, die Frau als Liebende zu begreifen und zärtlich zu achten.

Die »Beziehungsgespräche« in Gebharts verrauchter Kammer wurden oft durch die Aufregung unterbrochen, welche die Beschaffung des teuren, schwer erhältlichen Rauschgiftes kostete. Er war wohl Arzt und konnte in gewissen Grenzen das Kokain als Medikament verschreiben, die geringen Dosen aber genügten nicht, zumal alle Jüngerinnen dem gleichen Laster ergeben waren. Auch begann in Wien das weiße Gift immer seltener zu werden. Die Weiber verfielen auf die verwegensten Gedanken, um Geld und Kokain zu beschaffen. Sie schreckten gewiß auch vor verbrecherischen Plänen nicht zurück. War die Stimmung schon ganz finster, immer wieder kam eine Retterin und legte die fleckige Tüte mit dem kostbaren Pulver auf den Tisch. Ein paarmal bot Gebhart auch Ferdinand von dem gefährlichen Schnupftabak an. Er wirkte aber nicht als eine Steigerung der Lebens- und Geisteskräfte wie bei den anderen, sondern nur als ein blöder Kopfschmerz. Seine Natur schützte ihn. Gerade aber wegen seiner Widerstandsfähigkeit wurde er von Angelika beschimpft. Diese krampfgeschüttelte Seele war übrigens die einzige in Gebharts Gefolgschaft, die Ferdinand zugleich fesselte und beunruhigte. Stellte Lisa die orthodoxe und mürrische Hüterin der Ordensregel vor, so unternahm Angelika immer wieder Fluchtversuche. Sie vermochte es, tagelang auszubleiben. Wie eine Fliege, die ins Wasserglas gefallen ist, strampelte sie. Manchmal saß sie mit still-übertriebener Aufmerksamkeit da, manchmal wurde sie von ihren Tobsuchtsanfällen überwältigt, redete anfangs in Zungen, geriet dann in lallendes Schimpfen und warf zuletzt mit Tassen und Gläsern herum. Einmal aber kam sie mit Eimer, Scheuertuch und Besen, kniete hin und begann den Boden aufzuwaschen und die Wohnung in Ordnung zu bringen. Sprachloses Erstaunen folgte ihrer Tätigkeit.

Der Grund aber, warum Ferdinand diesen Unterschlupf schon nach drei Tagen verließ und irgendwo ein enges Zimmer mietete, war nicht allein der Schmutz, die Überfülle und der Lärm – der Grund war das Kind. Ja, der quäkende Organismus, der unbeaufsichtigt in einem Wäschekorb auf dem Tische lag, während daneben die verschlungenen Wege des Eros erörtert wurden, war ein Kind. Ohne Zweifel Lisas Kind, obgleich man an der Art ihrer Fürsorge dies nicht so bald erraten konnte. Sie ließ das Geschöpf viertelstundenlang winseln, ehe sie mit einer Saugflasche kam, deren Inhalt eher trübem Seifenwasser glich als Milch. Ein unseliges Wesen, gelb, verhutzelt, ausschlagübersät, mit eingesunkenem Schädel, lag in schmierigen Windeln da, ohne umgewickelt zu werden. Ferdinand blieb einmal viele Minuten lang über das verquollene Säuglingsgesicht gebeugt, das nichts Menschliches hatte. Ein langhinwirkendes Grauen packte ihn. Warum mußte dieser kleine Leib leben, warum so leben? Warum liebten diejenigen ihn nicht, die sein Leben verschuldet hatten? Es war klar, daß Gebhart, der Mann der Liebeserneuerung, dieses Kind, wenn nicht haßte, so doch überhaupt nicht sah. Winselte es, dann hielt er sich die Ohren zu. Derselbe Mensch aber konnte seine Stube nicht genug voll Leute haben, die tiefe Gedanken über jene Dinge austauschten, deren Folge die Existenz dieses elenden Kinderkörpers war. Gehörte das zu einem anderen Kapitel? Ferdinands Gefühl nach hatte die unselige Kreatur nur mehr einige Wochen zu leben. Er machte eine Bemerkung über Aussehen und Wartung des Kindes. Lisa fuhr ihn an. Keine Spur einer auch nur tierhaften Mutterempfindung regte sich in ihr und auch keine Scham über den Mangel dieses Gefühls. Die ewigen Analysen schienen diese Regungen weggesengt zu haben. Ferdinand warf noch einen Blick auf den kleinen Korb. Was sollte er tun? Er fragte die Eltern, welchen Namen sie ihrem Geschöpf gegeben hatten. Da ereignete sich etwas, was sich ihm für immer einprägte. Gebhart und Lisa wurden verlegen. Vor der Niederkunft war wohl einmal die Rede davon gewesen, welch weiblichen oder männlichen Namen man wählen solle, dann aber hatten sie im Drang der Ereignisse die Wahl vergessen. Das Kind war namenlos. Nicht nur diese Tatsache, auch die Sinnbildlichkeit hinter ihr machte auf Ferdinand einen gewaltigen Eindruck. Er wünschte sich brennend, daß dieser arme Bankert sogleich sterbe. Am Abend verließ er den Verschlag hinter der Küche, den ihm Gebhart eingeräumt hatte. Er verlebte ein paar unglückliche Stunden, denn er konnte sich Gebharts Größe und Reinheit nicht mit diesem namenlosen Kinde zusammenreimen. Mit tiefer Abneigung gedachte er jetzt der Ekelgeste, mit welcher der unbeugsame Vegetarier stets zusah, wenn jemand Fleisch aß. Bis in den Traum verfolgte ihn eine gräßliche Einbildung. Er sah Gebhart, der gleich dem mythologischen Gotte sein eigenes Kind verzehrte.

Niemals noch hatte Gebhart so stark auf seine Freunde gewirkt wie am nächsten Abend. Vielleicht fühlte er, daß ihm eine Seele zu entkommen drohte. Er, der sonst nur dem Getuschel oder Einzelgespräch ergeben war, wandte sich heute an alle. Seine Gedankenprägungen zeigten solchen Glanz und solche Neuheit, daß keiner mehr ihn unterbrach. Auch Basil und sein Kreis, der sich sonst von Gebharts Gruppe fernhielt, hörte zu, ohne sich abzuwenden. Nur Weiß, der die ganze Zeit über den Mund halten mußte, konnte nicht umhin, seinen Nachbarn durch Taschenspielerstücke zu verblüffen. Niemand verstand es so gut wie er, Geldstücke aus der geschlossenen Faust verschwinden zu lassen. Auch die Widerstrebendsten waren mit den andern darin einig, daß in Gebhart einer der bedeutendsten Menschen der Zeit lebe. Ferdinand vergaß nach und nach das verstimmende Erlebnis. Ein Mensch wie Gebhart stand über den natürlichen Pflichten. Er liebte ihn.

Später lud Spannweit die ganze Gesellschaft ein. Er führte sie von einer Bar in die andere. Auf diese Örtlichkeiten hatte der Starrkrampf der Stadt noch nicht übergegriffen. Die Wirte des Nachtbetriebs schenkten ein pflaumiges Gebräu aus, das sie manchmal Whisky und manchmal Gin betitelten. Überall trommelten greise oder kriegsinvalide Klavierspieler die gespenstischen Schlager der Friedenszeit auf die Tasten. Während der blutigen Jahre waren der Musik keine heiteren Nummern zugewachsen. Patriotische Lieder, die den Vergnügungsrummel des ersten Kriegsjahres bestritten hatten, ›Prinz Eugen‹, ›In der Heimat‹, ›Im Schönbrunnerpark sitzt ein alter Herr‹ waren längst zu Grabe getragen. Koloman Spannweit, von sentimentalen Erinnerungen befallen, bestellte bei der Musik seine Lieblingsstücke. Der große Korruptionstöter, der Revolutionär des ›Sieben Uhr Boten‹ sang mit geschlossenen Augen und gerührtem Grölen:

»'s gibt nur a Kaiserstadt, 's gibt nur a Wien ...«

Er bezahlte alles. Auch seine Wohnung, wohin man sich nach Mitternacht begab, machte einen sehr zahlungskräftigen Eindruck. Sie bestand aus mehreren großen Zimmern voll »schwellender Pfühle«. In der Mitte des letzten und größten stand ein niedriges Riesenlager, mit Fellen über und über bedeckt, ein wahres Lotterbett. »Der neueste Geschmack«, bemerkte der Hausherr stolz. Er hatte sich während des Krieges die Wohnung von einem radikalen Architekten einrichten lassen. Die harten, einsilbigen Linien der Formen wurden gemildert durch eine wahre Kissenüberschwemmung, durch tiefe Klubfauteuils und einladende Ottomanen, die sich nur wenig über den Boden erhoben. Wieso sich hinter dem Rücken des unerbittlichen Architekten zwei Fossilien des verfemten älteren Geschmacks hier eingeschlichen hatten, ein phantasievoller Rauchtisch nämlich und eine orientalische Lampe, das war nicht näher festzustellen. Sie glichen den schwulstigen Stilblüten, die sich in Spannweits sonst zeitgemäße und scharfe Schreibweise des öfteren verirrten.

Wie ein Gebirge dehnte sich eine Bibliothek voll starrer Bände, die verächtlich ihre Umgebung maßen. Spannweit führte seine Gäste zu einem verschlossenen Kasten und zeigte ihnen mit Sammlerstolz seine Lieblinge. Es waren seltene Ausgaben berühmter Pornographien.

In diesem Hause gab es zu trinken und zu rauchen, soviel das Herz begehrte, hundertjähriger Sliwowitz, teuer erhandelte Kriegsbeute, kam zum Vorschein sowie echte Havannazigarren, die Spannweit über die Schweiz bezog. Keiner der anwesenden Revolutionäre zerbrach sich den Kopf darüber, wie der Chefredakteur einer Zeitung, die dem Kriege und dem Gelde kühn an den Leib ging, zu solchen Schätzen komme. Durch Maisbrot, Wruken und Laubtabak zerrüttete Leiber hatten keine Ursache zu kostspieligen Charakterproblemen. Sie schwelgten in den seltenen Genüssen. Spannweit mochte vielleicht ein verdächtiger Kerl sein, aber er war kein Geizhals. Ganz im Gegenteil. Jetzt, da er den letzten Grad einer weltumspannenden Besoffenheit erklomm, zeigte er sich von seiner sympathischen Seite. Er torkelte von einem zum andern, umarmte jeden und behauptete in sieben Sprachen, daß alle Menschen Brüder werden müßten.

Erst in der Morgendämmerung zerstreute sich die Bande. Gebhart, Ronald und Ferdinand gingen im Stadtpark spazieren. Weiß sprach davon, daß man sich von der allgemeinen Kriegsmüdigkeit nicht täuschen lassen dürfe. In ihr liege keine Aktivität. Die Sache könne noch endlos lange dauern, da sie sich wieder festzufahren scheine. Ohne eine entschlossene Tat werde die Revolution nicht ausbrechen. Vor Monaten, zur Zeit der großen Streiks, sei man dem Umsturz näher gewesen als heute.

Plötzlich blieb er stehn. Ein kleiner Rundbau lag am Wege, fast so schmal wie eine umfänglichere Litfaßsäule, wahrscheinlich ein Kontrollhäuschen der Elektrizitätswerke. Die Tür war offen. Ferdinand sah hinein. Eine Leiter schien in bodenlose Tiefe abwärts zu führen. Fackellicht gloste empor. Unten waren Arbeiter mit der Ausbesserung von Leitungskabeln beschäftigt.

»Wissen, Sie, daß ganz Wien unterminiert ist?« wandte sich Weiß an Gebhart.

»Was heißt das?« Gebhart lauschte. Der Journalist belehrte ihn:

»Ja, als man vor Jahrzehnten nach Auflassung der Basteien die Stadt baulich erneuert hat, wurde der Wienfluß samt seinem Geäder überwölbt. Alles ist hohl dort unten. Sehn Sie nur! Ganze Straßenzüge und Plätze stehen auf riesenhaften Kavernen.«

Gebhart trat zur Tür und sah sehr lange in die Tiefe hinab. Ronald aber bekam wahrhaftig das Gesicht eines Indianers, wie es die Wildwesthefte, die in der Vorstadt feilgeboten werden, auf dem Titelbilde zeigen. Nicht vergebens lebte in seinem Herzen der Jugendtaumel der Karl-May-Lektüre unverwischt weiter. Ein Abenteuertraum stieg aus dem flammentanzenden Loch zu ihm. In kindhaften, entspannten Augenblicken, wenn er niemanden zu sich bekehren mußte, bekam er oft sein braves Indianergesicht. Ferdinand kannte es gut. Jetzt meinte Weiß schwärmerisch:

»Wenn wir nur ein paar Kerle hätten! Es wäre gar keine große Kunst, dieses ganze Sau-Wien in die Luft zu sprengen ...«

Durch Gebharts gebeugte Figur, die noch immer in die Tiefe lauschte, ging ein Ruck. Er fuhr hoch. Sein Unterkiefer zitterte unbeherrscht:

»Glauben Sie wirklich? ... Wäre das möglich? ... Man könnte ganz Wien in die Luft sprengen, wenn man einen Nachschlüssel zu dieser Tür hätte? ...«

»Ohne weiters«, sagte Weiß, schon ein wenig verdutzt, »hier unten kann man gewiß bis zum Kriegsministerium vordringen.«

Gebharts Lippen spalteten sich und ließen die Zahnlücke frei. Der wohlbekannte Ausdruck verklärter Begeisterung durchströmte, diesmal noch heller als sonst, seine runzligen Knabenzüge:

»Aber, da müssen Sie ja ... unbedingt ... einen Nachschlüssel herstellen lassen ...«

Verlegen und erschrocken ging Weiß ein paar Schritte weiter, als höre er kein Wort. Gebhart rührte sich nicht vom Fleck:

»In die Luft sprengen? ... Das wäre ja wunder ... wunderbar!«

Ronald Weiß sagte nichts mehr. Gebhart aber stand noch lange festgewurzelt bei dem Eisenturm.

Er meinte es ernst.


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