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Zehntes Kapitel.
Die Selbstmörderin im Kinderteich

Lange noch lag der Schatten dieser Krankheit auf Ferdinand. Er, bis dahin ein frisches wohlgerundetes Kind, war nun schwach und ohne Appetit. Auch in seinem Gefühlsleben hatte sich eine Wandlung vollzogen. Er neigte jetzt oft zu Anfällen grundloser Überreizung.

Mit seinen abgemagerten müden Beinen lief Ferdinand neben Barbara. Das Frühjahr war gekommen. Der Arzt hatte gewünscht, daß man viel spazierengehe. Das Stadtkind zog durch die Straßen und über die Kieswege der erwachenden Anlagen. Da taumelte vor ihm ein verfrühter Falter. »Schmetterling!« rief Ferdinand, und dieses Wort war wie eine geheimnisvolle Beschwörung, die ihn selber an den Ort bannte, während er dem bescheidenen Ding nachstarrte. Es gab gewisse Bäume, deren Anblick und Name ihn mit ähnlichen Verwirrungen erfüllte: Zitterpappel, Blutbuche. Es war aber nicht die Natur, die das Kind erbeben ließ. Der Typhus, das Fieber hatte die Mattscheibe seiner Empfängsniskraft gefährlich gelichtet. Ihm fehlte der Reizschutz gegen die Bilder, die mit scharfen Farben ihn durchdrangen.

Barbara, die diese Gefahren erkannte, wünschte, daß er auf den Spielplätzen mit anderen Knaben Freundschaft schließe. Sie selber führte ihn in die Gesellschaft robuster Jungen verschiedenen Alters ein, die auf dem großen Spielplatz des Stadtparks ihre Taten und Abenteuer bestanden. Ferdinand lernte all die Spiele, die eine Generation der andern weitergibt und die eine der kleineren menschlichen Unsterblichkeiten bilden: »Räuber und Soldaten«, »Nationale«, »Quadratelspringen« und das bezaubernde Glücksspiel mit den schönen Glasmurmeln, deren Gewinn und Besitz die ersten Schauer des Reichtums vermittelt. Leider versenkte sich Ferdinand in dieses Treiben mit solcher Leidenschaft, daß er meist schon nach einer Viertelstunde totenblaß aussah. Barbara erschrak und vermied es nach ein paar Tagen, mit ihrem Schützling diesen lauten Ort aufzusuchen.

Ganz bestimmte Musikstücke oder Klangarten konnten auf Ferdinand eine unerwartete Wirkung ausüben. Klavierspiel und geregelter Gesang ließen ihn im allgemeinen ziemlich gleichgültig. Einmal aber fand ihn Barbara von unkindlich stummem Schluchzen geschüttelt auf dem Diwan liegen. Das Fenster stand offen, und aus dem Hof gluckste der quälende Schmachtfetzen eines Leierkastens empor:

»Seit jener Zeit, wie liebt' ich dich mein Leben ...«

Es gab Ereignisse, die Ferdinand, wenn er von ihnen vernahm, in tagelang währende Erregung versetzen konnten. In dem Park, der in der Nähe der Wohnung lag, gab es einen kleinen künstlichen Weiher. Seine Umgebung war der Lieblingsplatz aller Bonnen und Kindermägde. Über einen kulissenhaften Felsen stürzte sich der Wasserfall ins Bassin, das er speiste. Eine breite Strandwiese, mit Ketten abgezäunt, war für das Teichgeflügel freigehalten. Schöne metallfarbige Enten sonnten sich dort, ein hoffärtiges Storchenpaar stolzierte umher und ein prächtiger Reiher. Manchmal legten auch die großen Schwäne hier an und schleppten ihre schwerfälligen Schiffskörper einige Schritte weit ins Gras. Brezelweiber verkauften ihre Ware an die Kinder, die zu allen Tagesstunden das Geflügel fütterten. Um die Romantik des Ortes zu erhöhen, tauchten aus dem Weiher zwei kleine Inseln, die dicht verwachsen und mit niedrigen Trauerweiden bestanden waren. An einer dieser Inseln lag ein plumpes ungefüges Boot verankert, dessen aufgemorschter Boden Wasser durchließ. Der alte Nachen stand zur Traumhaftigkeit des kleinen Gestades in einem düster sachlichen Gegensatz. Ferdinand hatte schon einmal Barbara nach dem Zweck des Kahnes gefragt. »Sie haben ihn für den Fall eines Unglücks dort angebunden.« Dies erhielt er zur Antwort. »Sie«, das waren die Parkwächter mit ihren verdrießlichen Gesichtern und dunkelgrünen Uniformen, die allen Kindern von den Mägden als grimme Schreckbilder vorgehalten wurden.

Einmal nun hörte Ferdinand, wie eine andere Wärterin der Barbara erzählte, daß in der vergangenen Nacht eine Selbstmörderin, ein junges Mädchen, hier ins Wasser gesprungen und ertrunken sei. Die fremde Kinderfrau kritisierte daraufhin nicht die Tat der Unglücklichen als solche, sondern die verwerfliche Wahl dieses angenehmen Ortes, der zur Erholung des Publikums bestimmt und seinem Schutz empfohlen sei. Was ihren Abscheu aber besonders erregte, war der Umstand, daß man die Leiche der Selbstmörderin nicht gefunden habe und sie daher noch immer unter dem harmlosen Spiegel des Weihers liege. Sie wisse diese unerhörte Geschichte vom Oberwächter selbst. Erst in der kommenden Nacht werde man das Wasser ablassen und die Tote herausfischen.

Ferdinand grub seine Nägel in Barbaras Hand. Die braune Fläche bewegte unmerklich das morsche Boot. In der Tiefe aber – er war von der abgründigen Tiefe des Teiches überzeugt – lag sie, die arme, sträfliche Tote. Vielleicht kam die leise Bewegung des Spiegels, das Kräuseln, Blasenwerfern, Hinschauern, das schwache Gewiegtsein des Kahns von ihrem letzten Kampf dort unten. Und die Tote selbst? Mama! – Mama, von der ihm Barbara erzählt hatte, daß sie wochenlang in einem großen Schiff übers Meer gereist sei und jetzt aus unbegreiflichen Gründen ein paar Jahre in einem fremden Lande zubringen werde. Mama, die nicht mehr in festlicher Erregung durch die erleuchteten Zimmer schritt und die letzten Anordnungen zum Empfange der Gäste traf. Nun gab es keine Geselligkeit mehr im Hause des Obersten.

Knapp vor dem Ausbruch seiner Krankheit hatte Mama hier an diesem Teich, in dieser Platanenallee ihr Kind zum letztenmal umarmt. Es war ein Zusammentreffen voll Pein gewesen. Warum nur kam Mama tief verschleiert? Ferdinand empfand damals ein Unbehagen, als werde er durch die Begegnung zu einem Unrecht gezwungen, zu einer Fülle von Verheimlichung, die ihn Papa gegenüber belaste. Er war schon verständig genug, um von dem schweren Verbot zu wissen, das der Vater auf ein Wiedersehen zwischen ihm und Mama gelegt hatte. So tief fühlte sich der Oberst durch das Verhalten der entflohenen Frau verwundet, daß auch er zu unritterlichen Kampfmethoden griff. Dies aber war nicht alles. Mama sah hinter ihrem Schleier ganz anders aus als sonst. Während dieser Wochen hatte sich ihr Gesicht sehr verändert. Man kann's nicht anders sagen, eine fremde Dame neigte sich zu Ferdinand hinab. Welch böse Macht zwang ihn, in dieser Minute des ewigen Abschieds unaufmerksam dreinzuschauen? Als ihn Mama küßte, spürte er, wie ihn der duftende Schleier der fremden Dame kitzelte.

»Wirst du an mich denken, Bubi?«

Er sagte schnell »ja«, wie um eine unbequeme Frage eilig abzutun. Sie preßte und küßte ihn noch wilder:

»Ach, du hast mich ja jetzt schon vergessen!«

Er aber reckte den Hals, wandte sein Gesicht ein bißchen zur Seite und lugte zum Teich hin, dessen Wasser man nicht sah, weil der ganze rotblättrige Herbst darauf schwamm. Da ließ sie ihn stehen und lief, ihre Röcke raffend, davon. Die Bonnen und Mägde schauten ihr mit großer Neugier nach.

Und jetzt, jetzt lag sie dort unten. Der Kahn schwankte leicht. Schrecklich war die Bewegung des Kahns. Immer unwidersprechlicher fraß sich die Vision in den Geist des Knaben ein: Mama liegt dort unten im Parkteich.

Es war ein warmer Maitag. Diese Vision sollte sich bald als eine tiefe Ahnung entpuppen. Denn Ende Mai erkrankte Mama an Typhus und starb in der Nacht des fünften Juni im Hospital zu Buenos Aires. Die gleiche Krankheit, der ihr Sohn fast erlegen wäre, hatte sie im tropisch fremden Klima hingerafft. Auch hierin liegt vielleicht eine tiefere Verknüpfung, die man mehr als Zufall nennen kann.

Am Abend dieses Teich-Erlebnisses konnte Ferdinand nicht einschlafen. Sein Mund aber blieb selbst Barbara gegenüber verschlossen. Er erwähnte kein Wort von seiner Ahnung, kein Wort von Mama.

Auch der Oberst sprach seit Monaten kein Wort von ihr. Als er dann die Kabeldepesche erhielt, in der ihn Bogdan Veselovich vom Tode der Gattin verständigte, sperrte er das Blatt in seine geheimste Schublade. Es bedrückte ihn sehr, daß er es von Tag zu Tag verschob und endlich aufgab, dem Knaben die Todesnachricht kundzutun. Hätte Ferdinand nur ein einziges Mal eine Frage nach Mama gestellt, so wäre es dem Obersten möglich gewesen, die Trauerbotschaft in (freilich schwer zu findende) Worte zu bringen. Aber dieses merkwürdige Kind vermied derartige Fragen. Es war dabei mehr als ein Nichtfragen, es war ein feinfühliges und fast gekränktes Schweigen. Das Schweigen Ferdinands verschloß wiederum den Mund des Vaters, der als alter Soldat darüber staunte, daß durch die Scham eines Kindes seine eigene Scham so überhandnehmen konnte. Die Folge dieses gegenseitigen Schweigens, das eine so gewaltige Tatsache unterdrückte, war ein moralisches Mißgefühl, das sich nun immer dichter zwischen Vater und Sohn legte. Der Oberst, der nach Mamas Flucht glaubens war, das Herz Ferdinands gehöre ihm nun ganz allein, mußte erkennen, daß die Liebe des Kindes für ihn deutlicher gesprochen hatte, als es noch in den vielen Heimlichkeiten des elterlichen Zwistes für Papa Partei nehmen konnte. Nun aber schien die Tote eine rachsüchtige Wirksamkeit zu entfalten, bei der sie sich klüger verhielt als im Leben. Die Mahlzeiten an dem Tisch, der für die beiden nur zur Hälfte gedeckt war, gingen sehr still dahin, da Mamas geläufige Stimme fehlte. Und in dieser Stille fühlte Papa genau, wie fern ihm der kleine Junge dort gegenüber war. Er sagte sich zwar immer wieder: Ein sechsjähriger Bub. Man darf solche Sachen nicht tragisch nehmen. Dennoch aber legte sich der seelische Nebel der vereinsamten Mahlzeiten immer schwerer auf seine Stimmung. Einmal kam ihm der Gedanke, ob es nicht besser wäre, wenn er, wie als Junggeselle, wieder an der Offizierstafel erschiene. Entrüstet wies er aber diese Versuchung sogleich von sich. Er hatte mehr als die einfache Vaterpflicht gegen sein Kind zu üben. Aus diesem Bewußtsein beging er ganz bestimmt einen erzieherischen Fehler, indem er immer mehr um Ferdinand zu werben begann. Nun brachte er öfters Geschenke heim. Der Sohn zeigte bei Tisch wohl Freude über diese Gaben, aber der Vater konnte bemerken, daß er sich kaum einen Tag lang mit ihnen beschäftigte. Die gemeinsamen Kasernvisitierungen wurden wieder aufgenommen. Der Oberst versuchte mit Ferdinand lange ernsthafte Gespräche zu führen. Der Knabe blieb zurückhaltend und leicht zerstreut.

Mamas weiblicher Scharfblick hatte tiefer geschaut, als sie in Barbara die Schuld von Ferdinands Abwendung sah. Er ging vollkommen in der Magd auf, er schenkte ihr seine ganze Liebe. Aber auch Mama hatte die ungewöhnlichen Persönlichkeitskräfte der Kinderfrau nicht voll erkannt, mit denen sie Ferdinands Liebe empfing und erwiderte. Papa jedoch beachtete Barbara gar nicht.

Auch die Nachmittage, an denen der Oberst sich zum Klavier setzte und Ferdinand im Schaukelstuhl dem klapprig anfängerhaften Spiele lauschte, hatten eine neue Art angenommen. Sollte man dem öden Luftzug, der durch die unbelebten Räume strich, allein die Schuld geben? Wieso kam es aber, daß dem Vater jetzt sein schlechtes Geklimper immer öfter und immer blamabler ins Bewußtsein trat und er sich seiner törichten Leidenschaft vor dem Sohne zu schämen begann? Er erwog, daß nun bald die Zeit kommen werde, da er andre Stunden wählen mußte, dem süßen Laster der Musik zu frönen, Stunden etwa, in denen Ferdinand über seinen Schulaufgaben sitzen würde.

Einmal, als er wieder am Klavier saß, hörte er die Stimme des Knaben:

»Was spielst du denn da, Papa?«

Schuldbewußt hob der Oberst seine verbrauchten zigarettenrauchgebräunten Soldatenfinger von den Tasten. Er beeilte sich, zu vermelden:

»Das sind ›Lieder ohne Worte‹ von Felix Mendelssohn-Bartholdy.« Und erfreut über die musikalische Teilnahme seines Sohnes vervollständigte er die Belehrung:

»Ein wunderbarer Meister, Bubi! Nicht wahr, dir gefällt diese Musik auch?«

»O ja«, erklärte Ferdinand kühl und unbestimmt. Der Oberst wartete. Er war in diesem Moment tief durchdrungen von der Erwartung, das Kind werde jetzt nach dem Schicksal seiner Mutter fragen. Starkes Herzklopfen überfiel ihn, als er es versuchte, sich innerlich eine zugleich trockene wie angemessene Antwort zurechtzulegen. Er lauschte mit großer Spannung einigen Minuten nach, die leer vorüberzogen. Vom Schaukelstuhl kam keine Frage weiter.

Wiederum ließ der Vater seine verrauchten und verbrauchten Soldatenfinger auf die Tasten sinken. Sie begannen langsam, aber dennoch atemlos einem »Venezianischen Gondellied« nachzulaufen. Die Baßhand schlug unbelebt und pedantisch die Sechsachtelfigur der Begleitung aus. Nun aber geschah etwas Unerwartetes. Dieselbe Baßhand, die eben noch so atemlos korrekt den Noten nachgelaufen war, blieb auf einer falschen Oktave liegen und fing unsinnig zu tremolieren an. Die Rechte aber führte mit geballter Faust einen Schlag gegen das Notenpult, so stark, daß die Lieder ohne Worte zur Erde fielen.

Es war ein unbeherrschter Ausbruch von Unmut, Nervosität oder Schmerzen. Das erstemal hatte es der Oberst vermocht, zumindest teilweise seinen Gemütszustand durch die Mittel der Musik auszudrücken. Erschrocken brach er das Tremolo auf dem falschen Ton ab. Er erhob sich ruhig, als wären Mißklang und Faustschlag auf dem Programm seiner musikalischen Übung gestanden. Langsam klappte er den Flügel zu: »Schluß für heute!«


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