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Zwölftes Kapitel .
Der ewige Widersacher

Der Profos öffnete die Luke, die in die Tür geschnitten war:

»Sie werden jetzt schlafen. Wollen Herr Leutnant schauen?«

»Nein, nicht nötig«, wehrte Ferdinand ab.

Der Profos berichtete:

»Am Nachmittag war der Herr Auditor noch einmal da und dann der Herr Kurat. Aber der Schwec hat den geistlichen Herrn von oben bis unten angespuckt. Da ist er wieder weggegangen. Abends haben wir drei Menagen aus der Offiziersküche für sie bekommen: Karbonaden mit Erdäpfeln und Spinat, dann Emmentaler Käs' und dazu für jeden zwei Krüge Bier. Der Pacak ist ein ruhiger Mensch und hat gegessen wie ein ruhiger Mensch. Der Teinfalt hat nichts anrühren können, aber der Schwec hat auch noch die Portion vom Teinfalt aufgegessen. Nachher haben der Pacak und der Schwec miteinander Karten gespielt, um Zigaretten. Es ist zwar verboten, aber ich laß die Leute immer spielen, weil sie dann Ruh' geben. Der Teinfalt hat mich immerfort angeweint, man soll seinen Alten, der was Gemeinderat in Přestitz ist, hertelegraphieren, als ob man von der Front telegraphieren könnt! Jetzt schlafen sie. So um Neune schlafen sie alle immer, das kenn ich schon. Aber um halber elf wachen sie alle wieder auf. Ujegerl! Und dann geht's los ...«

Dieser Bericht war nicht etwa unmenschlich vorgebracht, sondern mit teilnahmsvoller Wärme, soweit sie das Amt eines Profosen zuließ. Er meinte noch:

»Sie werden für die Nacht keine Zigaretten mehr haben, Herr Leutnant.«

Ferdinand gab ihm Geld und Auftrag, Tabak zu beschaffen. Dann machte er eine schroffe Wendung und entfernte sich mit solch entschiedenem Schritt, daß der Gefangenenwächter ihm erstaunt nachsah. Auch auf der Straße draußen fiel er nicht aus seinem fast feierlichen Tritt, der seine Entschlossenheit ausdrückte, ohne daß er wußte, wozu er eigentlich entschlossen sei. Als der Posten vor dem Tor der Divisionskommandantur des emporgestrafften Offiziers ansichtig wurde, fuhr er mit der Hand den Gewehrriemen herab, machte Kopfwendung und leistete damit eine in diesem Stadium des Krieges ungewöhnlich respektvolle Ehrenbezeigung.

Die Kommandantur war in einem zweistöckigen und geräumigen Haus untergebracht. Im Erdgeschoß befanden sich Speisesaal und Gesellschaftsraum der Offiziersmesse, im ersten Stock die Kanzleien und im zweiten wohnte der Feldmarschall-leutnant-Divisionär, während der stellvertretende Generalstabschef in einer nahe gelegenen Villa hauste, die im Frieden dem Direktor der jetzt zerschossenen Ölfabrik gehört hatte. Flur und Treppenhaus, wo Ferdinand stand, waren hell erleuchtet. Ordonnanzen, mit Dessertschüsseln, Weinflaschen, Kaffeetabletts in den weißbehandschuhten Händen, rannten erregt ab und zu. Immer wenn die Tür sich öffnete, wogte pedalverschmierter Klavierdrusch heraus, dazwischen Hagelschauer von Streit und Gelächter. Auch Frauenstimmen wurden hörbar und vermischten sich mit plötzlich aufplärrendem Grammophongekreisch. Fetter und scharfgewürzter Speisengeruch überschwemmte die Vorhalle, aufreizend für jeden, der aus den Gräben kam, um hier eine Meldung zu machen oder ein Kanzleigeschäft zu erledigen. Ferdinand kam sich in diesem Lärm wie versteinert vor, wie ein Bote aus einer düsteren unendlichen Ferne. Einige Offiziere traten aus dem Speisesaal. Er wandte sich mit dienstlich-ernster Stimme an die Gruppe, die schon ein wenig die gerade Achse verloren zu haben schien:

»Ich muß Seine Exzellenz, den Herrn Feldmarschalleutnant, dringend sprechen.«

Auf diese Willensäußerung hin lachten einige. Ein Fähnrich spöttelte: »Da wirst du nicht viel Glück haben. Ab zwanzig Uhr dreißig befindet sich der Alte, durch die Mühen des Tages und durch erbeutetes Feuerwasser erschöpft, in einem besseren Jenseits. Er darf nur bei einem feindlichen Durchbruchsversuch geweckt werden.«

»Seien Sie nicht vorlaut, Herr Fähnrich«, warnte eine ältere Stimme, »sonst wird man Sie dem Schlaraffenleben entreißen und auf die vorgeschobene Feldwache Ferdinandowka III kommandieren.«

Derselbe Herr wandte sich an Ferdinand:

»Den Divisionär kannst du natürlich nicht sprechen, außer du meldest dich unter Angabe triftiger Gründe morgen im Dienstweg zum Divisions-Rapport.«

»Es sind äußerst triftige Gründe, die nicht bis morgen warten können.«

»Du bist sehr naiv, mein Lieber! Es gibt nichts, was nicht bis morgen warten kann. Geh hinauf in den Kanzleistock. Zweite Tür links. Dort warte auf den Hauptmann Steidler!«

Während Ferdinand die Treppe erstieg, hörte er, wie sich der Ruf »Herr Hauptmann Steidler!« durch Klavierspiel, Grammophongeschnarre, Gläserklirren und Gelächter fortarbeitete. Er trat in einen Raum, wo zwei Unteroffiziere an ihren Tischen lümmelten. Mitten im Zimmer stand eine Schreibmaschine, in der ein unvollendeter Brief steckte. Der Leutnant bewahrte seine regungslose Haltung. Manchmal warfen ihm die Schreiber, durch seine Starrheit beunruhigt, scheue Blicke zu. Nach zwanzig Minuten erst erschien ein Generalstäbler, der sich in heiterster Laune zu befinden schien. Er hatte den mit sammetschwarzen Aufschlägen und roten Litzen gezierten Kragen seiner Bluse aufgeknöpft. Liebenswürdig erkundigte er sich:

»Womit kann ich dienen?«

»Herr Hauptmann«, fragte Ferdinand, »ich melde gehorsamst ... ich bin der Exekutionskommandant von morgen.«

Der Generalstabshauptmann betrachtete sein Gegenüber mit angestrengter Miene, als koste es ihn Mühe, die Sache ins Gedächtnis zu rufen. Dann schnalzte er mit dem Finger:

»Ach so, ach so! Entschuldige, bitte, ich muß zuerst noch einige Stücke für die Post erledigen. Nachher stehe ich dir gerne zur Verfügung.«

Er steckte den Kopf durch die Tür des Nebenzimmers und schrie:

»Jozsi, hopp, schnell antreten! Und schon!«

Zu Ferdinand hinüberlachend:

»Das ist nämlich meine weibliche Hilfskraft.«

Ein junger, bildhübscher Gefreiter trat ein, der wirklich wie ein verkleidetes Mädchen aussah, und setzte sich an die Schreibmaschine.

»Stellen Sie dem Herrn Leutnant einen Stuhl hin«, befahl der Generalstäbler; dann pfiff er leise durch die Zähne, worauf die Unteroffiziere blitzschnell verschwanden:

»Bitte, nimm Platz!«

Immer noch steif und in allen Gelenken abgeknickt, ließ sich Ferdinand nieder. Der Hauptmann postierte sich unterhalb des Deckenlichtes zur Schreibmaschine:

»Wo sind wir stehngeblieben? ...«

Die Gedanken des Erstarrten, das näselnde Diktat und der hüpfende vieldurchklingelte Lärm der Maschine verknüpften sich zu einem absonderlichen Terzett:

– Gar nicht verändert hat er sich, der Steidler ... Nicht einmal größer geworden ist er, sondern eher kleiner ... Sollte man das für möglich halten? ... Nach zehn Jahren (und wir waren damals halbwüchsige Buben) hab ich das Gefühl, als hätt ich ihn gestern zuletzt gesehen ... Dritte Bank, Eckplatz in der Mitte ... Seine Oberlippe ist gerad' so lang wie damals, so ekelhaft hochmütig ... Erkennt er mich wirklich nicht, oder tut er nur so? ... –

»Und denke ich noch immer, lieber Elemer, mit großem Vergnügen an die Nachmittage bei Demel, an die schönen Nächte im ›Trocadero‹ und an unsere gemeinsamen Erlebnisse dortselbst ...«

Klingelzeichen.

– Warum diktiert er das in der Divisionskanzlei? ... Warum schämt er sich nicht vor mir? ... Oder glaubt er vielleicht, daß er mir mit seinem ›Trocadero‹ und seinem Elemer imponiert? ... Die kleinen Augen, die er hat, und diese geschwollenen Ränder ... ›Herr Major, ich danke dem Herrn Major gehorsamst für die gütige Strenge ...‹ Wenn ich daran denk, wird mir heut noch zum Brechen übel ... Wozu sitz ich eigentlich hier? ... Du Pfiffikus, du Pfiffikus ... –

»Du kannst dir denken, wie ich dich darum beneide, daß du in Wien bist ... Ich werde lange nicht abkommen ... Wie die Dinge liegen, muß ich hier den ganzen Krempel allein machen ... In meinen Jahren kann ich ja sehr stolz darauf sein, aber es hilft nichts, ich sehne mich nach Wien ... Was gibt man jetzt im Wiedner Theater? ... Singt die Mizzi Günther noch und der Treumann? Betreffs der gewissen Angelegenheit werd ich mich bei der zuständigen Stelle informieren. Was der Vicki unter Grenzen der Standesehre versteht, ist mir schleierhaft ... Bitte hab die Gnad und vergiß nicht, mich der Baronin Etelka zu Füßen zu legen ...«

– Daß man so etwas diktieren kann ... Er hat abscheuliche Hände, genau wie der Zechpreller im ›Richtkreis‹ ... Die Gewaltmenschen werden an ihren Händen erkannt ... Der Bademeister hat überhaupt keine Nägel gehabt ... Karl Schwec, Jaroslav Teinfalt, Franz Pacak heißen sie ... Jetzt wachen sie auf ... Ich hör den Teinfalt weinen ... Franta Pacak ... Franta ... Was würde die Babi dazu sagen, wenn sie davon wüßte ... Verflucht, ich kann mich nicht konzentrieren ... Dem Jozsi stehen die Ohren ab ... Er ist das Verhältnis vom Steidler ... Jetzt weiß ich, was die Lausbuben damals am Sonntag in unserem Schlafsaal getrieben haben ... Was für ein Esel war ich ... Esel, Esel, Esel ... –

Ein langer Klingeltriller.

»In den nächsten Tagen haben wir etwas zu erwarten. Ich war niemals der Ansicht, daß uns die russische Revolution viel nützen wird. Sie entfesselt naturgemäß die subversiven Elemente auf der eigenen Seite, und der Feind macht neue Anstrengungen. Gestern hat uns ein Beobachtungsflieger bei Tisch erzählt, daß vor einigen Tagen in den russischen Gräben ein Zivilist aufgetaucht sei und unter Jubelgeschrei eine lange Rede geschwungen habe. Kerenski heißt er ...«

– Macht er das absichtlich, um mich zu zermürben? ... Oder hat er mich doch nicht erkannt!? ... Warum soll er mich erkennen  ... Er ist ein großes Tier, und ich bin ein schäbiger Reserveleutnant ... Morgen, morgen ... Fünf Uhr dreißig ... Eigentlich zwinge ich mich, daran zu denken ... Seitdem er im Zimmer ist, bin ich wie ausgewunden ... –

Mehrere scharfe Klingelzeichen hintereinander.

»Bitte noch einen Augenblick«, entschuldigte sich Steidler, und Jozsi spannte ein neues Blatt ein.

– Ich spüre, daß mir die drei von Minute zu Minute gleichgültiger werden ... Das darf nicht sein ... Es hilft aber nichts ... Für mich ist jetzt nur er da ... Ich kaue die Luft ... Das tue ich immer, Luftkauen, wenn ich jemanden umbringen möchte ... –

»Tummel dich, Jozsi! Phonogramm an alle Abschnittskommanden. Operationsnummer 873. Datum. Zehn Uhr sieben Minuten nachmittags. Dringende Urgenz. Es ist sofort anher zu berichten, warum Meldung über durchgeführten Einschub der deutschen und bosnischen Kompagnien in Stellungen Josefowka und Ferdinandowka noch nicht eingelangt ist ...«

Klingelzeichen.

– Ich glaube nicht, daß ich länger sitzenbleiben kann ... Gott, Gott, diese Wut ist ganz falsch ... ganz schlecht ... Sie wird niemanden retten ... –

»Unterschrift: Der Generalstabschef in Stellvertretung ... Sofort durchzugeben ... Der Brief kommt noch heut auf die Feldpost ... Abfahren, Jozsi!«

Der Leutnant fuhr kerzengrad auf. Steidler kramte noch eine Weile herum, ehe er sich zum Zuhören bereit machte:

»Es ist zwar sehr spät geworden – aber ich bitte sehr!?«

Ferdinand wühlte krampfhaft in einer plötzlichen Nebelleere nach Worten:

»Ich bin morgen ... zum Kommandanten bestimmt ...«

Steidler wandte seine Augen nicht ab und zeigte keine Spur von Ungeduld:

»Ich selbst hab dich bestimmt.«

Das Klägliche, das er nicht hatte sagen wollen, stieß Ferdinand jetzt hervor:

»Herr Hauptmann, ich bitte gehorsamst, mich davon zu entheben.«

Ohne weniger liebenswürdig zu werden, wechselte Steidler das Kameradschafts-Du mit dem Dienstes-Sie:

»Warum, Herr Leutnant?«

»Ich fühlte mich dieser Aufgabe nicht gewachsen.«

»Sind Sie vielleicht krank, Herr Leutnant?« erkundigte sich der Generalstäbler ohne eine Spur von Spott.

»Nein! Ich bin körperlich vollkommen gesund.«

Die stets gleichbleibende ernsthafte Liebenswürdigkeit Steidlers steigerte die Infamie:

»Ich hatte schon gefürchtet, Sie wären krank, Herr Leutnant. Seit gestern abend warte ich auf Ihre Krankmeldung. Sie tun aber sehr gut daran, gesund zu bleiben, da Sie unserm Herrn Stabsarzt damit diagnostische Zweifel ersparen. Aus welchen Gründen also fühlen Sie sich dem Befehl nicht gewachsen?«

»Aus moralischen Gründen.«

»Moralisch? Was heißt das?«

»Die Verurteilten sind keiner Schuld überführt ...«

Der Generalstäbler lächelte nachsichtig:

»Ich kann nicht annehmen, Herr Leutnant, daß so etwas Ihre ernste Meinung ist. Sie wissen gerade so gut wie ich, daß in diesem Fall eine Schuld oder Nichtschuld gar nicht in Frage steht! Es wird damit nichts als eine verdammt notwendige Kriegsmaßregel getroffen.«

»Kann eine ›Absicht‹ denn überhaupt ›erwiesen‹ werden?«

»Also, Sie scheinen ja ausgesprochen philosophisch gebildet zu sein. Sind S' vielleicht im Zivil ein Dokter?«

Mit krampfhafter Verzweiflung stammelte es aus Ferdinand:

» Müssen diese Leute denn getötet werden, Herr Hauptmann?! Gibt es keinen anderen Weg?«

Steidlers Augen ruhten mit wohlwollendem Interesse auf Ferdinands Brust:

»Sie haben hier die beiden silbernen Tapferkeitsmedaillen. Gratuliere! Wofür bekommt man denn solche Dinger?«

Ferdinand verstand die Anspielung:

»Das ist doch etwas ganz anderes.«

»Im Gegenteil! Das Ziel jedes Krieges ist die Vertilgung des Feindes. Die Vertilgung des inneren Feindes ist zwar mit keinerlei Ehren verbunden, aber um nichts unwichtiger als die Vernichtung des erklärten Gegners. Und was das getötete Menschenmaterial anbelangt? Wenn eine Kompagnie überläuft, verdreifachen sich die eigenen Verluste! Es ist übrigens komisch, daß ich mit Ihnen über solche Sachen diskutier'.«

Ferdinand senkte den Kopf. Die Sprache erstarb ihm. Die alte Kraft Steidlers, des Kadetten, der er schon in der Schule hilflos erlegen war, jetzt und hier machte sie sich wieder geltend. Sein eigener Verstand mußte dieser Logik recht geben. Da er keine Gegengründe fand, begann der bitterschmeckende Zorn sich zu regen.

Der Hauptmann holte aus seiner Mappe ein Blatt hervor:

»Ich hoffe mit folgender Relation Ihre Skrupel zu beruhigen. Es ist der Bericht eines Stationskommandos in einer großen böhmischen Stadt.« Und er las:

»Da bei Abtransport des letzten Marschbaons des hiesigen Infanterieregiments der Widerstand der Mannschaft in mehreren Fällen zu offener Meuterei ausartete, wobei zwei Offiziere schwer verletzt wurden, mußten die Truppen in ihre Ubikationen zurückgeführt und dort entwaffnet werden. Die über diese Kompagnie verhängte Dezimierung wurde am nächsten Tage von dem hier dislozierten Honvedregiment durchgeführt.«

Steidler legte das Blatt mit Vorsicht zurück: »Nehmen wir an, daß ein kriegsstarkes Bataillon einen Stand von tausend Mann hat, so sind hundert von diesen tausend erschossen worden. Glauben Sie wirklich, Herr Leutnant, daß alle hundert schuldig waren? Es hat ganz sicher unter ihnen weiße Lämmer in der Mehrzahl gegeben. Und kennen Sie vielleicht ein anderes Mittel, das ein um sein Leben kämpfender Staat anwenden könnte, um sich vor dem Selbstmord zu retten? Wir treiben hier bei uns die Humanität eh' weiter als es gut ist. An anderen Frontabschnitten werden die Hochverräter vor den eigenen Gräben angenagelt und gekreuzigt! Haben Sie noch einen Wunsch?«

»Ja, Herr Hauptmann!«

»Also, bitte?«

»Alles, was Herr Hauptmann sagen, scheint richtig zu sein. Aber man darf trotzdem wehrlose Menschen nicht außer Recht setzen. Dadurch wird unsere Kampfkraft hundertmal mehr geschädigt als gestärkt.«

»Diese Sorge überlassen Sie gefälligst dem zuständigen Kommando! Haben Sie einen Wunsch für die Verurteilten?«

»Ja, Kriegsgericht und Aufschub!«

»Ganz abgesehen davon, daß ein Erlaß vom A. O. K. jedes prozessuale Verfahren für derartige Fälle ausschaltet, würde das Kriegsgericht den Spruch nur bestätigen.«

»Herr Hauptmann! Um Gottes willen! Sehen sich Herr Hauptmann die Leute doch zuerst an! Da ist einer, ein Wickelkind noch und kein Hochverräter. Teinfalt heißt er.«

»Nehmen Sie ein besonderes Interesse an einem dieser Leute?«

»Diese Frage verstehe ich nicht ...«

»Ich meine ein Interesse verwandtschaftlicher Art?«

Ferdinand trat einen Schritt zurück:

»Herr Hauptmann wissen ja ganz genau, daß ich der Sohn eines hohen Offiziers bin.«

Steidler lachte betont gemütlich:

»Ach so ... du bist es ... das hätt ich mir gleich denken können ... eigentlich hab ich mir's auch gedacht ... Schulfreundschaften vergißt man nie ganz ...«

In diesem Augenblick neigte sich die Waagschale des Kampfes zugunsten Ferdinands. Steidler hatte sich zwei Blößen gegeben. Erstens war er keinen Augenblick darüber im Zweifel gewesen, daß der Leutnant sein ehemaliger Kamerad war, der durch seine Schuld die Militärerziehung verlassen mußte. Die schlechte Schauspielerei des Wiedererkennens hinterließ einen ärgerlichen Nachgeschmack. Zweitens hatte er eine Anspielung auf Verwandtschaftsverhältnisse gemacht, mit der er selbst nichts anzufangen wußte. Die grausame Geschichte mit Ferdinands »illegitimer« Mutter in der Küche war ihm zwar aus dem Gedächtnis geschwunden, aber nicht aus der Seele. Er wußte genau, daß er damals eine große Schweinerei begangen habe. Aus diesen Gründen entstand eine Unsicherheit in seiner Haltung. ›Wenn ich den Kerl nur schon los wär‹, dachte er. Nicht viel fehlte, und er hätte sich zu einem Kompromiß bereit erklärt. Ferdinand aber war nicht so klug, den richtigen, den vertraulich bittstellerischen Ton zu finden. Er sagte nichts. So war denn Steidler gezwungen, selber eine matte Anknüpfung zu suchen:

»Ja, die schönen Zeiten damals! Das ist auch schon eine Ewigkeit her. Erinnerst du dich noch an den Krispin? Ein ekelhafter Hund! Er ist übrigens schon im August vierzehn bei Lisnija in Serbien gefallen.«

Ferdinand, in dem Krispins Name nichts hervorrief, schwieg. Dadurch erreichte Steidlers Ermattung den Tiefpunkt.

»Wenn ich geahnt hätte, daß du ein alter Kamerad bist ... Rauchst du?« Und er überlegte wirklich, ob er nicht im letzten Augenblick noch einen anderen Offizier zum Exekutionskommandanten bestimmen könne.

Währenddessen hielt er Ferdinand seine silberne Dose hin:

»Du kannst dich ruhig bedienen ... Diese Zigaretten werden aus dem feinsten albanischen Tabak eigens für uns hergestellt.«

Daß Ferdinand regungslos verblieb, die Zigaretten des hohen Generalstabs keines Blickes würdigte, und der Hauptmann demnach gezwungen war, etwas Verschmähtes nach einer Weile zurückzuziehen – dies und nichts anderes entschied die neue Wendung. Es war eine jener unheimlichen Winzigkeiten, die das Schicksal bestimmen. Wie sich der Wasserdunst an einer Glaswand durch Temperaturveränderung in Tropfen niederschlägt, so sammelte sich eine längst aufgelöste Abneigung in Steidlers Nerven wieder. Da aber ließ sich Ferdinands fordernde Stimme vernehmen:

»Herr Hauptmann, jeder weiß, daß Herr Hauptmann hier eine unbeschränkte Macht sind. Kein Mensch wird Rechenschaft verlangen, wenn Herr Hauptmann mir jetzt einen Gegenbefehl erteilen.«

Das Wort »Macht« erweckte Steidlers Selbstbewußtseinsrausch wieder, in welchem der junge Mensch, seitdem er Stellvertreter des Generalstabschefs einer Division war, immerfort lebte. Er stemmte die rechte Hand in den Einschnitt seiner Taille, die er allabendlich vor dem Spiegel zu bewundern pflegte:

»Macht? Was weißt du von meiner Macht? Ich bin hier nur der Kuli, das Mädchen für alles. Die Befehle erteilt der Divisionär.«

Ferdinand wußte plötzlich, daß die unleserliche Unterschrift auf dem verhängnisvollen Dienststück Steidlers Namenszug war. Aber diese blitzhafte Aufhellung verlor sich sogleich wieder im Dunkel:

»Wenn Herr Hauptmann nur wollen, kann der Befehl widerrufen werden!«

Steidlers Augen wurden ganz klein und verschwollen:

»Aber ich will nicht!«

Er machte einen raschen Gang durchs Zimmer, wobei er den Anfang einer Schlagermelodie unheilvoll leise zwischen den Zähnen pfiff. Dann blieb er hinter Ferdinand stehen:

»So kommen wir nicht weiter, Herr Leutnant. Ich hab keine Lust, dieses sinnlose Gespräch fortzusetzen.«

Ferdinands Gesicht war verzerrt und schweißübergossen:

»Ich kann das nicht ...«

Steidler fuhr scharf herum:

»Herr Leutnant, welche Muttersprache ist in Ihren Dokumenten angegeben?«

Ferdinand, der diesen Hieb nicht gleich erfaßte, erwiderte der Wahrheit gemäß, er sei ein Deutscher. Steidler aber, der hinter dem Tisch Stellung nahm, erhob seine schneidende Dienststimme:

»So? Ich werde das morgen ausheben lassen. Ihre Anteilnahme für Hochverräter legt den Verdacht nahe, daß Sie einer anderen Nation angehören. Sie werden Ihre politische Zuverlässigkeit erst beweisen müssen, Herr Leutnant!«

Ohne Überlegung stieg es in Ferdinand auf, eine dunkle Säule der Wut:

»Seit drei Jahren bin ich ohne die geringste Unterbrechung im Schützengraben. Das ist meine Zuverlässigkeit, die ich mit den Herren nicht teile, die in Kanzleien herumlungern, nie im Feuer gewesen sind, Champagner saufen, Todesurteile unterschreiben und eigens für den Generalstab fabrizierte Extrazigaretten rauchen.«

Als ihm dieser Wortkrampf entfahren war, wußte Ferdinand, daß nicht nur die drei Verurteilten, sondern auch er verloren sei. Steidler saß am Tisch und unterfertigte irgendwelche Papiere, als wäre er längst schon allein und in seine Arbeit vertieft. Nach einigen Minuten Schweigens sah er auf:

»Sie sind noch immer da? Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Eine Antwort ...«

Steidler machte ein verlogen-gequältes Gesicht:

»Ich rate Ihnen, auf unsere ehemalige Mitschülerschaft nicht allzusehr zu pochen. Ihre Kühnheit geht schon bis an die Elastizitätsgrenze einer solchen Beziehung. Bedenken Sie, wer Sie sind und wer ich bin!«

Ferdinand nahm Habtachtstellung:

»Herr Hauptmann, ich bitte gehorsamst um eine Antwort auf meine Bitte wegen der morgigen Exekution.«

Steidler hob den Kopf von seinen Unterschriften nicht auf:

»Meine Antwort ist Ihnen vorgestern in Befehlsform zugestellt worden.«

Ferdinand holte tief Atem, als müsse er sich für lange Zeit mit Luftproviant versorgen:

»Und was für Möglichkeiten habe ich?«

»Sie haben zwei Möglichkeiten! Die eine heißt Gehorsam, und die andere ... Aber von der rate ich Ihnen ganz energisch ab ...«

»Und die andere, Herr Hauptmann?«

»Befehlsverweigerung«, sagte Steidler mit hohem und langsam näselndem Ton.

Ferdinand war durch Abstammung, Erziehung, Leben viel zu sehr Soldat, als daß ihm die Frage, die er jetzt stellte, leichtgefallen wäre. Obgleich sich jedes Atom seines Körpers vor Empörung aufbäumte, ergriff ihn ein Schauder bei seinen Worten:

»Und was, wenn ich den Befehl verweigere, Herr Hauptmann?«

Steidler nahm mit der gleichgültigsten Handbewegung einen Armeerevolver vom Tisch und knackte lässig die Sicherung auf:

»Und was, wenn ich Sie erschieße, Herr Leutnant?«

Diese Drohung verjagte aus Ferdinand mit einem Schlag das soldatische Grauen vor der Insubordination. Fast war es Lustigkeit, die ihn durchblitzte. Er machte zwei Schritte auf die Hand zu, die den Revolver hielt:

»Sie fürchten sich ja viel mehr, mich zu erschießen, als ich mich fürchte, von Ihnen erschossen zu werden.«

Steidler hob spielerisch die Waffe:

»Herr Leutnant, Sie befinden sich in einem gefährlichen Irrtum. Sie sind nicht der erste in diesem Krieg, mit dem ich einen derartigen Auftritt glatt zu Ende geführt habe! ... Überlegen Sie sich's also. Ich gebe Ihnen fünf Minuten und nicht mehr Bedenkzeit.«

Er legte seine Uhr auf den Tisch, während Ferdinand, um der Nähe dieses Menschen zu entkommen, sich zum Fenster zurückzog.

Steidler aber bedeckte plötzlich die Uhr mit der Hand, wie um die Zeit abzustoppen.

»Herstellt! Eh' wir beginnen. Was ich vorhin über Ihre politische Unzuverlässigkeit gesagt habe, bleibt aufrecht. Sie sind zwar vielleicht der Sohn eines alten Truppenoffiziers, das aber ist noch lange kein Beweis dafür, daß Sie nicht mütterlicherseits ein Hochverräter sein können.«

Das war ein verdrehter und unsinniger Satz, über den sich Steidler keine Rechenschaft geben konnte. Er hatte ihn ausgesprochen, um Ferdinand zu erniedrigen, ohne daß er selber klar wußte, worin die Erniedrigung lag. Der Kadett in der Küche, Hand in Hand mit einem alten Dienstboten im Kopftuch. Dieses Bild war aus seiner Erinnerung zwar verschwunden, ebenso wie seine Grausamkeit am nächsten Schultag verschollen war – aber nur aus seiner Erinnerung. Dennoch, seine Worte stellten, einem geheimnisvollen Gesetz der menschlichen Beziehungen gemäß, wonach diese unveränderlich bleiben müssen, das Urverhältnis des Hasses zwischen ihm und Ferdinand wieder her. Ferdinand selbst hatte nicht einmal den Wortlaut begriffen, aber der Hauch der Silben schon zersetzte den letzten Rest seiner Fassung wie ein wohlbekanntes Gift. Um einen Halt für die Einheit seines Selbst zu finden, griff er nach dem Fensterkreuz. Steidler lächelte siegesgeschmeichelt:

»So, die Bedenkzeit hat begonnen.«

Ferdinand stieß sich vom Kreuz ab und stolperte vor:

»Ich brauche keine Bedenkzeit ...«

Steidler zog den Oberleib zurück, so nahe kam ihm das Gesicht des Sinnberaubten. Ferdinand dachte noch: ›Klein ist er geworden, der Steidler, viel kleiner als ich, und er war doch der größte von uns ...‹ Dann schrie er auf:

»Herr Hauptmann, ich melde mich gehorsamst als Exekutionskommandant für morgen!«

Steidler warf einen gelangweilten Blick auf den Tisch und machte Miene, den Revolver hinzulegen. Ferdinand aber schlug ihm die Waffe blitzschnell aus der Hand, faßte den schmalen Menschen, der sich vor lautlosem Schreck nicht wehrte, um den Leib, hob ihn mit ungekannten Riesenkräften hoch und schleuderte ihn auf den Fußboden der Kanzlei. Trotz des fürchterlichen Lärms öffnete sich keine Tür. Starr lauschend blieb Ferdinand einen Augenblick stehen.

Als er das Zimmer verließ, sah er noch, wie Steidler sich langsam zusammenklaubte. Jetzt wird der Gezüchtigte aufschreien, ihm nachstürzen, schießen, das Haus zusammenjagen, dessen war Ferdinand sicher, und er blieb auf dem finsteren Gang stehen, um sein unabwendliches Schicksal zu erwarten. Nichts von alledem geschah. Da ging er auf Zehenspitzen leise die Treppe hinunter.


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