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Vierzehntes Kapitel.
Die Masse und der Einzige

Um die Mittagsstunde schon begann der große Aufmarsch und Zug der Arbeiter vor das Parlament.

Das hatte Wien, die Kaiserstadt, noch nicht erlebt. Die greisenhaft bröckelnden Fassaden der Ringstraßenpalais starrten entsetzt über diese Schicksalsflut hinweg auf die nackten Gärten gegenüber. Wohl hatte es auch schon in Friedenszeiten Aufzüge, Demonstrationen, Maifeiern, Krawalle gegeben, aber diese seltenen Szenen erregter Menschenmengen spielten sich hinter einem goldgewobenen Schleier ab, der sie entrückte und ihnen alle Bedeutung nahm. In den Vorstädten, Arbeiterbezirken, Verbrecherwinkeln der Residenz gab es eben unzufriedene und umstürzlerische Elemente, die sich in den trüben Tagen des Reiches hervorwagten, wenn die »echtösterreichische Politik« wieder einmal ihre Unglückshand bewiesen hatte. Wuchsen sich in erbitterten Fällen die Demonstrationen zu »Tumulten und Exzessen« aus, so konnte der friedliche Bürger dann in seinem Abendblatt etwa folgendes lesen:

»Als aus der Menge gegen die Wachmannschaft Steine geschleudert wurden, zog diese vom Leder und nahm eine Säuberung der Straße vor, während die berittene Polizei durch eine schneidige Attacke die Tumultuanten zersprengte. Hierbei erfolgten so und so viel Verwundungen, Verhaftungen, Feststellungen.«

An diese im nebensatzreichen Kurialstil verfaßte Amtsmeldung schloß sich ein warnendes Wort, das der politische Redakteur nicht etwa dem Wiener Volke, sondern der hohen Politik und ihrer nervösen Unentschlossenheit zurief.

Derartige Vorfälle aber glichen nur einem Platzregen, der einen endlos langen und schönen Sommertag für wenige Minuten verstört. Was hatten diese kleinen Trübungen mit Wien, der Stadt der Lieder, zu tun? In jeder Metropole gab es Hunger, Arbeitslosigkeit, Wohnungselend und einen Bodensatz von Ruhestörern und Hooligans. Dies war für den zugleich lebensseligen wie sarkastischen Bürger nicht Wien. Der Ring, die Oper, der Graben, die Kärntnerstraße, der Prater, der Kahlenberg, der Wienerwald, die Donauauen, Hofwagen, Burgmusik, Militärkapellen, die kastanienüberdachten Wirtsgärten, verborgene Weinschenken, Gummiradler und hundert andere hellumklimperte Dinge mehr, sie bildeten das Wien des Wieners.

Franz Josef mit dem grünen Generalsfederbusch, der Graf Paar ihm zur Linken, saust auf goldenen Rädern die Mariahilferstraße hinab. Das Volk jubelt, und er salutiert müde und huldvoll. Ein Galaabend in der Oper! Die Equipagenreihe reicht bis zu den Museen. Die armen Leute stehen in ehrfürchtigster Weise Spalier und flüstern einander in erschauerndem Kennerton die Namen der großen Damen zu, deren Diademe die Nacht durchblitzen: Liechtenstein! Colalto! Lobkowitz! Esterhazy! Die Preise einer solchen Théâtre-paré-Vorstellung sind unerschwinglich. Aber wer von den Braven denkt daran, daß auch für ihn das Opernhaus erbaut sein könnte. Jedem das Seine. Der phäakische Greisler, der sich hie und da einen Platz in der Oper gönnt, schwört darauf, daß jene behaglichen drei Worte der Wahlspruch des goldenen Wiener Herzens seien.

Ein goldgewobener Schleier, hinter dem alles so angenehm unbestimmt wogt! Von Kriegsjahr zu Kriegsjahr ward er schäbiger. Am zwölften November zerriß er ganz.

Auch Ferdinand hatte noch niemals die Masse erlebt. Finstere, bepackte Marschkompagnien, die in Viehwagen verstaut werden, das weitgezogene Netz der Grabenmannschaft, die lange zähneklappernde Simulantenreihe bei der Konstatierung – solche Massen kannte er genau. Menschen, von der Vorstellung eines unzerbrechlichen Zwanges zu Boden gebeugt, abgestorbene Wesenheiten, Augen voll stumpfer Sträflingsblicke.

Die Flut der Hunderttausende, die langsam wie ein Lavaarm weiterrückte, war nicht eigentlich schön zu nennen. Aber wie schwerfällig sie auch strömte, wie unerbittlich sie auch Körper und Selbstbestimmung des einzelnen auslöschte, sie schien als Eigenwesen eine ungeheure Freiwilligkeit und Souveränität zu besitzen. Jedermann unter diesen Arbeitern hatte in den vier furchtbaren Jahren die Quälereien der Musterungen, des Einrückens, der Ausbildung erlebt, die meisten waren draußen im Felde gewesen, alle ächzten noch immer unter dem Hunger. Wie sonderbar also war es, daß die Masse als Ganzheit an diesem Tage keine Erbitterung, keine Rache-Regung zeigte, da doch jeder einzelne nach Vergeltung und Abrechnung gierig sein mußte. In diesen Stunden des Aufmarsches bewies die Masse ein geheimnisvolles, höheres Selbstbewußtsein, das sich schon viel zu ruhig im Besitz der Zukunft fühlte, um nach dem Phantom des Gewesenen zurückzublicken, das in den Krämpfen der Niederlage verzuckte. Das Reich war zerstört, das Volk besiegt, aber mit einem Male schien es nur einige tausend Wirklich-Besiegte zu geben, und aus dem Nebel traten fünfhunderttausend Sieger. Alle hatten ihre Sonntagskleider angelegt, in jedem Knopfloch flammte die Nelke, und der Tag äußerster Macht-Vernichtung verwandelte sich in einen Tag äußerster Macht-Entfaltung. So schnell entledigt sich die Zeit ihrer prächtigsten Staats-Leichen, denen das überrumpelte Gemüt lange nachträumt. Vor einigen Tagen noch war die Stadt voll von feldgrauen Männern gewesen. Heute sah man kaum eine Uniform mehr. Das kriegerische Grau lag mit andrer, weit edlerer Asche auf dem Abfallshaufen.

Nur eine lange Reihe von Soldaten machte sich bemerkbar. Es war die Rote Wehr. Die Kompagnien standen in ziemlich gelöster Linie vor dem weithinlaufenden Gitter des Volksgartens, so daß sie das Tor des griechischen Parlamentstempels gut im Auge behalten konnten. Man hielt sie im allgemeinen für die militärische Sicherung des Volkshauses. Niemand achtete dieser Soldaten mit den roten Kappenbändern, obgleich sie die Bajonette auf die Gewehre gepflanzt hatten. Noch kannte sich ja kein Mensch in den Machtverhältnissen des werdenden Staates aus. Auch herrschte heute selbst unter den bürgerlichen Zuschauern, die allenthalben den gewaltigen Zug umsäumten, eine unklare und halbunterdrückte Freude, die weniger der Zustimmung für das Gegenwärtige entsprang als der tiefen Befriedigung darüber, daß der mörderische Zwang der alten Staatsautorität endlich abgewirtschaftet habe. Keine Interessenrücksicht wird den Menschen jemals das vergnügliche Urbehagen versalzen, die unantastbare Herrlichkeit von gestern in Furcht und Schwäche heute zittern zu sehn. So geschah es denn auch, daß Herren mit gesitteten Goldbrillen und taktvoll verheimlichter Eleganz die Republik leben ließen und Männer mit ehemals kriegsbegeisterten und neuerungsfeindlichen Bärten ihre knorrige Gesinnungsstimme in die unzählbaren Aufschreie der Menge mischten. Wie siedende Wassersäulen eines plötzlich ausbrechenden Sprudels stiegen diese Schreie, unten breit und oben spitz, in die Höhe, um über den Dächern der Straße zu zerstäuben und in zehntausend unverständlichen Silbensplittern auf die Häupter der Menschen niederzuregnen.

Solches Sirenengeheul aufplärrender Begeisterung zu entfesseln, kostete heut wenig Mühe. Debütanten der Redekunst übten sich auf allen Prellsteinen in dieser Wirkung. Der Volkswitz des Tages erzählte, daß manch ein ehrsamer Mann in den Häusern der anrainenden Straßen zu seiner Frau sagte: »Heb mir die Jausen auf! Ich spring nur ein bissel hinunter und halt eine Red'.«

Zur annoch unerforschten Erscheinung der Massenpersönlichkeit gehörte es ferner, daß der Inhalt all dieser Reden an sich völlig gleichgültig war. Das Ohr der Menge vernahm hinter den abgegriffenen Phrasen eine Sprache, die nur sie allein verstand und sonst niemand, weder der Redner noch auch der einzelne Zuhörer. Es war eine einfache Sprache, die nicht aus Begriffen bestand, sondern aus an- und abschwellenden Spannungen, aus Vorhalten, Höhepunkten, Fermaten und knallenden Kadenzen. Zum Übergroßen kann man nicht durch den Verstand sprechen, sondern nur durch Musik.

Der Rausch des kollektiven Selbstbewußtseins, der ringsum wogte, ließ nichts Widerständiges und Feindseliges aufkommen. Wer konnte es wagen, gegen die Hunderttausend und ihren einhelligen Willen aufzutreten? Reaktion? Die Masse wußte, daß es dergleichen nicht gab. Irgendwo mochten ein paar alte Politiker, Würdenträger und Generale sich im Finstern verborgen halten. Bis auf diese Toten aber war die ganze Stadt mitgerissen in die unwiderstehliche Flutung des Neuen.

Das Bewußtsein der Kraft und des trotz allen Unglücks Erreichten, das keine Gefahr anerkannte, erzeugte Humor. Auf dem breiten Gefälle des feierlichen Stromes kräuselten sich überall Gelächter-Wirbel. Auch die Rote Wehr zeigte gemütliche Fröhlichkeit. Die Mannschaften waren aus der Front getreten und standen in lachenden Gruppen. Die Gewehre hingen ihnen schlampig über die Schulter. Ferdinand erinnerte sich eines üblichen militärischen Anschnauzers: »Wie eine Wach- und Schließgesellschaft schauts ihr aus.«

Als er zu der Truppe trat, wurde er mit großer Sympathie begrüßt. Einer erzählte ihm, es sei zwar verboten, Munition mitzunehmen, was ihn aber nicht daran gehindert habe, einige Patronenmagazine einzustecken. Weiß sah ganz und gar verwandelt aus. Die bleiche Miene der Verantwortung war wieder seinem pfiffigen Kolportagegesicht gewichen. Er trat auf Ferdinand mit dem scharfen Melderuck der k. u. k. Armee zu:

»Herr Leutnant, ich melde gehorsamst einen Feldherrn und dreihundert Fallotten.«

Dann schwatzte er befriedigt:

»Weißt du schon, daß du gestern einen großen Triumph erlebt hast? Wo warst du übrigens? Eigentlich sollt ich dich wegen unerlaubten Verlassens der Kaserne einsperren. Also! Man hat uns von maßgebender Seite abgewinkt. Es findet keine Aktion statt. Wegen schlechten Wetters abgesagt. Du kannst dir denken, wie unser Lenin schäumt. Er hat sich noch gar nicht gezeigt.«

Es waren seit Beginn des Umzuges zwei Stunden schon vergangen, und immer noch strömte es unerschöpflich von den Vorstädten her über die Ringstraße. Man konnte die dickflüssige Bewegung nur an dem trägen Weitertreiben der Fahnen und Bezirkstafeln erkennen, die über dem Strudel der Köpfe schwankten. Plötzlich aber trat auf dem weiten Platz, der durch die Menschenzahl nicht nur räumlich, sondern auch akustisch unendlich verbreitert war, eine aufhorchende Stille ein. Ferdinand und Weiß bestiegen eine Bank, um besser sehn zu können.

»Da schau her«, verkündete Weiß, »die Bonzen kommen, die öden Oberpriester einer schöneren Zukunft.«

Dem Priamus gleich, der auf Trojas Zinnen seiner Schwiegertochter die Namen der reisigen Helden aufzählt, begann auch er jetzt die Namen der verschiedenen Parteihelden aufzuzählen. Langsam, wie aus einer Tube gepreßt, quoll ein Haufen schwarzer Herren aus dem antiken Palasttor des Parlamentes. Man konnte noch in großer Entfernung spüren, daß sie, die nun das Volk mit einem kernigen Schwung ihrer demokratischen Schlapphüte grüßten, von der Einmaligkeit dieser Stunde erfüllt waren und von dem unermeßlichen Anblick, der sich zu ihren Füßen breitete.

»Dengelberger leuchtet bis hierher«, sagte Weiß zufrieden. Und wirklich, die bodenständig lebensfrohe Gestalt des Optimisten überwand den dunklen Chor und hob sich als echte Persönlichkeit ab.

Einer der Herren trat jetzt weit vor, öffnete die Arme und begann seine Ansprache. Wenn man auch keinen Laut vernahm, so überwuchs sein Gesicht doch nach und nach die Gesichterunendlichkeit ringsum. Wie ein bleiches und eitles Blinkfeuer signalisierte es rhythmisch und tonlos im Menschennebel.

Zugleich auch gingen die Photographen und Filmoperateure an die Arbeit. Sie saßen auf den Litfaßsäulen, in den Baumkronen und hielten sich im Klettersitz auf halber Höhe der Lichtmasten fest. Selbst auf dem First des Parlaments tauchten sie auf.

Weiß war in den Anblick dieses Lebens so tief versunken, daß er den ehrfurchtsvollen Gruß gar nicht bemerkte, den ihm ein malerischer Zivilist, der sich unter eine Gruppe der Roten Wehr gemischt hatte, mehrfach entbot. Ferdinand erkannte den alten Nowak. Der Sollizitator hatte sich sonntäglich herausstaffiert. Er trug einen Pelzrock mit gänzlich ausgerupftem Kragen, eine steife Dohle und, was zu dieser bürgerlichen Maske gar nicht passen wollte, einen mächtigen Knotenstock. Auf vorsichtigen, weit auseinandergespreizten Plattfüßen watschelte er abenteuergierig einher. Das ausrasierte Gesicht beschämte durch sein schlaghaftes Rot die Papiernelke im Knopfloch.

Ronald verfiel wieder einmal seinen wohlbekannten Zweifeln an der Wirklichkeit der Geschichte:

»Soll man es für möglich halten? ... Beinah genauso, wie es im Büchel steht ... Das Volk versammelt sich auf dem Marktplatz, und Perikles oder Solon verkündigt ihm die neue Verfassung ... Pardon, ich hab natürlich keine Ahnung von Solon und Perikles ... In der Realschule haben wir das nicht gehabt ... Übrigens kann nur ein Realschüler ein echter Revolutionär werden und niemals ein Gymnasiast ... Ihr Gymnasiasten seid alle verstockte Aristokraten ... Kenn ich dich? ... Also so etwas wie das dort kommt doch nur in Theaterstücken mit starker Komparserie vor ... Ich hab einmal in Reinhardts ›Ödipus‹ im Zirkus Schumann statiert ... Lach nicht! ... Ich nehm meinen Beruf ernst ... Was ist denn?«

»Nichts«, sagte Ferdinand und verbarg eine unbehagliche Empfindung. Elkan war aufgetaucht. »Was ist das für eine Geschichte mit Ödipus?«

»No ... wir sind wie irrsinnig durch die Manege gelaufen, haben vorsätzlich Staub entwickelt und gebrüllt: Die Pest, die Pest! ... Siehst du, das fehlt mir hier ... Für ein großes Theaterstück ist das alles zu undramatisch ... Da gehört ein Reinhardt her ... Ödipus auf den Stufen hat nicht den Hut geschwenkt, sondern die Hände gerungen ... Kunststück, es war der alte Bonn ... Weißt du was, ich hab damals mehr an die Pest geglaubt, als ich jetzt an diese Komödie hier glaube ... In der ersten Reihe ist ein dicker Kapitalist gesessen mit Brillantknöpfen im Frackhemd ... Ich war immer schon ein Rebell ... Irrtümlicherweise hat mich meine Großmutter mit einem Lausbuben verwechselt ... Der Kerl mit der polierten Millionenglatze ist mir so auf die Nerven gegangen, daß ich unter seinem Platz stehngeblieben bin und ihm minutenlang ins Gesicht gebrüllt hab: Die Pest ist über uns, die Pest, o ihr Götter, die Pest, die Pest! ... Hast du eine Ahnung, wie der Mann sich geniert hat?«

Während Ronald noch erzählte, sah Ferdinand, daß in die Abteilungen der Roten Wehr unversehens eine krampfhafte Bewegung gefahren war. Die Soldaten drängten vor und zeigten mit aufgeregten Gesten auf das Dach des Parlamentes. Ihr Befehlshaber merkte noch immer nichts. Gott schlug ihn in dieser gefährlichen Spanne mit üppigster Anekdoten-Schwelgerei.

Was sich jetzt entwickelte, geschah so überwältigend schnell, daß auch eine sekundenmäßige Zergliederung den folgerichtigen Ablauf nicht wahrheitsgemäß entwirren und wiederherstellen kann. Keuchend sprang Wimpel heran, als hätte er nicht zehn Schritte, sondern einen Dauerlauf zurücklegen müssen. Im Nu waren Ferdinand und Weiß von einem Haufen fuchtelnder Gardisten umringt. Eine Stimme überschrie die andre:

»Genosse Weiß! ... Maschinengewehre gegen uns ... Dort oben ... Ein Offiziersputsch ...«

Dieselben Leute, die noch vor zwei Minuten in freundwilliger Lässigkeit den Dingen zugeschaut hatten, waren verhext und steigerten sich durch wortloses Gebrüll in den Rausch hinan, den sie suchten. Die Verwandlung brauchte keine fünf Pulsschläge, um vollkommen zu sein. Die stärkste Verwandlung jedoch ging mit Weiß vor sich. Er, der noch die Worte im Mund trug, mit denen er die schattenhafte Theatralik solcher Vorgänge kennzeichnete, fiel sofort der Gewalt des Schauspiels zum Opfer, ja drängte sich in seine Mitte. Ferdinand hatte ihn so noch niemals gesehn. Seine Augen waren ganz klein vor Trunkenheit, die Haut über den Backenknochen brannte tiefrot. Jetzt wußte Weiß nicht mehr, daß er nur der Schauspieler dieses Augenblicks war. Von ungeheurer Sucht nach großen Erlebnissen geschüttelt, brüllte er mit überschnappender Stimme:

»Achtung! Maschinengewehre! Vergatterung!«

Auch Ferdinand wurde von unverständlichen Mächten gepackt. Er hatte ja genau gesehn, daß auf dem Dach des Parlamentes ein Filmoperateur seine Kamera in Stellung brachte. Vielleicht war alles ein Irrtum. Von heulenden Soldaten umtanzt, glaubte er zu schreien: »Kein Maschinengewehr! Eine Filmkamera!« War es aber der allgemeine Lärm, der seine Stimme verschluckte, war es eine dämonische Gewalt, die sie lautlos machte, je mehr er schrie, je mehr seine Kehle ihn schmerzte, um so weniger hörte er sich selbst. Es war wie im Traum. Endlich rang sich doch ein Schrei los: »Maschinengewehr!« Das Wort »Filmkamera« brachte er nicht zustande. Er versuchte Ronald Weiß mit beiden Händen zu packen. Der aber bemerkte das gar nicht. Sein sonst bis in die Augenwinkel waches Gesicht war von einem tragischen Wahnsinn verschleiert. Da spürte auch Ferdinand die Umhüllung durch diesen Wahnsinn, eine wild-süße Luft, einen zerstörerischen Drang, zu rennen, zu schweben, zu brüllen, um sich zu schlagen. Jetzt wollte er nicht mehr dem Sturm sich entgegenwerfen, denn er selber war zu einem Teil des Sturmes geworden.

In diesem Augenblick löste sich vom rechten Flügel der Abteilung ein Zug und stürzte hinter einem der Führer her, der seinen Säbel durch die Luft blitzen ließ. Dies ertrug Weiß nicht. Da er keinen Säbel besaß, wirbelte er mit dem rechten Arm das Galoppzeichen über seinem Kopf und kreischte:

»Mir nach!«

Ferdinand wurde mitgerissen, aber nicht von dem Ansturm der anderen, sondern von der vernichtungsseligen Luft, die auch ihm alle Sinne raubte. Es war eine unbeschreibliche Sekunde orgiastischer Selbstvergessenheit. Neben ihm pfiff ein Atem, der kaum vorwärts konnte. Der alte Nowak schwang den Knotenstock. Seinen würdig-steifen Hut hatte er längst verloren. Der weiße Haarkranz sträubte sich wie ein Schein um den närrischen Schädel. Mit der meckernden Stimme lustiger Greise, die eins über den Durst getrunken haben, quakte er immer dieselben zwei Worte, die nicht in diese Zeit gehörten:

»Allons, enfants ...«

Die Erscheinung Nowaks brachte Ferdinand zu sich. Nun rannte er gegen seinen inneren Widerstand an wie gegen eine Wand. In der Mitte der Ringstraße blieb er stehn, unter seinem eigenen Willensbefehl wankend. Dies war einer der Lebensmomente, da dieser zarte Ferdinand sich mit unerwarteter Kraft den heimlich-unheimlichen Göttern gewachsen zeigte.

Der schwerfällige Riesenleib der Masse hatte der sturmlaufenden Soldateska sogleich einen scheu-erstaunten Fleck geöffnet, an dessen Rändern sich die Menschenmauer dichter türmte. Auf den Parlamentsstufen entstand jetzt ein keifender Knäuel, in dem, das erstemal heute, peitschende Einzelstimmen vernehmbar wurden. Auch dies war nur eine Sache von Sekunden, während welcher die schweigend harrende Mauer immer ernster und schwärzer zu werden schien. Der Streit auf der Rampe zerplatzte in seiner Steigerung, und plötzlich krachten rasende Kolbenschläge, die gegen das aufschallende Holz des Parlamentstores geführt wurden.

Alle, die es hörten, aber auch alle, wußten, daß im nächsten Nu der erste Schuß fallen werde. Jeder trug den luftzerreißenden Knall schon im Ohr, dennoch dachte noch keiner daran, zu fliehen und sich zu decken.

Ohne die geringste Verspätung ging dieser Schuß auch wirklich los. Die Ewigkeit einer kurzen nachlauschenden Stille, und dann etwas Unvorstellbares: Ein hoher weibischer Massenschrei gleich dem prasselnden Wurf von Millionen Kieselsteinen gegen eine Metallwand. Und wie durch keine andre Ursache als diesen Schrei aufgereizt, setzte das tolle regellose Gewehrknattern ein.

Was war geschehen? Wer schoß? Die Hunderttausende verstanden nichts. Aber selbst die Soldaten der Roten Wehr, die gegen den First des griechischen Tempels pfefferten, hielten das Echo ihrer Schüsse für einen feindlichen Angriff und begannen jetzt nach allen Richtungen zu feuern. Das schwere Tor des Parlaments wich dem wütenden Hämmern nicht.

Ferdinand, der mit angespannten Muskeln unbewegt dastand, fand sich mitten auf der jetzt so seltsam verkleinerten Fahrbahn allein. Einige Atemzüge hatten genügt, und das Monstrum der Masse war zerschlagen, zerstoben, verschollen. Nur in den Mündungen entfernter Nebenstraßen wogten kleine schwarze Inseln.

Sinnlos pfiff und miaute es in den Lüften. ›Alles zu hoch‹, urteilte ein unbeteiligter Fachmann in Ferdinand. Geller, die vom Pflaster abgeprallt waren, trillerten an seinem Ohr vorbei. Er folgte der alten Gewohnheit und suchte Deckung hinter einem Baum der Ringstraßenallee. Schon lagen einige Menschenkörper auf dem Pflaster. Das erstaunte Wimmern von Verwundeten drang zu ihm. Da sagte er zum Baum, hinter dem er stand, als erzähle er ihm eine alte abgedroschene Geschichte, einigemal das bedeutungslose Wort: »Aha ...«

Er hatte keinen Rausch mehr in sich, doch auch keine Trauer und keine Empörung, sondern nichts als eine unendliche Interesselosigkeit. Zehn Schritte von seinem Baum entfernt sah er seine Kappe zwischen den Geleisen der Straßenbahn liegen. Noch immer jaulten die Projektile durch die Luft. In drei feldgerechten Sprüngen war Ferdinand bei der Kappe und holte sie. Das rote Band aber, das abgefallen war, vergaß er aufzuheben.

   

Die letzten Schüsse vergellten. In der Leere des Raumes aber breitete sich nicht die scharfgeschliffene Ruhe aus, die einer gelungenen Überrumpelung folgt, sondern das gicksende Stimmengewirre der Blamage. Schon verlor sich das Kolbengehämmer und der peitschende Schimpf im geschwätzigen Hin und Her des Verhandelns. Das Volkshaus war nicht erobert worden. Einige Trupps von Soldaten liefen lachend gegen den Volksgarten zu, als wäre zu ihrer vollkommenen Zufriedenheit der lustige Rummel hiemit vorüber. Ein Sanitätsauto der Rettungsgesellschaft fuhr vor.

Elkan hatte die unbekannte Größe, das X seiner revolutionären Mathematik, kaltblütig in die Menge geworfen. Aber dieses X war eine Lüge, und auf einer Lüge läßt sich nichts aufbauen, nicht einmal ein erfolgreicher Putsch. Die dreihundert und mehr Politiker des Abgeordnetenhauses, alles abgebrühte Leute, die an keine unbekannte Größe glaubten, konnten ohne die Hilfe auch nur eines einzigen Bewaffneten ihre Macht behaupten. Dieser Sieg entsprang keineswegs ihrer Tapferkeit – (einige der Herren hatten an allerlei verschließbaren Orten zugewartet, wie sich das Schicksal Österreichs entwickeln werde) –, sondern der geheimnisvollen Logik alles Geschehens, der zweiten Unbekannten in der Menschheitsgleichung, die Elkan niemals in Betracht ziehen wollte. Übrig blieben von dem schneidigen Sturm zwei Tote und einige Verwundete, ein mageres Resultat, das die versonnene Blutromantik des alten Nowak gewiß enttäuscht hat.

War das die Revolution? Ungläubig stellte Ferdinand sich diese Frage. Die Hupe des Rettungsautos klagte platzheischend. Der Motor sprang an. Ringsum lagen Hüte, Fetzen, Schirme und anderes Strandgut der Flucht verstreut. Ein paar Blutlachen starrten bräunlich.

Was nun? Auf der Rampe des Parlamentes keiften noch immer einige kleine Gruppen. Ferdinand überlegte wieder einmal, wohin er gehöre. Ein trüber Ekel sammelte sich in seinem Zwerchfell. Jetzt erst setzte er die Kappe auf. Nur fort von hier! Was war geschehn? Wie gleichgültig und blöd erschien es ihm. Ein wütender Abscheu vor sich selber begann ihn zu drosseln.

Langsam ging er den Volksgarten entlang und bog beim Burgtheater ein. Überall drängten sich kleine, versprengte Menschenhaufen.

In ihrem erregten Geschwätz gab sich weniger Entrüstung kund als ein halbverstörtes und halbverärgertes Erstaunen über ein Geschehnis, das niemand verstand. Die Gerüchte wucherten tropisch. Die Tschechen seien in Wien einmarschiert. In Schönbrunn kämpfe ein Offiziersdetachement gegen die Rote Wehr und werde in wenigen Stunden die Innere Stadt besetzen. Ein kaiserlicher General rücke von Baden aus mit einer treugebliebenen Division vor, um dem Herrscher diese Truppenmacht zuzuführen. Die revolutionären Soldaten hätten ein Blutbad unter den Volksvertretern angerichtet. Kommunisten zögen plündernd die Mariahilferstraße hinab.

Ferdinand hörte nach all dem Unsinn kaum hin. Je weiter er sich vom Schauplatz des Sturmes entfernte, desto stärker wuchs in ihm der Wunsch, mit einem Menschen zu sprechen, der von den Wirrungen der letzten Zeit verschont geblieben war. Es gab nur einen, der die Festigkeit besaß, das häßliche Haupt hoch über dem Wirbel zu halten: Gottfried Krasny. Als Ferdinand zur Minoritenkirche kam, entschloß er sich, ins Café zu gehen.

Die Uhr zeigte vier. Vor der Drehtür standen Gäste und Kellner des äußeren Lokals, die noch weit grausamere Gerüchte untereinander versteigerten als die zersprengten Haufen der Masse. Der Säulensaal war bis auf die Kartenspieler gänzlich leer. Einer der Spieler erhob sich und trat zu Ferdinand:

»Was ist los?«

Der Gefragte gab den knappen Bescheid, daß vor dem Parlamente geschossen worden sei. Ein altes schwammiges Gesicht, das niemals eine andere Luft geatmet zu haben schien als die des unterweltlichen Schattenreiches, rief den Neugierigen zurück:

»Was kann schon los sein in Wien? Der Weiß ist los ...«

Die quatschige Stimme dieses Gesichtes sang:

»Der Weiß ist los, der Weiß ist frei, die ehernen Bande riß er entzwei ...«

Und mahnend:

»Kommen Sie! Wer bezahlt mir den Zeitverlust? Man wird morgen lesen. Sie teilen ...«

Ferdinand blickte sich um. Er wartete, bis Krasny aus einem Schatten tauchen und mit fressendem Verachtungsblick, die Hände über der Brust abgeknickt, auf ihn zustoßen werde: Herr Leutnant! Zahlen Sie mir eine Schale Braun mit Gebäck! – Erstaunlicherweise aber zeigte sich heute kein Krasny. Seine Schreckensgestalt, wie empfindlich fehlte sie hier!

Auf weltalten Kellnerfüßen schob sich der Ober Fritz ungerufen an Ferdinands Tisch und gab mit sorgenvoller Miene Auskunft:

»Denken nur, Herr Leutnant, der Herr Krasny ist schon seit zehn Tagen nicht bei uns gewesen. Er muß krank sein. Denn solang ich im Säulensaal bedien, hat der Herr Krasny noch keinen Tag gefehlt. Morgen bin ich dienstfrei, da werd ich zu ihm hinausschaun ...« Fritz neigte jetzt dem Gaste bitter sein etwas schwerhöriges Ohr, um mit der Bestellung eines Getränkes oder einer Zeitung die ganze Torheit des Lebens entgegenzunehmen. Ferdinand aber fragte nur:

»Hat sich denn keiner bisher um ihn gekümmert?«

Der Kellner lachte menschenkennerisch, wobei seine Haltung die Resignation eines Diogenes ausdrückte, der nicht mehr enttäuscht werden kann:

»Gekümmert, ha!? Ich bitt Sie, Herr Leutnant, bei die unregelmäßigen Zuständ, was wir jetzt bei uns haben. Da war ja im Krieg noch viel mehr Verlaß auf die Gäst. Sie selber sind jetzt länger als eine Woche ausgeblieben. Der Herr Doktor Gebhart mit seinen Damen ist seit ein paar Tagen überhaupt verschwunden. No ja, der Herr Weiß kommt noch. Aber wenn er kommt, steckt er nur den Kopf herein und fragt: Fritz, wer war da? Und geht schon wieder. Nein! Entschuldigen! Vorher muß ich ihm noch alle Zeitungen bringen, die inländischen und ausländischen: von den ›Hamburger Nachrichten‹ bis zum ›Bayerischen Kurier‹, die ›Zürcher Zeitung‹ und den ›Brünner Tagesboten‹. Es ist ein Kreuz! Wie schnell der Herr Weiß Zeitungen liest! Aufschlagen und schon fertig! Das ist halt die Praxis, mein ich. Da könnten sich die andern Gäst ein Beispiel nehmen. Bei dem ist nie etwas lang in der Hand ... Ja, ja, auch der Herr Professor Basil ist nicht mehr der alte. Die vielen Madeln, mit denen er herumziehn muß, machen ihn halt traurig. Das kommt schon vor ... Wie meinen? Der Herr Stechler? Ich bitt, der hat jetzt gar so viel Wichtiges zu tun ... Und der Herr Chefredakteur Spannweit, mit dem lassen S' mich überhaupt aus ... Wer soll sich also um den Herrn Krasny kümmern?«

Nachdem der Ober all diese schlechten Aussichten für Krasny vorgebracht hatte, verfiel sein gefälteltes Gesicht einer todmüden Hoffnungslosigkeit. Nur ein letzter schwacher Rest von Sarkasmus nickte lächelnd dem Gaste zu. Ferdinands Augen klammerten sich an das Antlitz des Philosophen.

Wenn man am Sonntag Fritz auf der Straße begegnete, machte er den Eindruck eines distinguierten alten Schauspielers, der es vom Komiker einer Wiener Volksbühne bis zu ersten Rollen an einem vornehmen Theater gebracht hat. Vielleicht steckte, nach diesem Sonntagsbild zu schließen, in seinem Gemüt eine Kunst-Verwandtschaft, die ihn den wenig üppigen Dienst im Säulensaal jeder anderen Anstellung vorziehen ließ. Jetzt seufzte er:

»Wenn ich so meine Gäst überdenk, ujeh ...«

Höflicherweise brachte er den Seufzer nicht zu Ende. Er machte einen Strich unter das zweifelhafte Konto und schloß:

»Aber nach dem Herrn Krasny werd ich mich morgen umschaun.«

Ferdinand ließ sich von Fritz die Adresse des Dichters geben.

Der Weg zog sich endlos. Da zur Feier der ausgerufenen Republik heute Arbeitsruhe herrschte, so verkehrte keine Straßenbahn, und Ferdinand mußte zu Fuß gehn. Wenn er sich der gewaltigen Masse erinnerte, die vor einer Stunde noch die langen Straßenzüge durchwogt hatte, war die fast nächtliche Totenleere nun ganz unverständlich. Die Stadt zeigte sich bitter gekränkt und verschloß ihr Gesicht wie ein beleidigter Mensch.

In der Hausbesorgerwohnung, die Ferdinand jetzt betrat, saß der Vater auf dem Tisch und nähte. Die Mutter hatte ein Bügelbrett vom Fensterbord zum Bettpfosten gelegt. Zwei Kinder machten sich bemerkbar. Es herrschte der unangenehme Geruch aller kleinen Schneiderwerkstätten: Petroleum und muffelnde Stoffe.

»Wohnt hier Herr Gottfried Krasny?«

Ferdinand suchte mit den Blicken die Tür zu einem Nebenzimmer, aber er fand sie nicht. Der Schneider unterbrach seinen Nadelschwung:

»Herr Krasny? Jawohl ...«

Er wies mit dem Fingerhut auf einen Strohsack, der einen Winkel des nicht gerade engen Zimmers ausfüllte:

»Jawohl, Herr Krasny wohnt hier ... Aber sie haben ihn schon vor fünf Tagen ins Allgemeine Krankenhaus geführt.«

Die Kinder trampelten auf dem Strohsack herum:

»Marsch, fort!« rief die Mutter.

Obgleich er keine klare Auskunft erhoffte, fragte Ferdinand, was für eine Krankheit denn Krasny befallen habe. Als hätte er ihr einen bitteren Vorwurf gemacht, kam die Frau in Harnisch:

»Wir haben ihm, bitte, in diesen Tagen immer etwas gegeben. Ich hab, bitte, in der Früh und am Abend immer für ihn gekocht. Tee und Einbrennsuppe. Man hat ja selbst nichts anderes. Es war schon nicht mehr auszuhalten. Unsere Schuld ist es, bitte, nicht. Aber der Herr Krasny wollte gar nichts mehr bei sich behalten ...«

Der Schneider schnitt diese Klage unwillig ab:

»Er ist ein guter Zimmerherr, der Herr Krasny ... Schon das fünfte Jahr wohnt er bei uns ... Er ist nie zu Haus ... Deshalb hätten wir ihn noch weiter behalten, wenn er auch die Miete schon drei Monate nicht bezahlt hat ... Es sind halt schwere Zeiten ... Er kann nichts dafür ... Gott geb's, daß er bald gesund wird.«

Ferdinand starrte in den Zimmerwinkel, wo sich am Kopfende des Strohsacks ein Haufen von schmutzigen Reclambänden türmte. Vielleicht sollte man dem Kranken Lektüre bringen. Aber er empfand Ekel vor dem staubigen und abgegriffenen Papier. Währenddessen beobachtete der Schneider den Besuch scharf unter seiner Brille hervor:

»Ist der Herr vielleicht der Herr Leutnant R.?«

Als dies bejaht wurde, glitt der Mann vom Tisch herab:

»Die Sache ist nämlich so. Der Herr Krasny hat immer verlangt, daß wir den Herrn Leutnant oder den Herrn Ober Fritz im Kaffeehaus verständigen. Ich bin auch zweimal bis auf den Margaretner Gürtel hinuntergelaufen. Zum nächsten Telephonautomaten. Aber der Herr weiß ja, wie das jetzt ist. Ich hab und hab keine Verbindung bekommen können. Das kann ich eidlich vor Gericht beschwören. Später hat er wollen, daß ich zum Herrn Leutnant in die Wohnung geh. Ich wär auch sicher gegangen, Herr Leutnant, wenn ich nicht grad an diesem Tag Arbeit bekommen hätt. Kann denn unsereins heut ein Geschäft auslassen? Ich hab doch schon genug Lauferei mit dem Krankenhaus gehabt ...«

Er setzte die Nadel wieder in Schwung. Ferdinand aber kleidete seinen Vorwurf, da ja nichts mehr zu machen war, in eine höfliche Form:

»Schade, daß Sie nicht gekommen sind!«

Auf der Straße dachte er: Eine Hundsgemeinheit! Er hätte den Weg zu mir machen müssen.

Sogleich aber zweifelte eine Gegenstimme leise:

Dieser Schneider ist ein armer, geplagter Mensch. Höchstwahrscheinlich ein Tuberkulotiker. Er wohnt am Ende der Welt. Der Weg hätte ihn einen halben Arbeitstag gekostet und überdies eine beträchtliche Überanstrengung seiner kranken Lunge. Und wer ist ihm Krasny? Ein Zimmerherr, ein Zimmerstörer, der die Miete schuldig bleibt und nur den einen Vorzug hat, bis auf ein paar Schlafstunden niemals zu Hause zu sein. Wenn man's genau berechnet, wäre dem Schneider die Menschlichkeit eines Weges in die Stadt weit höher zu stehn gekommen als einem Millionär die wohltätige Stiftung eines ganzen Hospitals. Was verlang ich von einem armen Schneider? Verdammt noch einmal!

Ferdinand vergrübelte sich in die grausame Unauflösbarkeit, die allem Menschlich-Moralischen anhaftet:

Werden verbesserte Zustände den Menschen bessern? Läuft nicht alles auf idiotische Schießereien vor den Gebäuden der Macht hinaus? Und selbst wenn die Zustände sich besserten, wird der Mensch nicht genau das gleiche faule und genußsüchtige Vieh bleiben, das sich von der andern Tierheit nur durch technische Mordtalente und eine überfütterte Eitelkeit unterscheidet? Ekelhafte Sackgassen überall! Mein Gott, warum ist Engländer nicht da, daß ich mit ihm reden könnte? Jetzt würde ich ihn besser verstehn. Was für ein kaltes Tier bin ich selbst! An dem Abend im Volksgarten war Krasny schon todkrank. Ich hab's gewußt und mich nichtswissend gemacht. Seine befehlshaberische Frechheit hat mich zu sehr geärgert. Da hab ich die Stimme des bucklichten Männleins überhört. Ekelhaft von mir! Zum Schluß hab ich mich auch noch gemein benommen ...

Im Allgemeinen Krankenhaus erfuhr Ferdinand, daß eine Grippe, verbunden mit schwerer Unterernährung, vorgestern nachts dem Leben Gottfried Krasnys ohne viel Mühe ein Ende gesetzt hatte.

Der Kanzleibeamte kramte das Blatt mit dem Befund hervor:

»Hier, bitte! Sind Sie ein Verwandter?«

»Nein«, und zögernd, »ich bin nur ein Freund.«

Der Kanzlist zeigte eine strafende Miene:

»Es ist wirklich höchste Zeit, daß sich jemand meldet. Wünschen Sie die Leiche zu sehn?«

Ohne auf Antwort zu warten, ergriff er seinen Hut.

Sie durchmaßen ein betäubendes Labyrinth von Treppen, Gängen und Höfen. Der Beamte schloß eine schwere Eisentür auf. Ferdinand sah in einen großen eisigkalten Keller hinein. Sein Fuß stockte unentschieden.

»Bitte nur weiterzugehn.«

Der Führer entschuldigte sich fast:

»Es ist jetzt ganz leer hier. Vor einer Stunde sind die verschiedenen Transporte abgegangen, ins anatomische Institut, auf den Zentralfriedhof und so weiter ...«

Auf einer Drahtpritsche lag ein nackter Menschenkörper, den das Laken nur sehr unvollkommen verhüllte. Es war dabei gar kein rechter Menschenkörper, sondern etwas Unaussprechbares, ein aufgeschossenes Kindergerippe, das von blaugesprenkeltem Leder überspannt war. Krasnys Gesicht hatte mit dem Leben keinen Frieden gemacht. Der zahnlose Mund stand schwarz und gierig offen. Der Bart sproßte aus den eingesunkenen Wangenhöhlen weiter, als kümmere ihn der Tod nicht. Die geschlossenen Augen bildeten nur zwei dunkle Flecke. Aber auch jetzt ließen sie noch nicht ab, zu fordern und zu befehlen. In der schrecklichen Hülse schien noch ein Rest der aufgereckten Energie zu flackern, die sich so schwer das keineswegs tägliche Brot durch Erniedrigungen und feindselige Bettelangriffe erworben hatte. Auffällig war es, daß von dem erfrorenen Fuß des Toten eine Marke mit einer Nummer herabhing und daß Ferdinands Uniformmantel neben ihm auf der Pritsche lag.

Der Beamte leierte formelhaft:

»Eine Hinterlassenschaft ist nicht vorhanden. Er besitzt nicht einmal ein Hemd, in dem man ihn bestatten kann. Eine diesbezügliche Inventaraufnahme erübrigt sich also.«

Ferdinand blieb stumm. Der andere wurde schon ungeduldig:

»Wir haben gewartet, bis sich jemand meldet ... Wünschen Sie ein Begräbnis? Ein Begräbnis dritter Klasse? Es ist das billigste, wenn Sie auf ein eigenes Grab Anspruch erheben.«

Ferdinand nickte bejahend, ohne zu wissen, daß er dies tue. Der Kanzlist bemerkte den Überrock auf der Pritsche:

»Halt! Hier ist noch ein Offiziersmantel, den der Verstorbene mitgebracht hat. Was soll damit gesehehn?«

Ferdinand machte ein Zeichen mit der Hand und deutete dadurch an, man möge den Toten in den Offiziersmantel kleiden. Die Vorstellung, daß der Mantel, den er so lange getragen, der also fast ein Teil seiner selbst war, mit Krasny unter der Erde vermodern werde, umklammerte ihm die Schläfen. Der Beamte trug in sein Notizbuch ein paar Zeilen ein und wiederholte:

»Ein Begräbnis dritter Klasse von der Aufbahrungshalle des Zentralfriedhofs aus, morgen den dreizehnten November um vier Uhr dreißig nachmittags.«

Er nannte eine Summe mit höflicher Entschiedenheit, als verkaufe er einem Kunden zu reellem Preise eine Ware, von der er keinen Gewinn habe.

»Bitte sehr«, hauchte Ferdinand, der nichts davon gehört hatte. Es war ja zu gräßlich. Wohl kannte er das Leben und den Tod. Dies aber überstieg all seine Erlebnisse in den Schützengräben und Spitälern. Der Leichnam begann schon in Verwesung überzugehn und strömte im stärksten Maße jenen Geruch aus, der nicht nur im einfachen Sinne abscheulich und grauenhaft ist, sondern in einem höheren Sinne, als der Geruch des Bösen, als der Geruch des großen Weltfluches unsern Geist martert.

Hier in dem riesigen Leichenkeller lag nur ein einziger, aber ein starker Toter.

Ohne zu rechnen, erklärte sich Ferdinand mit der Summe einverstanden. Nicht aus Güte willigte er ein, das Begräbnis zu zahlen, sondern aus der angstvoll würgenden Vorstellung, er werde von hier nicht loskommen, ehe er diesen Tribut entrichtet habe.

Krasny befahl: Herr Leutnant! Sie werden mir mein Grab bezahlen!

Oben in der Kanzlei gab Ferdinand nahezu seine ganze Barschaft hin. Siebenunddreißig Kronen blieben ihm übrig.


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