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Fünfzehntes Kapitel.
Schlafhüterin

Wie war es nur?

Im Bette rechter Hand neben ihm, da starb wohl der junge russische Offizier. Lange Zeit brauchte er zum Sterben, und obgleich Ferdinand mit seinem eigenen Tod genug zu tun hatte, versenkte er sich doch mit zähem Interesse in das Sterben des Russen. Dieser Tod war ein tiefgelber augenloser Fleck, der rasch und gewaltig atmete, als solle das Atemmaß eines lang und zukunftsreich gedachten Lebens nun in wenigen Tagen und Nächten ausgegeben werden. Andre kamen nach ihm. Mancher verschwand schnell. Mancher konnte nach Wochen in diesem Offizierszimmer wieder seine ersten Gehversuche machen. Ferdinand aber überdauerte sie alle. Auch in dem dritten Bette wechselten die Verwundeten eifrig, bis der arme Junge kam, dessen eiternd zerfetztes Bein sechs Wochen lang in der Schlinge hängen mußte und der jede Nacht trotz drei- und vierfacher Morphiuminjektionen durchjammerte. Als Ferdinand zur Schmerzempfindlichkeit erwacht war, wehrte er sich gegen Betäubungsmittel. Seine Schädelwunde half ihm über die Qualen der zerschmetterten Schulter und über den Hüftschuß hinweg. Der Kopf selber tat kaum weh. Aber der ganze Mensch lag auf dem Grunde eines tiefen Wassers. Er sah alles ziemlich genau, doch gebrochen durch ein kühles wohltätiges Element, das zwischen ihm und den Dingen flutete. Fremd war die Welt und so süß-unwichtig, aufgehoben die Grenze zwischen Innen und Außen. Das Leben war nichts als ein mächtiger Wandel von Bildern um und um, geschwind oder träge, wie es das Metronom des Blutes befahl. Dort stand ein Stuhl. Wer mit der Hand hingriff, konnte erkennen, daß dieser Stuhl leibhaftig war. Ferdinand aber rührte sich nicht. So war auch dieser Stuhl nur ein Bild wie alles andere. Bilder drangen in den Verwundeten ein, Bilder strömten aus ihm hinaus in den Raum. Der Mensch, die Seele war ein bildempfindlicher Punkt, nichts anderes, eine Zauberlinse, welche die Gespinste jahrtausendalter Erinnerungen an die Wand jenes Reiches warf, das sich Wirklichkeit nennt. Bilderwelt, leidlose Welt, todlose Welt! Ferdinand würde überlegen gelächelt haben, hätte jemand von ihm den Glauben gefordert, all diese Bilder seien nur Einbildungen und in der Welt nicht vorhandene Phantasien. Nicht vorhanden, was so farbenzart, was so in alle Einzelheiten ausgearbeitet an seinen Augen vorüberzog? Wer hatte zum Beispiel den Turm, der alltäglich wiederkehrte, bis in die feinsten Gesimse und Zierate modelliert? Er, Ferdinand, der nicht imstande war, einen einfachen Tisch abzuzeichnen? Diesen Turm gab es in keiner Stadt, die er kannte, nie hatte er die Abbildung einer ähnlichen Baulichkeit gesehen. Dennoch trat das Ding tagtäglich an sein Lager, halb gotisch, halb indisch, mit Wasserspeiern und Pagodenhauben, eine wunderbare Formvollkommenheit, von der ein weites und unerklärliches Wohlgefühl ausging. Er sah diesen Turm deutlich mit den starren Schlagschatten seiner kleinsten Vorsprünge und Kanten. Was er sah, mußte doch mit Augen gesehen sein, das Bild des Turmes mußte auf seiner Netzhaut liegen, und was auf seiner Netzhaut lag, mußte in der Welt wirklich bestehen, ob es das Auge von innen empfing oder von außen. (In seinem zerstörten Körper war das Bewußtsein zwar andersartig gefügt als im gesunden Leben, aber frei und umfassend genug.) Solche Überlegungen beschäftigten Ferdinand schon zu einer Zeit, da er noch keinen Laut von sich geben konnte und gefüttert werden mußte.

Aber nicht nur der Traum kehrte alltäglich bei ihm ein, er führte eine ganze Stadt mit sich, eine Stadt, die nirgendwo auf der Erde erbaut war, obgleich Ferdinand zugeben mußte, daß sie gewisse Winkel, Durchblicke und Ansichten seiner eigenen Heimatstadt entliehen hatte. Verfehlt wäre es, sie kurz und bündig eine Traumstadt zu nennen. Nichts hatten ihre überdeutlichen und scharfbelebten Straßen mit dem schlaffen, charakterlosen Wesen gewöhnlicher Träume zu tun. Da leuchteten klare Firmentafeln über den Kaufläden, und Ferdinand konnte die vielfältigen Namen gelassen entziffern, wenngleich sie weder in lateinischen, deutschen, griechischen noch sonstwie gebräuchlichen Lettern hingemalt waren. Man traf immer wieder und immer neue bekannte Unbekannte auf den Straßen, wurde von ihnen in die Häuser geführt, in Zimmer geladen, hörte seltsam-gastfreundliche Worte und fremd-vertraute Reden. Mit altmodischen Stellwagen fuhr man hinaus in dunkle tiefergreifende Parklandschaften ...

Von einem gewissen Zeitpunkt an stellte sich diese Stadt immer seltener in dem kleinen Offizierszimmer des Lemberger Kriegsspitals ein. Eine jüngere Schicht von Bildern, die dem Erwachen näher lag, schob sich vor, Kader und Krieg. Dann aber begannen Menschen der Umgebung bedeutsam emporzutauchen. Ärzte, Kameraden, Schwestern, die Oberschwester Beata. In Ferdinand, der sich noch immer kaum bewegen konnte, entstand jetzt eine heiter-ironische Beobachtungsfreude. Hundert kleine Dinge, die er früher gar nicht bemerkt hätte, nun amüsierten sie ihn. Gesichter, Gesten, Bärte, Worte, alles war so unverständlich komisch. Einer der Ärzte nannte die Oberschwester Beata immer »Erlaucht« und schlug dabei militärisch die Hacken zusammen. Hätte nur das Lachen nicht so weh getan! Übrigens war es immer ein aufwühlender Augenblick, wenn Beata ins Zimmer trat. Sie hatte eine schöne, aber laute Stimme und erkannte keinen Grund an, sie zu senken, als sei sie allein auf der Welt. Mit dieser Stimme modellierte sie gerne die Fremdwörter auf ungewöhnliche Weise. Sie sagte etwa: »Heute ist wieder eine Deschperation im ganzen Haus!« Wenn sie diesen Ausdruck »Deschperation« oder »deschperat« gebrauchte, empfand Ferdinand ein merkwürdiges Vergnügen.

Trat Beata in sein Zimmer – was mit zwei großen energischen Schritten geschah –, riß sie ein riesiges Loch in die abgestandene Atmosphäre und verbreitete einen angenehmen Wirbel von frischer Gebirgsluft, darein sich der leise Wohlgeruch blonden Haares und ein kaum vernehmliches Parfüm mischte. Ihr großer schwingender Schritt war das Schönste und Persönlichste an Beata. Er bestand losgelöst von ihr selbst; wie etwa die Statue einer Siegesgöttin in ihren winderfüllten, knatternden Gewändern nichts ist als Flug, so war Beata nichts als Schritt. Ferdinands schattenschweres Bewußtsein umhegte dieses Schreiten als eine Kostbarkeit. Mit Beata erging es ihm so. Als er ihre Gestalt zu der Zeit, da er sich wieder dem Leben näherte, das erstemal unterschied, glaubte er, sie sei jene wunderschöne Dame, in die er sich bei seinem Auszug ins Feld so unwirklich verliebt hatte. Von nun an verschmolzen Beata und jene Schöne in ein Wesen. Es gab für Ferdinand zwei Beaten: die Oberschwester, die mit lauter Stimme, weiträumigem Schritt und köstlichem Duft das Zimmer betrat, und ein wundersames inneres Bild, das sich aus der wirklichen Beata und aus jener geliebten Morgenerscheinung zusammensetzte. Zwischen diesen beiden Wesen entstand ein Strom, je nachdem sie einander sich annäherten oder entfernten. Dies war eine absonderliche Art von Liebe. Das Gehaben der wirklichen Beata erweckte in Ferdinand oft eine Scheu, manchmal auch Unzufriedenheit. Dann flüchtete der Schwerverwundete zu seiner Bild-Beata, die ihn nie enttäuschte.

In größter Sonnennähe stand Beata zu ihrem Idealbild, wenn sie manchmal am Abend erschien, sich an das Bett des Leutnants setzte, von irgendwelchen gleichgültigen Ereignissen berichtete, oder auch nur schweigend rastete. Ferdinands Augen ergingen sich in ihrem Gesicht wie Wanderer, welche die schöne Stunde einer Landschaft auskosten. Am weitesten aber entfernte sie sich, wenn sie in den sachlichen Ton des Pflegeberufs verfiel. Dann nannte sie die Krankheiten mit lateinischen Namen, urteilte mit ärztlicher Schärfe über Tod und Leben der Patienten und zeigte die frische Kälte eines Wintermorgens. Ferdinand mußte einige Operationen erdulden. Immer wieder wurden ihm Knochensplitter aus der Schulter entfernt. Er sah es ungern, daß Beata bei diesen Eingriffen assistierte. Das hilflose Daliegen, die Unreinlichkeit des Verbandes, das Eingeschläfertwerden, all das erfüllte ihn mit peinigender Scham. Er machte sich keine Gedanken darüber, warum ihn in Gegenwart anderer Operationsschwestern diese Scham nicht befalle.

Eine Zeitlang erschien Beata nicht nur am Abend in Ferdinands Zimmer, sondern saß auch tagsüber oft und lange an seinem Bett. Er genoß die spannungsvolle Nähe ihrer Schönheit. Leidenschaftlich versenkte er sich in das herrliche Leben dieses Antlitzes, dessen Sonnenaufgänge und Wolkenschatten er mit gespannten Fibern genoß. Nachher bekam der Kranke immer Schmerzen, als hätte er eine wilde Wagenfahrt hinter sich. An diesen Besuchen aber fiel ihm nichts auf. Konnte der arme Alumnatszögling und Hungerstudent sich denn das Wohlgefallen einer so wunderschönen Herrin zubilligen? In seinem eigenen Gefühl lag kein Begehren, sondern nur ein willen- und selbstloser Rausch, der nichts erhoffte und an sich selber genug hatte.

Eines Tages nach dem Verbandwechsel vermißte er etwas. Ihm fiel zuerst nicht ein, was es sei. Endlich erkundigte er sich, ob die Erkennungskapsel bei seinen Sachen liege. Man fand sie nicht. Vielleicht war sie ihm bei seiner Auffindung abgenommen worden. Mit unwidersprechlicher Bestimmtheit wußte er auf einmal: Barbara ist unterwegs. Barbara kommt noch heute. Auf dem Zettel stand ihr Name.

Gegen Mittag bekam er einen Rückfall und Fieber. Still lag er da, der Nähe Barbaras völlig gewiß. Eines der drei Betten stand an diesem Tage leer, da der Patient auf die interne Abteilung gebracht worden war. Auch der andere Nachbar, der schon ausgehen konnte, entfernte sich nach Tisch.

Um drei Uhr etwa öffnete sich die Tür:

»Besuch, Herr Leutnant«, rief Beata und machte das Fenster auf. Ihr Gesicht hatte einen gespannten Ausdruck. Ferdinand zuckte unter einem Schrecken zusammen, der ebensosehr der Freude entstammte wie der Angst vor ihr. Beata verließ das Zimmer mit einem lauten: »Bitte, nur einzutreten.«

Barbara suchte vor allem einen Platz, um das schwere, vielverschnürte Paket, mit dem sie sich schleppte, hinzustellen. Dann trat sie zum Bette. Sie sahen einander an. Sie gaben sich die Hand. Die Frau beugte ihr Gesicht zögernd herab. Ferdinand versuchte, sich aufzuheben. Sie kam ihm entgegen. Sie küßte mit trocken unbeweglichen Lippen seine Wangen. Dann sahen sie einander wieder mit ernsten Augen an. Eine zweite Schwester kam ziemlich polternd ins Zimmer und rückte einen Stuhl ans Bett. Barbara setzte sich umständlich. Beide hatten noch kein Wort gesprochen. Ferdinand schaute und schaute. Zu stark war das Leben für einen kranken Menschen. Man mußte vorsichtig sein und sich vor der eigenen Seele totstellen wie vor einem Feinde. Damit in der Stille etwas anderes verlaute als Fliegensurren, fing er zu sprechen an:

»Wann bist du gekommen, Babi?«

Barbara bewegte die Hände nicht, die ihr entfremdet im Schoß lagen. Sie saß steif und aufrecht da, wie arme Leute in einem offiziellen Raum sitzen, den sie nicht kennen. Dann öffnete auch sie den Mund, und Ferdinand hörte die Stimme seiner Kindheit:

»Ich bin heute mittag hier angekommen, junger Herr.«

»Und wie lange bist du unterwegs gewesen?«

»Drei Tage. Ja, drei Tage werden es gewesen sein ...«

»Drei Tage«, wiederholte Ferdinand und seufzte.

Barbara beeilte sich, sein vermeintliches Mitgefühl zu zerstreuen:

»Ach, diese Tage waren gar nicht schlimm. Zum Essen und Trinken war genug da und einen guten Platz im Coupé konnt ich auch bekommen. In der Nacht hab ich immer schlafen können. Und jetzt bin ich Gott sei Lob hier.«

Ferdinand schaute und schaute. Draußen ging das Nachmittagslicht auf wie eine Tulpe. Rotbrauner Schein ergoß sich über Barbaras Gesicht. War das möglich? Wie war das nur? Unverwandelt, ungealtert! Barbaras Gesicht wie zuletzt, wie immer, wie damals! Nicht anders als in der Zeit, da sie noch beieinander saßen. Als er sie vor sechs Jahren während der Seminarferien zum letztenmal besucht hatte, war sie ihm älter erschienen. Und heute hatte er sich so gefürchtet, eine veränderte Barbara wiederzusehn. Wie gut! Die Spannung im Zwerchfell ließ nach.

Barbaras Kopf kam näher:

»Wie hat man Ihn zugerichtet, junger Herr!«

Ihre Augen waren weit aufgerissen und tränenlos, als sähen sie jetzt erst die ganze Wahrheit. Ferdinand lachte mißbilligend:

»Das schaut viel ärger aus als es ist. Die Schulter eitert zwar noch. Aber in der Hüfte war's ein glatter, sehr angenehmer Durchschuß. Der Kopf freilich ... Du darfst dich nicht wundern, aber ich bin immer noch ein bissel dumm davon und müd ...«

»Dieser Krieg«, sagte sie, und der so lang bekämpfte Tränenausbruch zerriß ihre Züge. Sie wandte sich ab, damit sie den Kranken durch ihren Schmerz und ihre Empörung nicht störe. Als sie das Taschentuch versorgt hatte und wieder reden konnte, berichtete sie, daß Franta vermißt sei. Ferdinand tröstete sie. Franta werde in einem russischen Gefangenenlager stecken. Barbara machte eine kleine Handbewegung, um anzudeuten, wie wenig sie das Schicksal ihres Neffen in dieser Stunde bekümmere. Dann fuhr sie leise über Ferdinands Verbände hin. Dieses Streicheln fühlte er als eigentümlich wohlwollenden Schmerz bis ins Rückenmark dringen. Barbaras alte Macht über das Kind! Er atmete tief auf:

»Du brauchst dich nicht zu sorgen, Babi! Es hätte ganz anders kommen können. Wenn es mir wieder bessergeht, werde ich dir die ganze Geschichte erzählen. Steidler hat es sich anders gedacht. Du erinnerst dich doch an Steidler? Wie? Aber natürlich erinnerst du dich! Der lange Kadett! Komisch, jetzt ist er ein kurzer Hauptmann. Ich bin herrlich durchgerutscht. Er kann mir nichts mehr antun, weil er zu einer anderen Division nach Italien transferiert ist. Und mir geht es schon ganz gut. Ich werde nicht draufgehn. Das ist die Hauptsache.«

Seine schlaffen Finger fühlten die hornigen Hände der Frau:

»Wie geht's bei euch zu Hause?« fragte er.

»Man muß sich schon plagen, aber es geht. Besser als in der Stadt ist es am Land bei uns. Brotkarten, Fleischkarten, Fettkarten gibt es auch. Aber wir hungern nicht.«

Eilig sprang sie auf und begann ihr Paket zu öffnen. Nun lagen Würste, ein Selchkarree, ein großes Hausbrot und zwei Striezeln auf dem Tisch. Ferdinand sah diese fremden Dinge. So weit war er noch nicht, daß er nach ihnen Begier fühlen konnte. Sie hatten etwas Totes, Nachgemachtes für ihn. Er zwang sich aber einen befriedigten Laut ab. Barbara war erregt:

»Hoffentlich ist noch alles frisch. Ich hab schon einmal gebacken, vor drei Wochen, gleich als die Karte vom Militär ankam. Aber es ist nichts draus geworden, damals. So schnell geht das nicht. Ich hab in die Stadt fahren müssen. Eine große Lauferei war das, erst zu dem, dann zu jenem Kommando. Zwei Wochen lang haben sie mich auf den Erlaubnisschein warten lassen ...«

Unzufrieden schob sie die Gaben durcheinander und baute sie von neuem auf, wie einen Weihnachtstisch. Keine rechte Freude kam in ihr auf. Er hätte tot und begraben sein können. Der eiskalte Gedanke zerstörte ihr die Stunde. Mit großer Gewalt mußte sie immer neue Tränenwellen zurückdrängen. Wenn sie die Augen schloß, sah sie nicht den Verwundeten, sondern mit ungeheurer Lebensschärfe den kleinen Buben von einst, der sie hilfeflehend anblickte. Ferdinands Stimme war nun schon matt:

»Und wo bist du hier untergebracht?«

Erschrocken wehrte sie die Frage ab:

»Er muß sich darum nicht kümmern, junger Herr. Ich werde schon etwas finden. Eine hiesige Klosterfrau hat mich angesprochen ...«

Er ließ sich von ihr seine Brieftasche reichen, die unterm Kopfkissen lag. Das Geld aber, das er ihr anbot, nahm sie nicht. Sie tat einen Schwur, daß ihr nichts fehle, daß sie genug bei sich habe. Diese halbe Stunde hatte ihn so müde gemacht, daß er nicht Kraft genug besaß, den Kampf fortzuführen.

»Eine Klosterfrau?« fragte er. »Da bekommst du sicher gute Unterkunft ...«

Die letzten Worte vollendete er mit leisem Singen. Dann drangen wieder unabwendbare Bilder durchs Fenster. Er sah haargenau einen großen prachtvollen Park, den er nicht kannte. So müssen in Südamerika wohl die Gärten aussehen, fiel ihm ein. Warum gerade in Südamerika, konnte er nicht verstehen. Aber es war so. Er ging an Barbaras Hand unter fremdartig-stolzen Bäumen. Seine Wickelgemaschen lösten sich, kamen durcheinander und banden ihm die Füße wie Fesseln. Jetzt mußte er fallen. An Palmen rankte sich rotblühender Stacheldraht hoch. Um den Bilderdrang loszuwerden, rief er:

»Komm näher, Babi ...«

Sie saß nun ganz dicht am Bett. Seine Augen suchten:

»Das ist gescheit, daß du noch deine alte Brosche hast ...«

Wie ein sanftes Glück erfreute ihn das dunkle arme Ding, das eine winzige Schnitzerei umrandete. Schon waren seine Lider geschlossen. Er flüsterte noch: »Bleib!« Und dann schlief er ein, schlief seit Wochen das erstemal traum- und bildlos. Still saß Barbara bei ihm. Stundenlang hütete sie seinen Schlaf, bis man ihr sagte, sie müsse nun gehn.

In den nächsten Tagen kam sie immer schon am frühen Morgen. Niemand verwehrte es ihr. Selbst während der ärztlichen Visite durfte sie im Zimmer bleiben. Ärzte, Schwestern, Kameraden brachten der Beziehung Ferdinands zu der alten Frau, die ein Kopftuch statt eines Hutes trug, verlegene Hochachtung entgegen. Die Gespräche, die beide führten, waren nicht wortereicher und wichtiger als jenes in der Stunde des Wiedersehens. Eine eigenartige tiefe Schlafsucht hielt Ferdinand in Bann, die sich in Barbaras Gegenwart immer noch steigerte. Wenn die anderen Verwundeten Besuch von Frauen, Eltern, Freunden, Geliebten bekamen, so schwatzten sie zügellos und geizig den letzten Gesprächstropfen aus dem Gefäß der vergönnten Stunde aus. Ferdinand aber schlief, als müsse seine mißhandelte Natur Barbaras Anwesenheit ausnützen, um tiefen heilsamen Schlaf zu finden. Und auch sie, immer ein wenig über ihn gebeugt, saß starr. Unbeschreiblich müde war ihr Gesicht, aber voll endgültiger Zufriedenheit. Die Menschen ringsum verstanden das stumme Gehaben nicht. Aber Barbaras und Ferdinands Wesenheiten konnten sich unter dem Meeresspiegel des Wachseins leichter umschlingen und inniger ergehn.

Je lösbarer die Grundbeziehung von Menschen, um so gesprächiger ist sie. Am meisten hat Freund und Freund sich zu sagen; weniger schon Mann und Frau. Wie verschwiegen aber ist die Harmonie von Eltern und Kind. Weit verschwiegener noch war sie zwischen Barbara und Ferdinand, denn beide verstanden ihre Liebe nicht, die in der Welt kein Muster und keine Gültigkeit hatte.

Am letzten Tag vor ihrer Abreise, es war der siebente ihres Aufenthaltes in Lemberg, erwirkte Barbara die Erlaubnis, die Nacht an Ferdinands Bett verbringen zu dürfen. Sie sagte ihm nicht, daß ihre Gemeinschaft morgen zu Ende sei. Am Abend wartete er auf ihr Weggehen. Sie blieb. Da sagte auch er nichts, kämpfte aber gegen den Schlaf an. Bald jedoch erlag er. Barbara verharrte von elf Uhr nachts bis fünf Uhr früh unbeweglich, ohne seine Hand loszulassen. Dann schied sie, ehe er noch wach war.

So unglaubwürdig es auch klingen mag, niemand belästigte Ferdinand in der Zeit, die der Trennung folgte, mit Fragen nach dem alten mütterlichen Frauenbild, das sieben Tage lang so schweigsam seinen Schlaf gehütet hatte.

   

Nach drei Monaten etwa war Ferdinand soweit hergestellt, daß er am Stock in der Stadt spazierengehen konnte. Seine Verwunderung über das »unglaubliche Schwein«, das er gehabt hatte, wurde immer größer. Nichts rührte sich. Er war noch nicht verhaftet worden. Hatte Steidler die Sache wirklich vertuscht? Erst der Besuch Major Prechtls brachte einiges Licht. Ferdinands Regiment wurde nach dem Südwesten verschoben. Prechtl benutzte den Tag, den er in Lemberg zubrachte, um sich nach seinem Schützling umzusehn. Wohl lag eine Strafanzeige gegen Ferdinand vor. Die Angelegenheit stand aber nichtsdestoweniger günstig:

»Man hat bei mir Auskunft gefordert, und ich habe eine fulminante Beschreibung von dir geliefert. Drei volle Seiten Maschinschrift! Du hast dich zwar toll benommen, aber ich garantiere, daß dir nichts Besonderes geschehn wird. Vielleicht wird es zu einer Verhandlung kommen. Dann mußt du dich halt auf Sinnesverwirrung und Nervenzusammenbruch festlegen. Übrigens hast du Glück. Der offizielle Stimmungsumschwung durch die kaiserliche Amnestie kommt dir zu Hilfe. Die großen Tiere rasen zwar, aber sie können nichts tun. Erzähl mir nicht, daß es dir gutgeht, und mach keine Dummheiten! Ich hoffe, daß du für deine Person abgerüstet hast. Vor einem halben Jahr mindestens ist mit dir nichts los. Und dann? Wer weiß? No, ich hüte mich schon lang vor Prophezeiungen. Aber satt hab ich's auch bis daher ...«

Die Zeit kam heran, da Ferdinand das Spital verlassen sollte. Schwester Beata hatte ihm einen Platz in einem berühmten Sanatorium im Alpengebiet erwirkt. Es war nicht leicht gewesen, und sie mußte ihre Beziehungen in Anspruch nehmen, da ein kleiner Reserveleutnant ohne Namen, Geld, Protektion in glanzvollen Erholungsheimen selten Unterschlupf fand. Sie freute sich, daß der junge Mensch, an dessen Aufkommen sie sich kein geringes Verdienst beimaß, in heilkräftiger Ruhe und Umgebung überwintern werde. Wenn er an die nächste Zukunft dachte, hatte er keinen Grund, mit dem Leben unzufrieden zu sein.

Als Ferdinand einmal in den letzten Tagen seiner Spitalszeit durch eine novemberbraune Herbstallee vor sich hin spazierte, hielt ein Auto. Beata winkte ihn zu sich. Sie war jetzt nicht Krankenschwester, nicht Spitalsleiterin, die Zahlen, Medikamente, Diätzettel und die lateinischen Namen der Verwundungen im Kopf trug, sie war ein wildfremdes göttergleiches Wesen, dessen Chinchillamantel alle Staubgeborenen in die Schranken wies. Nichts hatte dieses Wesen mehr mit der schönen Alltagserscheinung in weißer Schürze, weißer Haube zu tun, an die man Worte, ja Scherze richten durfte und die über Leben und Tod verwundeter Männer kühle Fachurteile abgab. In ihrem Duftakkord überwog nicht mehr die frische Gebirgsluft, sondern der blonde Geruch und das Parfüm. Nach Ferdinands ganzer Lebensgeschichte ist es nicht zu verwundern, daß ihn der langgestreckte Wagen, dessen Coupé mit Astern geschmückt war, daß ihn die Hochgestalt der Herrin darin mit schüchterner Beklemmung erfüllte. Benommen drückte er sich in die Ecke. Der Chauffeur fuhr teilnahmslos in die matte Landschaft hinaus. Die Erscheinung machte Konversation. Ihr Dasein füllte glück- und furchtverbreitend den Raum aus. Liebenswürdig half sie dem kleinen Offizier über seine Nichtigkeit hinweg. Eine Frage zeigte, daß sich ihre Gedanken mit ihm beschäftigt hatten. Dann glitt die Unterhaltung wieder ins Gleichgültige zurück. Sie sprach von allen möglichen Dingen, nur nicht vom Krieg, vom Spital, von ihrer Schwesterntätigkeit, als wollte sie eine Atmosphäre schaffen, die von diesem trüben Gewölk frei wäre. Ferdinand konnte Beata weder mit jenem platonischen Bilde, das er in sich trug, noch mit ihr selbst mehr identifizieren. Als das Gespräch zu verebben drohte, fragte sie ohne Übergang:

»Sie werden also übermorgen schon abreisen, lieber Freund?«

»Ja, ich hoffe, daß alles Nötige in Ordnung ist.«

Der Wagen geriet in den Nebel. Beata klopfte an die Scheibe und machte dem Chauffeur ein Zeichen, in die Stadt zurückzukehren. Währenddessen meinte sie:

»Ich steck es jetzt auch auf.«

Ferdinand verstand nicht sofort. Sie verdeutlichte sich:

»Ich bin vom ersten Kriegstag an bei der freiwilligen Pflegerei. Jetzt hab ich mich genug geplagt. Keine der Damen, die ich kenne, hat es so lang ausgehalten. Schluß damit! Übermorgen verreisen Sie und am nächsten Tag liquidiere ich ...«

Sie ließ den Satz eine Weile offen und schloß dann:

»Daß Sie wieder krabbeln können, wird meine letzte Schwesternfreude gewesen sein.«

Ferdinand wendete sich zweifelnd zu ihr:

»Liegt Ihnen wirklich etwas daran, ob einer von uns am Leben bleibt oder draufgeht?«

Sie lehnte den Kopf zurück und schloß, ohne ihn anzusehn, die Lider halb:

»Warum fragen Sie so allgemein?«

Er gewann Mut:

»Ich glaube, daß Sie alles sehr leichtnehmen.«

»Und ich glaube, daß Sie ein furchtbar dummer Mensch sind und gar nichts merken.«

Das Knie der Unnahbaren berührte ihn. Sie zog ihn an sich. Der wachsende Kuß überflutete sein Bewußtsein.

Was kam, geschah mit schwereloser Selbstverständlichkeit. Es war dafür gesorgt, daß Spiel Spiel blieb, daß kein allzu gefährliches Gefühl erwachse. Eine Verzauberung ohne Gestern und Morgen! Die Herrscherin gab alles und vergab sich nichts. War es Zufall? Hatte sie diese Stunde mit Absicht gewählt, diese Spanne zwischen Tag und Abend, zwischen einem letzten Heut und Morgen, damit der Rausch keine andere Zukunft habe als die Trennung. Bildloser Nebel lagerte vor den Fenstern. Die Welt und der Krieg war fortgewischt. Mit Unrecht nahm man den kantigen Schmerz der Dinge ernst. Alle Räume wurden zu Schiffen, gewiegt auf einem Ozean der Leere. »Leidlos ist der Götter Leben.« Bei einem Klassiker mußte dieser Vers stehn. Es war ein wohlgelenktes, fehlerfreies Glück, dessen Seltenheit Ferdinand gar nicht bewußt werden konnte. Sein Rausch war voll dankbaren schwellenden Stolzes.

Zugleich aber hatte diese Stunde etwas zerstört. Das Liebesphantom einer verschollenen Morgenstunde kehrte nicht wieder.

Er sah sich jetzt in einem hohen Zimmer. Kaum wußte er, wie er hierhergekommen war. Die Doppelflügel eines alten Portals hatten sich geöffnet, das Auto war in der Einfahrt stehngeblieben. Diener rissen den Schlag auf ... Wer war Beata? War sie verheiratet, Mädchen, Witwe? Ein vollkommenes Märchen des Nebels, der sich jetzt draußen vor dem Hause tödlich der Nacht entgegenschwärzte. Zwischen Beata und ihm stand ein Teetisch. Auf der Glasplatte waren kalte Speisen aufgestellt, von denen er aß. Die Göttin trug einen phantastischen Schlafrock aus Brokatstoff. Ihre Augen verhehlten ein zärtliches Staunen nicht. Ferdinand sah den ungeheuer verwandelten Blick der Frau. Weggeschmolzen waren aus ihrem Wesen die letzten Härten der Krankenschwester, die kaltblütig viele Männer sterben gesehen hatte. Aber weggeschmolzen war auch die Überlegenheit der Dame, die aus dem Auto den kleinen Leutnant zu sich heranwinkt. Sie hatte geruht, dem Spiel einer leichten Neigung nachzugeben. Doch indem es schwebend vorbeiging, hatte es sie verändert und erneuert. Aus der schon fast vollendeten Dämmerung sah sie der Mann in ihrem Brokat leuchten wie ein goldenes Gebilde. Ihre nackten Arme waren zu einer leeren Umarmung gerundet, als ob sie nun doch zurückhalten wollten, was der Geist ihnen versagte.

»Hör einmal« – eine kleine Pause entstand, als ob sie sich nicht leicht zu dieser tiefgründigen Frage entschließe – »du hast eine sehr gute Mutter. Es war doch deine Frau Mutter?«

»Ja, ich hab eine sehr gute Mutter«, sprach er ihr nach und bemühte sich, ohne des Gesagten vollbewußt zu sein, Barbara in die Verzauberung dieses Raumes und dieser Minute herbeizulocken. Barbara aber schien sich zu genieren und wollte, trotz des Anrufs ihres Pflegesohnes, in das fremde glänzende Zimmer nicht treten.

Beatas langes Schweigen bedeutete: Wie kommt dieser feingliedrige wunderbare Junge mit seinem unglaublichen Takt und seiner exzellenten Haltung dazu, das Kind einer Bäuerin oder Aufwartefrau zu sein?

»Mit meiner Mutter ist das merkwürdig ...« begann Ferdinand, sprach aber nicht weiter. Wie hätte er dieser herrlichen Fremden so Schwieriges erklären können? Er konnte ja sich selber nicht erklären, was er Barbara war und Barbara ihm.


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