Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel.
Feldwache Ferdinandowka III

Die vorgeschobene Feldwache Ferdinandowka III war ein berüchtigter Überrest der schweren Kämpfe, die hier in dieser Gegend mit wechselndem Erfolg bis zur großen Brussilowschen Offensive stattgefunden hatten. Während des langfristigen Stellungskrieges, der dem letzten Angriffsversuch Rußlands unter Kerenskis Führung voranging, stand sie so gut wie außer Gebrauch. Sie war nichts anderes als ein nicht ausgebauter, verfallener und stinkender Graben mit einer längst zerstörten rohrgeflochtenen Brustwehr und umgeben von dem unabsehbar dichten Kranz der Granatlöcher und Minensprengungen, dieser tanzenden Fußstapfen der Kriegs- und Todesdämonen. Etwa dreihundert Meter von den russischen und ebensoweit von den eigenen Stellungen entfernt, bildete sie das Lieblingsziel und einen hervorragenden Richtpunkt für Artillerie jeglicher Gattung. Wenn sich in dem Graben etwas bewegte, sei es auch nur ein Wiesel oder ein Marder, so konnte man gewiß sein, daß im nächsten Augenblick zumindest die Maschinengewehre drauflos tackten. Dieses von überall eingesehene Loch schien die primitive Schützenleidenschaft aufzureizen, als wäre es eine Schießscheibe auf dem Jahrmarkt. Nachdem die österreichische Gefechtsleitung eingesehn hatte, daß der taktische Punkt nicht den Wert besitze, um ihm alles Leben zu opfern, das man hineinwarf, besetzte sie die Feldwache nicht mehr. Daraufhin nahmen die Russen den verdammenswerten Ort in Besitz, um dort die gleichen Erfahrungen zu machen wie die unsrigen. Das Ende war, daß die vorgeschobene Feldwache Ferdinandowka III stillschweigend zu einer neutralen Stellung emporrückte. Dies änderte sich in der Zeit, als innerhalb der österreichischen Armee der Abfall zu einer ernsthaften Frage erwuchs. Nun benutzten einige Kommandanten den schrecklichen Graben als eine Art Strafkolonie, von der es keine Rückkehr gab. Darüber wurde natürlich nicht viel geredet, und es gab in dem Abschnitt Leute genug, die davon überhaupt nichts wußten. Der Laie nimmt oft an, der Stellungskrieg, und im Osten zumal, sei ein höchst unblutiger und gemütlicher Betrieb gewesen. Er vergißt, daß die Munitionsindustrie ein Recht darauf hatte, daß die von ihr hervorgebrachten Güter konsumiert wurden. Fanden auch keine Vorstöße und Sturmangriffe statt, so wechselten die Gegner doch unermüdlich Geschosse aus, in den Linien knatterte es immerfort, und kein Tag verging ohne Verluste.

Wie es in jedem Saal sogenannte akustische Punkte gibt, in denen sich alle Schallwellen und ihr Echo schneiden, so gab es an der Front Brennpunkte, in denen sich auch an stillen Tagen die tödlichen Flugbahnen konzentrierten. Ein solcher Punkt war Ferdinandowka III. Hier bildeten die Linien der Zbirow-Front einen gefährlichen Zwickel. Wenn sich in dieser kleinen Hölle eine Gestalt bewegte, meinten die Russen, ein Angriff sei geplant, und warfen ihr Feuer auf den Raum. Machte aber, wie es mehrmals geschah, die Todesbesatzung den Versuch, zum Feinde überzulaufen, so wurde sie von den Maschinengewehren der bosnischen Kompagnien niedergemäht, die sie bewachten. Aber auch wenn sie diesen Versuch nicht wagte, hatte die eigene Artillerie keinen kleineren Anteil an ihrem Untergang als die feindliche, denn der Teufel wollte es, daß die österreichischen Feldkanonen und Feldhaubitzen hier fast immer zu kurz schossen. Aus all diesen Gründen führte der angenehme Platz im Volksmund den ebenso ungelenken wie ehrfurchtsvollen Titel: »Gasthaus zur Nachmusterungskommission«, wobei der ungenannte Tod die Rolle des tauglichbefindenden Militärarztes spielte. Als aber mit den neuen Geheimverfügungen des Armeeoberkommandos eine direkte Abfertigung staatsfeindlicher Elemente in Schwung kam, geriet die Feldwache außer Gebrauch und lebte nur mehr als gespensterumwobene Sage im Gedächtnis der Truppen und als witzige Drohung an den Tischen der Offiziersmessen.

Es waren schon viele Monate vergangen, seitdem Ferdinandowka III zum letztenmal einige Menschenleben verschluckt hatte. Inzwischen erklomm die Unabhängigkeit der Militärjustiz ihren Gipfel. In Uniformen verkleidete Richter verhängten im Hinterland Zuchthausstrafen, »konfinierten«, »internierten«, »persequierten«, ohne die geringste Müdigkeit vorzuschützen. Forderte die kriegerische Obrigkeit einen Justizmord, und wann forderte sie ihn nicht, waren ihr diese fluchwürdigen Rechtshuren und schlotternden Gesetzes-Spießer zu Willen, die durch die Angst, an die Front zu müssen, gebändigt wurden. An der Front selbst konfinierte, internierte, persequierte man nicht, sondern machte mit Schuldigen und Unschuldigen kurzen Prozeß. In der Hand der Steidlers wurden gewisse Verfügungen zu schrecklichen Waffen, die sich gegen persönliche Feinde kehrten. Wieviel grauenvolle Tragödien mögen in der Aktenmakulatur des Krieges modern. Ferdinand hatte nicht ganz richtig geraten, als er annahm, Steidler werde, da er selber zu viel Butter auf dem Kopf habe, keine Anzeige wagen. Ein Aufsehen erregender antimilitaristischer Vorfall ließ sich nicht glatt vertuschen. Was aber wollte er mit seiner Versetzung an den Abschnitt Sarcic? Ihn töten! Das konnte nicht bezweifelt werden. Ferdinand wußte nichts von Ferdinandowka III. Er gehörte ja einem anderen Frontteil zu, dem Abschnitt Josefowka, der unter dem Kommando Major Prechtls stand. Zwei Offiziere, Busenfreunde Steidlers, zwischen denen er eingeklemmt saß, eskortierten ihn. Unruhig grübelte er über diese Gefangenschaft. Sein Tod trug eine undurchdringliche Maske. Eines nur war klar. Die Russen bereiteten einen neuen Angriff vor, nachdem ihr erster Stoß vor einigen Tagen fast überall aufgefangen worden war. Seit Wochen wurden auf den feindlichen Zufahrtsstraßen zahlreiche Munitionskolonnen gemeldet. Bei den österreichischen Kommanden herrschte große Aufregung, denn die drohende Offensive des riesigen und erneuerten Reiches wollte, so sagte man, noch gewaltigere Kräfte ins Treffen schicken als am Anfang des Krieges; es ging ja um das Schicksal des befreiten Rußlands. In dem Brief, den Steidler seinem Liebling Jozsi in die Maschine diktiert hatte, war die Rede davon gewesen, daß es heute oder morgen etwas zu erwarten gebe. Ferdinand schloß richtig, daß er selbst auf einen »todsicheren« Punkt gestellt werden solle und daß darin der Zweck seiner neuen Kommandierung liege. Major Prechtl?? Wenig Aussicht, daß von ihm Hilfe käme! Er hatte heute morgen ein schweres Verbrechen begangen. Was auch geschehen würde, er mußte schweigen.

»Leutnant Ferdinand R. hat sich unverzüglich zum Abschnittskommando Ferdinandowka zu begeben und sich dortselbst bei Herrn Oberstleutnant Sarcic zu melden.«

Ferdinand las während der Fahrt noch einige Male Wort für Wort diesen Dienstzettel. Der Richtspruch über ihn war in dürre und gewöhnliche Worte gekleidet, deren tiefere Absicht er selber nicht erfaßte. Wie zwischen Gott und dem von ihm gelenkten Schicksal das Naturgesetz, so steht zwischen den militärischen Göttern und den militärischen Kreaturen der »Dienstweg«. Ferdinand hatte etwas Ungeheuerliches getan, er hatte das militärische Naturgesetz durchbrochen und damit aufgehoben. Die Antwort war etwas durchaus Regelmäßiges und Unauffälliges: eine Zuteilung zum Abschnitt Ferdinandowka, weiter nichts.

Nach einer halbstündigen schweigsamen Wagenfahrt war man an Ort und Stelle. Fürsorglicherweise hatten die Offiziere Ferdinands Verpflegsdokumente mitgebracht, die der Kanzlei übergeben wurden. Oberstleutnant Sarcic nahm die Meldung des Einrückenden geschäftsmäßig entgegen, als läge nichts anderes vor als ein alltäglicher Personalzuwachs. Das verschlossene Dienststück, das ihm einer der Herren von der Division überreichte, steckte er ungelesen in die Tasche. Der Oberstleutnant, ein älterer Herr schon, gehörte zu jener k. u. k. Mischrasse, an deren Gesicht und Sprechart alle Völker der Monarchie teilzuhaben schienen. Angesichts solcher Figuren pflegte man in alter Zeit zu sagen: »An der Militärgrenze geboren.« Mit dieser Bezeichnung war ein südungarischer Landstrich gemeint, der ehedem auf Befehl von Josef II. von kaiserlichen Truppen, Invaliden und Ausgedienten besiedelt und kolonisiert worden war. Sarcic trug einen rotgrauen Schnauzbart, der wie angeklebt unter der Nase schaukelte. Seine starren Augen von angestrengtem Stahlblau drückten Kümmernis und Grausamkeit gleicherweise aus. Diese Augen paßten ausgezeichnet zu den beiden Lieblingswendungen des Oberstleutnants: »Ich werde Sie dafür verantwortlich machen« und »Ich muß mich doch decken«.

Auf diesen Mann schien Steidler einen unermeßlichen Einfluß auszuüben. Dies zeigte sich sofort. Denn kaum hatte Ferdinand seinen Meldespruch hergesagt, als das Tischtelephon schnarrte:

»Divisionskommando persönlich«, zischte der Adjutant und reichte Sarcic die Muschel. Dieser begann auf der Glatze zu schwitzen und begleitete seine Antworten mit kurzen, aber ehrfürchtigen Verbeugungen:

»Respekt, lieber Freund ... Jawohl, ich selber, Sarcic ... Eben anwesend ... Alles eingeleitet ... Geschieht nach Befehl ... Wird besetzt ... Jawohl, alle, die wir haben ... fünfzehn Mann ... Werde ihre Vormerkblätter an die Division senden. Besondere Anzeichen? ... Habe alles melden lassen ... Sehr starke Bewegung auf den russischen Zufahrtsstraßen ... Artillerieaufklärer melden zehn neue Batterien ... Wir haben wieder Gespräche abgehorcht ... Jawohl, Bosniaken und drei deutsche Kompagnien zwischen den Pilsnern im Dreier- und Fünfergraben ... Alles durchgeführt ... Nein, nein, du kannst dich drauf verlassen ... Wir sind gedeckt ... Dort zahlen sie drauf ... Dank dir, lieber Freund ... Meine Verehrung ...«

Als er den Hörer hinlegte, überkam den Alten unverhüllte Verlegenheit, daß er, der Oberstleutnant, in Gegenwart fremder Offiziere mit einem Rangsniedrigeren, mit einem jungen Laffen von Hauptmann, dieses fast kriecherische Gespräch geführt habe. Er hatte offenbar einige Dinge auf dem Gewissen, die ihn der Macht Steidlers rettungslos auslieferten. Um den Eindruck des windelweichen Gespräches zu verwischen, stellte er sich unvermittelt an die Karte und begann, den Herren von der Division mit strenger Überlegenheit den taktischen Plan der für morgen angesetzten Unternehmung zu erläutern.

Der erste Angriff Kerenskis hatte die österreichische Front an einer schmalen Stelle um einen Kilometer etwa eingebuchtet. Der zurückgebogene Teil grenzte im Westen an den Abschnitt Sarcic. Es war klar, daß der Gegenstoß in Form eines kombinierten Frontal- und Flankenüberfalls erfolgen mußte:

»Eine klassische Zange«, rief der Oberstleutnant selbstzufrieden aus, der wie alle ungebildeten Leute gerne wissenschaftliche Bezeichnungen anwandte. Die Unternehmung aber verfolgte nicht nur den Zweck, die ursprüngliche Linie wiederherzustellen, sondern sollte zugleich dem russischen Angriff zuvorkommen, dessen Anzeichen sich von Stunde zu Stunde deutlicher bemerkbar machten. Einer der Herren verwies darauf, daß die drei reichsdeutschen Kompagnien, die seit gestern im Reserveraum lägen, erst auf Befehl der Division einzusetzen seien, worüber sich ein längeres Kompetenzgespräch entspann. Niemand kümmerte sich um Ferdinand, der sich sehr weit von der diskutierenden Gruppe zurückgezogen hatte. Als aber die Rede auf die Zuverlässigkeit der Truppen kam und Sarcic sich rühmte, daß in seinem Abschnitt die tschechische Mannschaft mit ihren bosnischen und deutschböhmischen Kameraden an Patriotismus wetteifere und daß man bei ihm kaum fünfzehn Leute mit P. U.-Vermerk zustande bringen könne, da wandte sich der Oberleutnant nach Ferdinand um, worauf die Unterhaltung sofort verstummte. Ferdinand empfand es wie einen scharfen Hieb. Warum hatte man ihn nicht heute früh gefesselt und abgeführt, wie das Gesetz es vorschrieb? So aber wurde er mißverstanden und konnte sich nicht verteidigen.

Sarcic und die beiden Herren verließen die Kanzlei, ohne ihm die Hand zu reichen. Er wurde nicht aufgefordert, an der Offizierstafel des Abschnittskommandos zu speisen. Der Adjutant setzte ihm in trockenen Worten auseinander, daß er bei Anbruch der Dunkelheit die vorgeschobene Feldwache Ferdinandowka III zu beziehen habe. Telephonverbindung sei während des Gefechtstages unbedingt aufrechtzuerhalten. Zweck: Beobachtung der feindlichen Bewegungen und des eigenen Feuererfolges. Die Sache hatte einen Namen. Mit sarkastischen Mundwinkeln händigte der junge Mann dem Todeskandidaten eine Stellungskarte und ein Beobachterstativ ein. Vielleicht wollte er sagen: Überflüssige Komödie! Er schloß seine Instruktion:

»Die ausgewählte Mannschaft der Feldwache wird um vier Uhr nachmittags stellig gemacht. Sie ist an Hand der Liste namentlich zu kontrollieren. Die Abmarschmeldung nehme ich entgegen.«

Im Augenblick, als Ferdinand die Kanzlei verlassen wollte, trat Wellemin ein. Auch er war Leutnant, hatte es aber verstanden, bei irgendeinem Depotkommando im Divisionsbereich einen angenehmen Ruheposten zu ergattern. Froh, einem bekannten Gesichte zu begegnen, begrüßte ihn Ferdinand herzlich. Wellemins dickliches Sommersprossengesicht wurde rot, er wand sich in Verlegenheit und suchte mit einer raschen Ausrede an dem alten Kameraden vorbeizukommen. Aha, auch Wellemin wußte alles. Steidler also sorgte nicht dafür, daß der Vorfall vertuscht wurde. Das deutete daraufhin, daß er wohl gleichzeitig mit der Frontkommandierung Ferdinands die Strafanzeige gegen ihn erlassen hatte, in der Hoffnung, daß der Tod des Angeklagten den Fall sogleich niederschlagen werde.

Fünfzehn Mann waren es. Die Namen behielt Ferdinand nicht. Und die Gesichter? Während er sie musterte, schienen sie sich aufzulösen. Das milchige Licht dieses Tages verwischte sie, bis auf die beiden Grenzfälle, den Jungen und den Alten. Der Alte hob sich von der wesenlosen Reihe erst ab, als er seinen Helm lüftete. Ferdinand sah einen weißen, seidenweichen Kopf, zärtlich gescheitelt. Darunter ein sehr bedächtiges Antlitz, das mit angespannten Linien höflich, aber verständnislos dem Schicksal lauschte. Irgendein Professor vielleicht, ein straffälliger Idealist und Kriegsgegner sicherlich. Ferdinands frontgeübtes Auge erkannte sofort den Neuling. Vor ein paar Wochen war der Jahrgang der Fünfzigjährigen einberufen und in der Küche der Kader für den Felddienst halb gar gesotten worden. Die Montur entsprach genau der gleichen Fürsorge. Das Tuch war dem Anschein nach aus Brennesselfasern gewoben. Ferdinand ließ sich den Namen zweimal wiederholen: Blinda, Anton Blinda! Zivilverhältnis: Mittelschullehrer, Latein, Griechisch. Der Leutnant nahm sich vor, diesen Mann bei der ersten Gelegenheit mit einer Meldung zurückzusenden. Der Junge hieß Iffinger. Ferdinands Gedächtnis bringt Iffingers Erscheinung mit jener Teinfalts, des Geretteten, oft durcheinander, obgleich Teinfalt in seiner Angst sinnlos plapperte und Iffinger nicht den Mund auftat. Dennoch zeigte auch er die stramme Zusammengerissenheit, jenes Übermaß an Diensteifer, das nichts anderes war als der kindlich-bettelhafte Versuch, den Tod zu bestechen. Welche Freveltat hatte dieser Knabe auf dem Gewissen, daß man ihn zu Ferdinandowka III verdammte? Ach, der Haß, die Auffälligkeit irgendeines dienstführenden Unteroffiziers war Ursache der Verdammung genug.

Im sommerlichen Sonnenuntergang zog Ferdinand mit seiner kleinen Schar die Straße dahin, die sich bald in dem Grabennetz verzweigte. Die Abteilung marschierte nicht, kein Tritt wurde gehalten, jeder einzelne stapfte in sich verloren vorwärts. Keiner sprach mit dem andern. Die Leute kannten einander nicht. Vor einigen Stunden erst hatte man sie aus den Unterständen herausgekratzt und ihnen vorgelesen, sie hätten dann und dann beim Abschnittskommando gestellt zu sein. Befehl der Division! Die Feldwache III sei heute abend noch zu besetzen. Gerechterweise belastete Oberstleutnant Sarcic mit diesem Befehl sämtliche Truppeneinheiten, die ihm unterstellt waren. Mancher Kompagnieführer oder Feldwebel ergriff schnell die Gelegenheit, einer besonderen Antipathie Genüge zu tun. So kam es nun, daß ein alter Mann, sein geistiges Haupt tief gesenkt, mit stolpernden Schritten dahintrottete wie ein unmöglicher Träumer.

Hätte der müde Ferdinand auf diesem Wege zu denken vermocht, es wäre ihm gewiß nicht entgangen, daß er durch seine Befreiungstat drei Menschen vielleicht vom Tode errettet hatte, zugleich aber fünfzehn Menschen zweifellos mit sich in den Tod riß. Ohne den Vorfall von heute morgen hätte die Division keinesfalls die Besetzung von Ferdinandowka III angeordnet. Unbesieglicher Zwang und verzwicktes Geheimnis des Krieges! Ferdinand aber dachte nicht, er dachte zumindest an nichts Fernes. Und wie fern lag der Morgen des heutigen Tages schon.

Seine Aufmerksamkeit war von Art und Ausbau des Grabensystems völlig gefangen, als wäre er ein Schlachtenbummler, der an einem ruhigen Abend sich an der Front herumtreibt. Am Eingang der Reservestellung wurde der Trupp von einem Korporal empfangen, der zum Führer bestellt war. In den Wochen, da Ferdinand auf Retablierung gewesen, schien sich alles verändert und verbessert zu haben. Hier erinnerte nichts mehr an die Gräben, die man im Feuer der Artillerie und Maschinengewehre mit dem Infanteriespaten ausgehoben und später erst vertieft und verzimmert hatte. Dies waren geräumige Gassen und regelrechte Wohnungen. Erde trat kaum mehr hervor. Der Boden war gestampft oder mit Laufbrettern belegt. Dichte Betonwände und Wölbungen schützten die Unterstände. Reihenweise standen die Schlafpritschen darinnen. Die Holzbretter über dem Kopfende trugen im ordnungsmäßigen Bau die Habseligkeiten des Mannes wie in der Kaserne. Ausschnitte aus illustrierten Zeitungen klebten überall. Man konnte es kaum glauben, daß morgen schon diese feste Stadt vielleicht zerstört sein werde. Die tiefliegenden Keller und bombensicheren Kasernen schienen vor einem Weltuntergang Schutz zu bieten. Je näher die Gräben dem Feinde lagen, um so fester und prächtiger sahen sie aus.

Es herrschte, wie es in den amtlichen Berichten hieß, »eine erhöhte Artillerietätigkeit«. Die Batterien beschossen einander gegenseitig. Jedermann erkannte das böse Vorzeichen. Manch eine Granate landete vor oder hinter der Grabenzeile; die Balken und Mauern der unterirdischen Stadt zuckten dann jedesmal nervös auf. Die Bewohner dieser Stadt aber blieben gleichgültig, sie verrichteten ihr wimmelndes Tagewerk; liefen hin und her, lösten sich bei den Schützenständen ab, brachten in den Laufgräben die Menagekessel vor, verteilten Brot, Tee, Marmelade, Zigaretten, spielten Karten, klampften, sangen oder schliefen, und zündeten, da es langsam dunkel wurde, in den Unterstandskammern die grellgemeine und stinkende Flamme des Karbidlichtes an. Des Kriegsdonners zu ihren Häupten achteten sie kaum. Mitten in einer Gruppe stand eine Charge, die etwas aus einer schmierigen Zeitung vorlas. Es hatte den Anschein, als ginge diesen Leuten der Bericht über ihre Erlebnisse näher als diese Erlebnisse selbst. Die Wirklichkeit hatte hier keine volle Wirklichkeit. Niemand dachte daran, daß ein Volltreffer jederzeit diese gar hübsche und geregelte Sicherheit zerstören könne.

Ferdinand war von der Wehmut eines Mannes erfüllt, der wider Willen den festen Boden seines Heimatkontinents verlassen muß, um ein unbekanntes Element zu befahren. Ach, nur hier in diesem Graben bleiben dürfen, eingefriedet von der Herdenwärme der Unzähligen!

Aber schon öffnete der Korporal eine Lattentür:

»Immer nur gradaus, Herr Leutnant ...«

Ferdinands Stimme wandte sich dienstlich-sachlich an die Leute mit der Telephonspule:

»Also los! Legen Sie jetzt die Leitung!«

Ausgestoßen! Aus dem Tor des Lebens geschmissen! Dieses Bewußtsein steigerte sich von Schritt zu Schritt. Solange der Gang noch, tief in die Erde eingeschnitten, die Köpfe überragte, war es nicht so grimmig, dieses Gefühl. Aber immer höher stieg der Weg an. Jetzt standen die Schultern schon frei über dem Erdrand. Beim Feinde drüben, schreckhaft nahe, wogte das Feuerwerk der grün-rot-blauen Leuchtkugeln und der langsam niedertanzenden Schirmraketen. Sommerabend, Kindheit, Ferdinands Geburtstag, Kaisers Geburtstag, Festnacht! Plötzlich stockte der Zug. Eine Strecke von hundert Metern lang war der Laufgraben durch Einschläge und Erdaufwürfe verschüttet. In Ferdinand regte sich der Offizier:

»Decken! Vorwärtskriechen!«

Iffinger und der alte Blinda kamen gewiß das erstemal ins Feuer. Ferdinand wartete, bis sich alle herausgearbeitet hatten, und schob dann als letzter, tief geduckt, an dem Drahthindernis entlang, das seitlich des Grabens lief. Das majestätische Herabsinken einer besonders großen Schweberakete zog lange Schatten aus den Gestalten der Schleichenden. Ferdinand fühlte deutlich in allen Knochen, wie das grausame Licht den übermäßigen Schatten aus seinen Gliedern sog. Und schon plätterte rechter Hand ein Strich Maschinengewehrfeuer auf, wie ein Rebhuhnflug aus dem Saatfeld emporknattert. Die Zwickmühle, die Zange, zwischen deren Kiefern sie krochen! Es war klar, sie bekamen von rechts eigenes Feuer. Bei den Russen antworteten dicht aufkeifende Gewehrschüsse gleich einem wüsten Streit, der sich nachts vor einer Schenke erhebt. Zu hoch! Giftig surrte es über den Köpfen. Dies alles war ein Hauch, ein Kinderspiel, wenn man im Graben stand als ein nichtiger Teil der Bataillone, die sich rechts und links ins Unabsehbare dehnten. Verwundet werden, getötet werden, bei einer Vorrückung, während des Angriffs, aber immer innerhalb der Ordnung, ja, das war wirklich ein Nichts, ein Kinderspiel. Doch hier vor abgeriegelten Toren, zum Feinde nicht gehörig und nicht zum Freunde?! Vielleicht dachte der eine oder der andere in dieser kleinen Schar ans Überlaufen. Aber wie? Sie hatten keine Hindernisscheren mitbekommen, und die Seitengewehre waren stumpf. Endlos wucherte dort vorne der Stachelwuchs von Drahtgestrüpp, der, wie es hieß, stellenweise mit Starkstrom geladen war. Bataillons- und kompagnieweise kann man in der Verwirrung eines Angriffs zum Feinde übergehn. Aber vier oder fünf einsame Soldaten, die nicht einmal über den Stacheldraht hinwegkommen können?

Langsam durchschnitt die Lichtklinge eines Scheinwerfers die huschenden Leiber. Sofort schnatterte das eigene Maschinengewehr und ein feindliches schloß sich seinem Zornesschwall an. Zugleich hieben zwei nahe Granaten Flammen und Erdstrahlen aus dem Gelände. Ein Sprengstück schlug jemandem die Eßschale vom Rucksack. Ferdinand wartete. Niemand gab einen Laut von sich, also war nichts geschehn.

Die Feldwache selbst, ein verdreckter Graben, von geringer ungleichmäßiger Tiefe, von Volltreffern fast unkenntlich gemacht, von den Granattrichtern rings kaum zu unterscheiden! Nun saßen sie alle darin und vermieden es, sich zu bewegen. Am absonderlichsten aber war das Schweigen dieser Menschen, das Ferdinand mitschwieg. Er wollte den Versuch machen, die Starrnis dieses Schweigens zu durchbrechen, aber nur ein gestaltlos heiseres Räuspern entstieg seinem Hals, das er verlegen in einen kurzen Husten verwandelte. Er hatte das Gefühl, den Mund dick voll Erde zu haben, den Leichen gleich, die man rasch verscharrt hat. In der Nähe mußten gewiß noch Tote vom letzten Angriff liegen, die man nicht einmal verscharrt hatte. Oder war es nur dieser einzigartige und später nie wieder vorstellbare Geruch, der überall auf dem ermordeten Erdstrich zwischen den Schützengräben lag, dieser wolkige Verwesungsgestank, der sich mit dem Geruch verbrannter Haare und verpuffter Sprengstoffe immer so eigen mischte?

Nichts aber war folternder als das Schweigen der Männer. Konnte man ihnen nicht befehlen, Karten zu spielen, wie es sich für Soldaten ziemt? Der Alte saß barhaupt im aufgeweichten Kot des Grabens. Sein weißes Haar leuchtete. Der Ausdruck »zielbildend« drängte sich Ferdinand beim Anblick dieses schimmernden Kopfes auf. Wieder wollte er versuchen, ein Wort zu finden. Aber vergebens! Auch in seiner Kehle stak das tödliche Schweigen, ein festgerammter Pfahl.

Später begannen einige zu essen. Sie kramten ihre Wecken aus dem Rucksack und schlugen das Messer in die Konservenbüchsen. Dabei gingen ein paar lahme Worte hin und her. Auch Ferdinand verspürte einen aufzuckenden Hunger. Gestern und heute hatte er sehr wenig genossen. Er sah sich nach seinem Rucksack um und erschrak. Seine Sachen waren in der Abschnittskanzlei zurückgeblieben. An Josef gewöhnt, hatte er verlernt, für sein Gepäck zu sorgen. Iffinger mußte die verlangende Bewegung des Leutnants bemerkt haben. Die Augen dieses jungen Burschen ließen Ferdinand nicht los. Was erhoffte er von dem Mitverdammten? Schutz? Einen Meldegang in die Stellung zurück? Dieser Meldegang wäre bei hellem Tageslicht sicherer Tod. Denn man mußte ja hundert Meter freien Geländes durchqueren, dort wo der Laufgraben verschüttet war. Iffinger kroch zu Ferdinand hin und bot ihm seine Schale mit Gulaschkonserve an. Der Beschenkte dankte und löffelte gehorsam ein paar Brocken in den Mund. Das kalte Fleisch aber und die gestockte Fettsülze wollten nicht durch die Gurgel gleiten. Er gab den Napf zurück und teilte mit Iffinger seinen Zigarettenvorrat.

Später kam auch Blinda aufrecht auf Ferdinand zu und machte eine höfliche Verbeugung wie ein Herr, der einen andern auf der Straße um eine gefällige Auskunft ersucht:

»Bitte, Herr Leutnant, ich hab das Gefühl, daß der Herr Leutnant gut aus der Sache herauskommen werden. Ich möchte bitten, diesen Brief hier an sich zu nehmen und nötigenfalls zu befördern. Ich danke ergebenst, Herr Leutnant!«

Ferdinand steckte den Brief ein, und Blinda begab sich nach einer zweiten bürgerlichen Verbeugung wieder an seinen Platz zurück, als wäre das ein angestammter Sitz, den er mit niemandem vertauschen wolle.

Das Feuerwerk der Leuchtkugeln war indessen auf beiden Seiten müder geworden. Die Batterien spielten nur mehr anstandshalber in großen Pausen hinüber und herüber. Einzig die Scheinwerfer blätterten kalt und wachsam die öde Landschaft auf und füllten mit ihrem wandernden Licht die Grube von Ferdinandowka III.

Schlafen und nichts mehr wissen. Alle dachten dasselbe. Langsam begann der Ort gleichgültig zu werden. Allerhand scheußliche Dinge flogen aus dem Graben: rostige Konservenbüchsen, erstarrter Kot, der Kadaver eines kleinen Tieres, ein blutsteifer Uniformärmel. An einigen Stellen des Einschnitts stand das Wasser ein paar Zentimeter tief. Trocken war der Boden nirgends. Man mußte sich einrichten, so gut es ging. Ferdinand ließ sich in der äußersten Ecke nieder, legte seinen Mantel unter und lehnte sich an die tropfige Lehmwand. So war es gut. Was konnte man sich Besseres wünschen? Jeder Muskel genoß die Süßigkeit der Erschöpfung auch ohne Matratze und Kissen. Immer ferner glommen die Zigaretten der Rauchenden, immer bleicher schwankte das Haupt des alten Mannes.

In dem Augenblick aber, da Ferdinands Bewußtsein erlöschen wollte, überkam ihn ein einzigartiges Erlebnis. Kein Traum war's, wohlgemerkt, sondern ein Erlebnis, das in Worten kaum aussagbar ist. Sein Gesicht hatte sich aufwärts verschoben, damit fing es an. An der Stelle des Kopfes aber, wo sonst das vorwärts gerichtete Antlitz in die Welt hinausschaut, war nichts. Auf der äußerst empfindsam gewordenen Schädeldecke saß es nun, dieses Antlitz, und schaute zum Himmel empor. Die Augen steckten rechts und links auf der Höhe des Scheitels, dort, wo sich der Hinterkopf schon zu senken beginnt. Diese Augen schienen nicht ganz den früheren Augen zu gleichen. Das zeigte sich vor allem an den Sternen der Sommernacht über der neuen Gesichtswölbung. Wohl fanden sich noch die alten Konstellationen, die Ferdinand als Kind von Barbara zu suchen gelernt hatte: der Große und der Kleine Bär, der Abendstern und die Milchstraße. Aber doppelt und dreifach so groß wie einst waren diese Gestirne und schraubten sich in flammenden Spiralen immer näher zur Erde. Welch eine Weltzeit mochte vergangen sein? Auch zwinkerten die Sterne nicht mehr so wie damals in der Kindheit. Sie hoben und senkten die Wimpern gemessen wie ruhig atmende Frauenaugen. Aber nicht der Himmel war der wesentliche Teil dieses Erlebnisses. Seiner verwunderte Ferdinand sich wenig. Wessen er sich zutiefst verwunderte, war er selbst. Denn dieser Mann, dieser Ferdinand, der im Graben der vorgeschobenen Feldwache seiner voll bewußt saß und sich gegen die tropfige Lehmwand lehnte, er war ja nicht der ganze Ferdinand, er war ja nur eine kleine gleichgültige Absplitterung des wahren Ferdinands. Ebensowenig und ebensoviel wie ein schmerzhafter Zahn der Mann ist, dem er gehört. In der entrückten Seele tauchten Gymnasiasten-Erinnerungen auf. Hatte er nicht eine Formel lernen müssen: »Ich bin nur eine mathematische Funktion meiner selbst.« War das möglich? Jedenfalls atmete dieser unkontrollierbare Satz aus dem Lehrbuch der Mathematik einen goldenen Trost aus. Auf der schwarzen Schultafel des Himmels drängte sich mit kindhaften Kreidepunkten und -kraxen eine lange Rechnung voll ungelernter Zeichen und Beweise, die aber restlos aufging. Funktion ist gleich Angst. An diesem Resultat war nicht zu rütteln. Wenn man das wußte, kam man durch. Aber ich, der Mensch selbst? ...

Immer blasser wurde die Gewißheit.

Etwas Schweres lastete auf Ferdinands Knien. Er riß die Augen auf. Langsam rückte der Strahl eines Scheinwerfers vorbei. Eine riesige Ratte saß auf seinem Schoß, starr und gebannt wie der Erwachsene selbst. Kleine rote Blicke durchforschten ihn. Die Schnurrbarthaare schimmerten. Ferdinand machte keine Bewegung, dieses Grauen von sich abzuwerfen. Nach endloser Spanne ein Flüstern aus der Tiefe des Wahnsinns: »Geh weg, du!« Das Hexengeschöpf stieß sich ab und vergluckste irgendwo in einem Tümpel.

Vom Morgengrauen bis gegen Mittag saßen Ferdinand und die Fünfzehn unter einer brüllenden Kuppel von Tod, die hoch über ihnen die Flugbahnen der Geschosse aufwölbten. Artillerievorbereitung des Angriffs. Da es Tag war, da sie sich an den Graben schon gewöhnt hatten, da der hochfliegende Tod ihnen nicht galt, ließ sich das Leben weit erträglicher an als gestern. Ferdinand fühlte sogar minutenweise ein eigentümliches Behagen. Auch die Hölle war, während man sie durchlebte, nichts Arges. Hierin schien sich ein verborgener Gnadenspruch Gottes zu bewähren, der dem Elend eine begrenzte Faßbarkeit entgegensetzte. Er hatte sich alles weit schlimmer vorgestellt. Nun verstand er auf einmal Weiß und seine aufschneiderischen Untertreibungen. In allem Großartigen und Gräßlichen lag ein Kern von Schwindel. Was ging es ihn an, dieses Getrommel? Er konnte sich ruhig auf den Rücken legen und in den Himmel starren, wenn er wollte. Aber er tat das Gegenteil. Mit angeschnallten Kopfhörern stellte er sich vors Glas, dessen Stativ er in eine hohe Auftrittsstufe eingerammt hatte, und richtete das Fadenkreuz gegen die feindlichen Gräben. Er erprobte die telephonische Verbindung in den ersten Graben und gab dem Artillerieaufklärer seine Beobachtungen kund. Nach einigen Gesprächen war aber keine Verbindung mehr zu bekommen. Entweder hatte ein Granateinschlag die Leitung zerrissen oder war – was ihm sogleich durch den Kopf ging – der Befehl ausgegeben worden, auf den Ruf der Verstoßenen nicht zu antworten. Der Leutnant aber sagte seiner Besatzung nichts davon. Er wollte den Befehl, die Leitung abzusuchen, nicht geben, um kein Leben aufzuopfern. Anderseits aber wirkte jede sinnvolle Beschäftigung merklich aufrichtend auf das Gemüt der Leute. So stellte er denn vor das Fernrohr einen Posten auf, der alle halben Stunden abgelöst wurde. Die Beobachtungen, die ihm gemeldet wurden, gab er in den leeren Fernsprecher weiter. Während des Geschützkampfes lagen die russischen Linien wie ausgestorben da. Das Spiel mit dem Auslug und der Scheinweitergabe von Meldungen nützte sich bald ab. Ach, hätte man wenigstens ziellos hinüberschießen dürfen, nur um irgend etwas zu tun. Aber Ferdinand wußte, daß die einzige Chance, die ihnen verblieb, darin bestand, möglichst unauffällig in dieser Erdritze hier zu verschwinden. Er untersagte der Mannschaft jede unnötige Bewegung. Einige Leute machten den Versuch, zu schlafen. Aber sie lagen mit starren Augen da.

Einer brach das Verbot, schwang sich über den Grabenrand, um in irgendeinem Granattrichter sein Bedürfnis zu verrichten. Dies war der erste Tote. In dem einheitlich endlosen Krachen des Trommelfeuers hörte man die Maschinengewehre gar nicht. Aber der Mann lag ein paar Schritte seitab der Stellung mit durchlöchertem Rücken auf dem Bauch, das blutige Gesäß emporstemmend. Allen wurde es nun klar, daß ihnen das letzte Recht der Kriegssoldaten genommen war: Hilfe für die Verwundeten. Sie lagen auf der schrecklichen Insel, wo es kein Vorwärts gab und kein Zurück. Einer nach dem andern legte sich nun platt hin und drängte das Gesicht gegen einen Erdwinkel. Wie Kinder, die nicht erwachen wollen.

Der Schall der Explosionen zeigte, daß nun das österreichische Feuer auf den vordersten russischen Gräben lag. Aber waren Stunden, waren Minuten vergangen – die Batterien begannen zu kurz zu schießen. Glühende, ausgeleierte Rohre, wie immer auf dem Höhepunkt des Gewitters. In der Zwickfläche der Zange sprangen die feurigen, stinkenden Erdbrunnen auf, Lage um Lage. Die russischen Geschütze begannen mit ihrer Antwort. Sperrfeuer sollte schon die Absicht eines Infanterieangriffs vereiteln. Vorerst übten die Geschosse seltsame Schonung und ließen den Graben abseits liegen. Man fühlte es fast als wollüstige Tücke. Dann aber saßen zwei Treffer am linken Flügel der Feldwache. Ferdinand wurde niedergeschleudert. Kotfladen schnellten wie Peitschenhiebe gegen sein Gesicht. Die Sprengstücke sangen lange im Raum. Ich lebe, wußte er zwei Sekunden später. Nun ließ er die Gelenke spielen. Ein Verwundeter heulte mit zugequetschtem Schrei, ohne abzusetzen. Der weißhaarige Blinda reckte sich hoch auf und stand auf den Beinen. Sinnlos warnend zerhackte sein Zeigefinger die Luft. Er sprach mit geschlossenen Lidern zu einer großen Versammlung in einem bierdunst- und rauchgeschwängerten Saal:

»Meine Herren, die Lage ist nicht mehr so, daß man es bis zum Äußersten treiben darf ... Sehen Sie mich an ... Ich war schwarz-gelb bis in die Knochen ... Jawohl, schwarz-gelb ...«

Jemand riß den Kranken zu Boden: »Gas!« Hohles, schnalzendes Platzen der Giftgranaten ringsum. Mit milchweißen Tatzen kroch der tausendgestaltige Nebel reptilhaft schmiegsam über das Feld, um in Löcher, Riffe, Trichter, Gräben, Gruben tödlich zu schlüpfen. Während alle, die es noch konnten, die Gasmaske vors Gesicht stülpten, wußte Ferdinand: Die Verwundeten sind verloren.

Im Käfig der Gasmaske verwandelt sich Zeit und Raum. Keiner vermag zu sagen, wie lang eine Sekunde oder eine halbe Stunde dauert. Man preßt die Sauerstoffkapsel an den Mund und gibt sich mit allem Eifer der schweren Arbeit des Atmens hin. Vor den Schutzgläsern erblindet die Welt. Mitten im Schwall der Vernichtung verliert sich der preisgegebene Mensch in schwarzes abgeschlossenes Brüten. Ausgekeltert in den Tropfen eines einzigen Augenblicks, erlebte Ferdinand den ganzen Schreck der Erdgefangenschaft. Alles abgeriegelt! Hinauf kann niemand springen, hinab kann niemand dringen. Die Unendlichkeit steht offen, und über den Kopf hat man uns eine finstere Haube geworfen. Einschläge, Luftwirbel, Kotwürfe, Sprengstückgesurre! Immer wieder: Jetzt! Und immer wieder: Nichts! Eine ziehende Begier wächst, die Finsternis wegzuwerfen, aufzuspringen, aus dem Graben, fort, fort! Der Atem findet keinen Stoff mehr. Wie lange noch!?

Ferdinand rieb krampfhaft die Gläser. Hoch stand Blinda. Er hatte die Maske heruntergerissen. Seine Augen traten aus den Höhlen. Er hielt die Hände als Schalltrichter vor den Mund und schrie:

»Auf den Gesichtspunkt kommt es an ...«

Neben Ferdinand kletterte ein kleiner Soldat aus der Deckung und begann gegen die österreichischen Stellungen zurückzurasen. Mit der Rechten deckte er seinen Hinterkopf. Lächerliches Bild eines Schutzversuches! Wie weit kommt er, dachte der Leutnant, mit jener sachlichen Gleichgültigkeit, wie sie uns Menschen oft in solchen Momenten anwandelt. Auch er riß nun die Maske herab. Blinda sprach zum Volk:

»Ich habe den Gesichtspunkt des Doppeladlers ... denn ich war Lateinlehrer und nicht Naturgeschichtler ...«

Eine lange Verfinsterung, aus der Ferdinand nur mühsam erwachte. Der Alte saß wieder gebeugt lauschend da. Aber er war nicht mehr weißhaarig. Sein Schädel klaffte. Von Ferdinands bespritztem Gesicht rann Blut und siedend heißes Gehirn. Iffinger umklammerte ihn mit beiden Armen. Augen, Augen sahen ihn an und dann nicht mehr.

Was jetzt geschah, war Wahnsinn und Klarsinn in unlöslicher Einheit. Ferdinand warf den Toten von sich, sprang auf und brüllte aus vollem Halse:

»Das möcht ich doch sehn!!«

Was dieser Ruf bedeutete, wußte er nicht. Zauberei aber steckte in dem Satz, denn eine fremde unsichtbare Kraft hob ihn aus dem Graben. Nun stand er oben auf der Erdfläche und überlegte mit schärfsten Sinnen: Laufen?! Ja! Aber wohin? Nicht herüber, nicht hinüber, beides unmöglich!

Da hob er die Füße und tat das Unmöglichste, das ihm einzig möglich schien. Er rannte, stolpernd, stürzend, wieder aufspringend, nicht herüber und nicht hinüber, sondern immer weiter den schmalen nackten Erdstreifen, das tödliche Hindernisfeld entlang, das sich endlos zwischen den Fronten hinzieht, zwischen den flammenden Spießruten der Nationen. Und während er sprang, fiel, aufstand, von neuem rannte, sang er mit heller Stimme viele Worte, die gar keine Beziehung zu seiner Lage hatten. Diese Worte sind alle vergessen. Er weiß nichts von ihnen, er weiß nicht einmal, ob Barbaras Name darunter war. Nur an ein verschlagenes, ein ganz vertracktes Gefühl erinnert er sich. Er lief mit den Sprüngen des Wahnsinns zwischen den Fronten. Zugleich aber flüsterte ihm eine unendliche Wachheit zu: Mein Verhalten ist eine abgefeimte Komödie, die ich der Welt vorgaukle. Ich könnte jetzt ruhig stehenbleiben oder mich hinsetzen. Aber ich laufe und schreie und betrüge die Welt. Wie komisch ist das!

Eine Ewigkeit später sah er einem borstig-roten Gesicht in die Augen. Wundersame Leichtigkeit durchschwebte ihn, als habe er alles Gewicht verloren. Wo er lag, wußte er nicht. Nur das große rote Gesicht über ihm erfüllte die Welt. Ein Russ'? Er suchte die Montur zu enträtseln. Nein! Das große rote Gesicht sagte:

»Menschenskind! Bleib man ruhig! Laß mich nur machen.«

Ferdinand gehorchte so willig, daß er gleich die Augen schloß. Ein Deutscher! Einer von den deutschen Kompagnien! Ich bin nicht mehr in Steidlers Gewalt. Die deutschen Brüder werden mich retten. Während sein Bewußtsein wieder hinschmolz, glaubte er an eine geheimnisvolle und engelhafte Übermacht der Deutschen, in deren gerechter Hut er sich nun befinde. Mit warmen Strahlen, ein unentzifferbares Sinnbild, schwankte das rote borstige Gesicht.

Tiefe Geborgenheit streichelte Ferdinands Herz und liebliches Erlöschen.


 << zurück weiter >>