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Neuntes Kapitel.
Babylonisches Zwischenspiel

Man wird mit Recht fragen, wie sich in dieser historischen Woche – da die mächtigsten Reiche der Welt zusammenstürzten und jeder fühlende Zeitgenosse von tragischem Grauen erfüllt war – wie sich unter geistig hochstehenden Menschen eine so primitive, eine so schamlose Szene abspielen konnte. Unter Menschen, wohlgemerkt, die mit allen Fibern an der Umwälzung teilnahmen, die atemlos von Versammlung zu Versammlung stürzten, sich als unermüdliche Ansager der Zukunft betätigten und in ihren Reden die höchsten Moralbegriffe der Menschheit unausgesetzt bemühten.

Die nächstliegende Begründung und Entschuldigung:

An jenem Abend waren die meisten von ihnen betrunken, Weiß sogar in doppelter und dreifacher Hinsicht. Ihm hatte das Schicksal mit grausamer Bereitwilligkeit über Nacht eine furchtbare Gewalt in die Hände gespielt. Er war der Gefangene seines Rednererfolges in den Dreherschen Sälen. Was es in Wien an entfesselter Soldateska gab, nannte seinen Namen. »Genosse Weiß«, das war, unbekannt warum, zum Schlagwort geworden. Wäre er der Mann gewesen, letzte Folgerungen aus dieser Machtstellung zu ziehen, so hätten die Geschehnisse wohl einen anderen Verlauf genommen. Aber Ronald Weiß war niemand anderer als Ronald Weiß, ein leicht beweglicher Mann des Talents, gutmütig, ja weich im Grunde seiner Seele, jedoch von dem ungezügelten Trieb besessen, eine glänzende Rolle zu spielen, wenn auch nur eine Rolle. Er selbst erschrak am meisten darüber, wie sich von Tag zu Tag diese Rolle in hartkantige Wirklichkeit verwandelte.

Weiß tat, was Naturen feiner Art, die weder wirklich zugreifen noch wirklich verzichten können, immer tun. Er suchte den gegenwärtigen Zustand hinauszuziehen, so gut es ging, und sich selber am Erwachen zu hindern. Die Gefahr des Erwachens freilich war durch den mannigfachen Rausch, in dem er lebte, gemindert. Neben dem Machtrausch war es der Rausch der Angst, der ihn betäubte. Noch wußte man nicht, wie weit sich die Dinge entwickeln würden, noch gab es einen Kaiser und eine Regierung, deren Entschlüsse man nicht kannte. Dazu kam die neue Nationalversammlung, deren im Augenblick mächtigste Partei, die Sozialdemokraten, jeder Gewaltsamkeit abhold war. Sie konnte, wenn es ihr in den Kram paßte, dem revolutionären Treiben ein Ziel setzen, indem sie es selbst in die Hand nahm. Vielleicht erwog sie schon jetzt die Verhaftung von Weiß, wenn sie nicht gar ein schärferes Mittel in Betracht zog, ihn aus dem Wege zu räumen. Das letztere konnte auch einem der tausend Offiziere unaufgefordert einfallen, die zukunftslos und haßknirschend durch die Stadt schlichen und sich von jedem Gassenjungen degradieren lassen mußten.

Weiß schlief kaum mehr zu Hause, sondern meist in den Kasernen und bei Freunden, wo er sich viel sicherer fühlte. Er ging niemals ohne seinen Stab auf die Straße, der aus einer Gruppe von Soldatenräten bestand und aus jenem jungen Gefreiten, der ihm mit Leib und Seele als Adjutant diente. Mit heimlich erschauernder Seele sah Weiß, wie er, ohne etwas Besonderes zu tun, immer tiefer in den Strudel der Vorgänge gerissen wurde, deren Art und Ziel er so wenig wie ein anderer erkannte. Die Theorie bestätigte sich nun an seinem eignen Leib: Der Führer war ein Popanz der Masse, gleichgültig, ob General oder Rebell. Sein Eigenwillen war eine Einbildung. Wie eine Kompaßnadel zuckte er über das Maßblatt der Zeit, von geheimen Kräften und wirren Stürmen gehetzt.

Der Rausch, der ihn für sein wachsendes Ohnmachts- und Angstgefühl entschädigte, war die Trunkenheit der endlich errungenen Geltung. So gerne hatte Weiß immer zu höheren Menschen aufgeblickt. Ihm hingegen war trotz seiner glänzenden Gaben stets nur die Bewunderung kleiner Leute zuteil geworden. Diejenigen, auf welche es ihm zuvörderst ankam, behandelten ihn herablassend, wenn nicht gar mit einem feinen Spott, der seiner Anstrengung galt, ihr Lob zu erwecken. Den Dichtern und Literaten war er der Journalist, wohingegen ihn die Journalisten für ein schmissiges, aber loses Talent hielten, das den würdevolleren Aufgaben der Presse, dem Hochgefilde des Leitartikels und der Kulturrubrik etwa, unbedingt ferngehalten werden mußte.

Jetzt aber erhob er sich mit einem Mal zum Manne der Tat, wenn er auch selber nicht wußte, wie. Er zog mit einem uniformierten Gefolge einher. Wimpel, so hieß der junge Gefreite, stand kerzengerade hinter seinem Stuhl, wenn er sich irgendwo niederließ. Erschien er, also kriegerisch umschart, im Säulensaal, so kam Zugluft in den graustockenden Raum, die Tischgesellschaften erhoben sich, alles war bemüht, eine alte Intimität hervorzukehren. Weiß hin, Weiß her, mit: »Grüß dich Gott« und »Servus«. Die Unnahbarsten und Hochmütigsten, die ihn früher kaum beachtet hatten, holten sich jetzt mit respektvoller Freundschaftsmiene bei dem starken Mann Auskunft darüber, welche Zukunft er ihnen zu bescheren gedenke. Da er nichts Bedeutsameres noch angeordnet hatte, als ein militärisches Meeting unter freiem Himmel – (und dies geschah auf Elkans Weisung) –, das für Mittwoch anberaumt war, hüllte er sich in Geheimnis. Konnte er es sonst keinen halben Tag aushalten, allein zu sein, ertrug Weiß jetzt keine Minute der Einsamkeit mehr. So erging es übrigens auch manchem andern. In Katastrophenzeiten scheint der Aggregatzustand der Gesellschaft vollkommen geändert zu sein. Der Lebenswert des einzelnen ist in Frage gestellt, und so drängen sich die entselbsteten Teile gierig aneinander.

Weder Ferdinand noch seine Bekannten hielten es in ihren einsamen Zimmern und Kammern aus. Sie saßen immerfort in großen Gruppen zusammen und wechselten die Lokale so oft wie nur möglich. Selbst der Entschluß, für ein paar Stunden schlafen zu gehn, fiel schwer. Man legte sich in der Wohnung, wo man gerade hockte, auf einen Diwan, über zwei Stühle oder auf die nackte Erde. Auch dieser gesteigerte Herdentrieb war eine der Ursachen jener Szene, deren sich Ferdinand nur mit Widerstreben erinnert.

Fest steht jedenfalls, daß Ronald nicht nur im übertragenen Sinne berauscht war, sondern auch eine große Menge tatsächlichen Weines und Schnapses im Leibe hatte, was auch auf die andern, mit Ausnahme Gebharts, zutraf.

Gewiß war Basil ebenfalls nicht vollständig nüchtern. Im Gegensatz aber zu den Vorkommnissen bei dem Stiftungsfest in Aschermanns Palais (so etwas hatte sich in seinem Leben nicht oft ereignet) blieb er würdiger denn je. Basils eigenartige Stimmung kann jedoch nur aus dem Zusammenhang seines Geschicks verstanden werden.

Aschermann hatte die Hand von ihm gezogen.

Die tödliche Ahnung, von der Basil bei jener denkwürdigen Geburtsfeier seiner Zeitschrift befallen worden war, sie ging nun in Erfüllung. Er stand vor dem Nichts. Der Präsident stellte jegliche Hilfeleistung ein. Der Katastrophe war eine kurze Unterredung vorangegangen, bei welcher Aschermann den ›Aufruhr in Gott‹ als einen sinnlosen und unverdaulichen Zeitvertreib verdammt und zugleich erklärt hatte, er sei ein gutmütiger Mensch und lasse sich gerne auswurzen, aber auch seine diesbezügliche Bereitschaft habe Grenzen. Vor allem jedoch sehe er nicht ein, warum er sich, um verbohrte Leute zu unterstützen, vor der ganzen Welt lächerlich machen solle.

Am nächsten Tag traf bei Basil ein vom Bureauvorstand des Präsidenten unterfertigter Geschäftsbrief ein, worin dem Unglücklichen mitgeteilt wurde, daß noch im Laufe desselbigen Monats seiner Familie die bisherige Rate zum letztenmal ausbezahlt werde und er selber keine weitere Zuwendung zu erwarten habe. Aber nicht die jäh hereinbrechende Lebenssorge war es, die ihm den schwersten Stoß versetzte, nicht der neuerliche Untergang einer seiner Schöpfungen, nein, was ihn um alle Besinnung brachte, war Heddas Erfolg. Wäre sie gleichzeitig mit ihm von Aschermann verstoßen worden, er hätte sein Schicksal mit Fassung getragen. Daß aber das Geschöpf seiner Großmut nach seinem Fall sich nur noch höher zu erheben schien, das war zum Tollwerden.

Kühl hatte Basil bisher sein weißes Haupt der scharfwehenden Zeit entgegengehalten. Armut, Erfolglosigkeit, gähnendes Einerlei, sie hatten die galante Priestermaske spöttischer Überlegenheit nicht zerreißen können. Jetzt aber begann sie brüchig zu werden, und hinter der abgeschabten Souveränität lugten Weinerlichkeit und schwelgerische Rachsucht hervor, Gefühle, die zueinander gehören. Hundert Einzelheiten bestätigten den bohrenden Verdacht, Hedda hatte ihn, Basil, geopfert, um sich selbst zu retten. Sprach sie jetzt von »Papa«, so klang ein Unterton neueroberter Sicherheit mit. Zwischen ihr und Aschermann hatten langatmige Aussprachen stattgefunden. Es war ihr auf manche Art gelungen, ihn wieder von ihrem Wert zu überzeugen. Die Folge der neuen Erwärmung zeigte sich darin, daß der Präsident sie auf einen Jagdausflug in die Steiermark mitnahm, eine Gunst, die sie bisher nur einmal genossen hatte. Doch das Allerschönste: Es gingen im Säulensaal Gerüchte um, daß Hedda nunmehr eine andere Zeitschrift herauszugeben gedenke, wofür sie schon den leitenden Mann gewonnen habe, dessen Name vorläufig aber noch im Dunkel bleiben müsse. Wer war der Erwählte? Viele Zeichen deuteten auf Ronald Weiß. Aber mochte es Weiß oder ein anderer sein, gegen ihn, Basil, den Enzyklopädisten gehalten, war es ein ungehobelter, minderwertiger Kopf. Welch eine Zeit kam herauf? Irgendeine geschickte Reporterfeder, die sich radikal zu gebärden wußte, wurde berufen und ein Basil verworfen. Galten die erlesensten Zitate aus Saint-Simon, Montaigne, Vauvenargues nichts mehr? Die Entdeckung unbekannter Genies, die in Paris am Ende des vorigen Jahrhunderts verkommen sind, war sie verwirkt? Lockten vertrackte Gedankengänge von Kierkegaardscher Tiefe kein Verständnis mehr hervor? Und der feinste Gedankengang, der die Idee der Kirche mit der Revolution verband, das Ewig-Starre mit dem Ewig-Fließenden, dieser wahrhaft gallische Einfall, sollte er nicht begriffen werden? Die Zeit für geistige Gipfelluft schien vorbei zu sein. Handfeste oder verblasene Pathetiker, eindeutige Flachköpfe, die gerade noch Nietzsche gelesen hatten, traten Basils Erbe an.

Dieser Wandel aber allein hätte sein Selbstgefühl nicht gebrochen. Er war schmiegsam genug, die gegenwärtige Jugend, ja die nächste und übernächste noch zu überdauern. Weit schwerer wog die Tatsache, daß der Herausgeber der zukünftigen Zeitschrift, Weiß oder wer immer, auch Heddas weibliche Gunst genoß. Mit diesem doppelten Verrat hatte sie ihm eine vergiftete Wunde geschlagen. Basil litt an einer verzwickten, aber keineswegs kleinlichen Eifersucht. Er selber war ja immer bedacht gewesen, nicht nur für Heddas Aufstieg, sondern auch für ihr Herz zu sorgen. Aber er mußte der Gott bleiben, der Glücks- und Liebesspender, der das Vorrecht besaß, über ihre Wahl zu wachen. Nun hatte sie ihm dieses Vorrecht frech entwunden und selber gewählt. Indem sie Basil, den Mann, ohne seine Zustimmung betrog, verriet sie Basil, den Geist.

Sehr merkwürdig verhielt er sich zu diesen Schicksalsschlägen. Seine Existenz war wieder einmal vernichtet. Gattin und Töchter überschütteten ihn aus Köln mit Jammer-, Droh- und Hohnbriefen. Der alternde Mann aber, in seinem eitelsten Nerv verletzt, entwickelte eine Volldampftätigkeit als Erotiker.

In diesen Tagen, da die Straßen von Angst und ratloser Erregung widerhallten, bemühte sich der hagere weißhaarige Basil, den Eindruck eines beträchtlichen Frauenverbrauches hervorzurufen. Täglich brachte er neue Elevinnen seiner Gunst in den Säulensaal. Er begnügte sich nicht wie Gebhart, der Theoretiker der Liebeslust, mit düsteren Schlampen, sondern konnte der staunenden Runde sogar einige Mädchen von leidlichem Reiz aufführen. Gott weiß, woher er seine Truppe bezog. Er warf nicht nur mit Liebkosungen, sondern auch mit Prahlereien umher. Einer kleinen Tänzerin versprach er mehrere große Zeitungsartikel und einen steinreichen Geliebten, einer Schauspielanfängerin ein Engagement an der ersten Bühne. Seinen Freunden erzählte er mit der Inbrunst eines Siebzehnjährigen von dem berauschenden Abenteuer, das ihn mit einer gefeierten Schönheit und großen Dame der Stadt verbinde. All diese Prahlereien waren die Fieberphantasien seiner Niederlage. Sie bestimmten in den Wochen vor und während des Umsturzes Basils Reden und Handlungen.

Die unglückliche Liebe zur »großen Welt« trat wie ein Hungerstein aus dem niedrigen Wasserstand seines Selbstbewußtseins hervor. Jetzt erinnerte er sich gewisser Beziehungen, die ihn mit diesem Gesandten und jenem Aristokraten verbanden. Er machte Besuche. Seine außerordentlich wirksame Erscheinung kam ihm zu Hilfe. Einige Salons öffneten sich ihm, die in der gesellschaftlichen Topographie dort lagen, wo die große Welt an die Gebiete der Wohltätigkeitsstreberei sowie der verlogenen Musik- und Kunstbegeisterung grenzt. Hier herrschen zumeist ein paar Gräfinnen, die einen Geburtsmangel durch erhöhte Aktivität wettzumachen suchen. Sie leben stets in der Angst, irgendeine wichtige Figur zu versäumen, die ihnen von den Nebenbuhlerinnen weggeschnappt werden könnte. Diesem Umstande hatte es Basil zu verdanken, daß er in den denkwürdigsten Wochen des Jahrhunderts seine lange Gestalt durch die Salons einer untergehenden Welt schleppte. Um seinen bleichen Kopfgipfel waren graue Wolkenfetzen des Schattenreichs gelagert, wenn er fremdartig und eindrucksvoll über dem Geschnatter des Klatsches und der Banalität auftauchte. Er benahm sich salopp, verächtlich und manchmal sogar unmöglich. In anderen Zeitläuften wäre er sehr schnell fallengelassen worden. Jetzt aber war die ahnungslose Herde, die keine rechte Vorstellung von den Ereignissen besaß, welche auf sie niederschmetterten, jetzt war sie angstvoll aufgescheucht und bereit, mit dem Geist der Zweideutigkeit einen kurzfristigen Pakt zu schließen. Basil gebärdete sich hier durchaus nicht als kleinlauter Snob. Sein Wort herrschte. Er nahm sich kein Blatt vor den Mund und sprach sehr scharfe Dinge aus. Diese Stunden dienten dazu, sein Selbstgefühl wiederherzustellen. Es genügte, daß sich ihm Türen öffneten, die Aschermann und Hedda vor der Nase zugeworfen wurden.

Im Säulensaal zeigte er mehr denn je sprühende Lebendigkeit, er durchlumpte mit den jungen Leuten Nacht für Nacht, aber seine Hände zitterten, wenn er sich eine Zigarette anzündete. Oft erreichten seine Prahlereien, und nicht nur die erotischen, eine schwindelnde Höhe. Er begann düster mokante Andeutungen darüber zu machen, daß niemand eine Ahnung von seiner eigentlichen Weltstellung besitze. Er habe die Gegenspionage der Mittelmächte von allem Anfang an hinters Licht geführt, da er nichts Geringeres sei als ein geheimes Mitglied der päpstlichen Diplomatie. Der Kardinalstaatssekretär habe ihm für seine monatlichen Berichte, die mittels Brieftauben abgefertigt wurden, den besonderen Dank ausgesprochen. Er brauchte weder Aschermann noch einen andern Schieber, da man ihn in Rom jederzeit erwarte, um sich seiner auf das glänzendste zu bedienen. Was bedeute Österreich, was Europa für ihn, da er einer allumfassenden Körperschaft angehöre? Vielleicht werde ihn der Heilige Stuhl übers Jahr in entscheidenden Geschäften nach Damaskus senden, weshalb er sich jetzt gar nicht mehr mit der Revolution, sondern nur mit der weit wichtigeren arabischen Frage beschäftige. Über solches Geflunker schüttelten die Wohlwollenden unter Basils Bekannten den Kopf, die anderen lachten. Ein Scharfäugiger aber urteilte:

»Der Arme kommt in die Wechseljahre.«

Unzweifelhaft übte er auf Frauen einen gewissen Zauber aus, so dachte wenigstens Ferdinand, der freilich selbst allzu schüchtern war. Er hatte eine Szene erlebt, die für Basils Unbedenklichkeit und jene Wirkung sprach. Einmal, als sie beide eine Straße überkreuzten, sahen sie am Rand der Fahrbahn eine sehr schöne Frau, die zögernd stehengeblieben war. Ein Staubkorn mußte ihr ins Auge geraten sein, denn sie rieb ihr Lid und versuchte es umzustülpen. Kurz entschlossen trat Basil auf sie zu, stellte sich vor, »Doktor Basil, Augenarzt«, zog ein seidenes Sacktuch aus der Brusttasche und befreite die Schöne geschickt von ihrem Leiden. Das Ganze ging so schnell vor sich, daß die Verwirrte nicht wußte, was sie von dieser hilfreichen Attacke zu halten habe. Sie dankte lächelnd und wollte gehn. Nun aber ließ Basil einen seiner gefeilten Sätze los, die ihm sogleich ein besonderes Ansehen gaben. Ehe die Dame noch verstand, was der gütige Augenarzt von ihr wolle, bot er ihr seine Begleitung an. Ferdinand sah ihnen erstaunt nach, wie sie Seite an Seite dahinschritten. Selbst in seinen verwegensten Träumen hätte er nicht gewagt, sich dieser reizenden und eleganten Frau, diesem schönabgeschlossenen Leben so keck zu nähern.

Basil war es auch, der Pauline aufgegabelt hatte.

Es muß vorausgeschickt werden, daß Pauline keineswegs eine Dirne war, sondern eine junge Kriegerwitwe, die sich als Besitzerin eines Modesalons tagsüber sehr tüchtig durchs Leben schlug. Sie hatte ihren Mann im vorigen Jahre in einer der Isonzoschlachten verloren. Basil behauptete, sie sei dem Toten bis zu dem Augenblicke treu geblieben, da sie ihn kennenlernte.

Ferdinand erinnert sich nicht, wie das große üppige Weib mit der lautkreischenden Stimme in jene Wohnung kam. Er erinnert sich kaum, wie er selbst dahingeraten war. Vorher hatte es wieder eine illegale Sitzung gegeben, in der Elkan, der heimliche Feldherr, das Feuer schürte und Weiß einen langen Vortrag über Zustand und Brauchbarkeit der Truppen hielt. Morgen sollte beim Soldaten-Meeting der große Schlag geführt werden. – Diesmal aber war der Alkohol nicht im Stroh eines Hühnerstalls verborgen.

An jene Wohnung erinnert sich Ferdinand genau.

(Wieviel fremde Wohnungen hatte er in wenigen Wochen betreten, wieviel Menschenräume, die alle ihre Abgeschlossenheit verloren zu haben schienen, um sich der unheimlichen Zeit zu öffnen und ihren Straßenläufern.)

Ein großes Alt-Wiener Zimmer, die stille Tugendhaftigkeit selbst, mit zart geschwungenen Möbeln und einer grau-grünen Sitzgarnitur um den altväterischen Tisch. Die weißen Emailknöpfe des Sofas hat Ferdinand nicht vergessen. Auf diesem Sofa saßen die Ältesten der Versammlung, Basil und Gebhart. Gebhart hatte diesmal seine Vasallinnen nicht mitgebracht. Der ganz verwilderte Weiß stand vor einer Tür, die in ein Schlafzimmer führte. Er schrie, lachte und putzte seine Prätorianer herunter, Wimpel und noch zwei andere, die heute den Stab bildeten.

Spannweit, der sich in einem schweren Zustand befand, suchte jammernd einen weichen Sitz, ohne ihn zu entdecken, wobei er mit fettiger Stimme die Revolution aufforderte, gewisse Paragraphen des Strafgesetzbuches abzuschaffen.

Auch Leopold Zöger, der kriegsinvalide Offizier, der an Heddas ereignisvollem Festabend teilgenommen hatte, war mitgekommen. Er bewegte sich ebenso langsam und stapfend wie er sprach. Es hatte den Anschein, als müsse er ungeahnte seelische Schwierigkeiten überwinden, um einen Satz hervorzubringen. Ansonsten war er ein ruhiger Mann, sehr belesen, ein langjähriger Verehrer von Basils Schriften, der ihn auch mit den anderen bekannt gemacht hatte. Niemand billigte ihm viel Temperament zu. Er gehörte zum Typus der Zuschauer und Mitgeher, die sich um Originalgenies sammeln. Besonnenheit und Zurückhaltung zeichneten ihn aus, die in einer berufsmäßig sprühenden Umgebung besonders angenehm wirkten. Sein Kriegsgebrechen trug er ohne das geringste Zeichen von Leid oder Trauer als etwas Selbstverständliches. Zöger war einer der seltenen Menschen hier, von denen man keine Überraschungen erwartete. Zu Beginn des Abends saß er steif auf einem Klaviersessel.

Unversehens entwickelten sich die Vorgänge.

Basil, der in lässig-unbeteiligter Haltung auf dem großvaterhaften Sofa saß, gab mit der Miene eines fürstlichen Vergnügungsspenders das Signal.

»Pauline, mach mir keine Schande!«

Das Weib torkelte zwischen den Männern hin und her. Ihr großer Mund stand offen wie in einem Krampf. Ein fassungsloses Lachen schüttelte sie. In diesem berauschten Lachen verschwendete Pauline das ganze Maß von Zurückhaltung, das sich in ihrem geräumigen Leibe angesammelt hatte. Vielleicht war sie gar nicht so besinnungslos, wie sie sich stellte. Ein rachsüchtiger Wille, sich selbst fallenzulassen, lag in diesem kreischenden Krampf. Der Ausbruch wirkte auf die betrunkenen Männer in fast schmerzhafter Art ansteckend. Auch sie strengten sich an, durch Brüllen und Wiehern die letzten Reste von Scham zu überwinden.

Einige Minuten später lag auf dem Boden das Häuflein eines Seidenkleides und ein ausgebauchtes fleischfarbenes Korsett.

Weiß, der Held des Tages, war der erste, der im Nebenzimmer verschwand.

Wimpel bezog Posten vor der Tür. Der jubelnde Spannweit umhalste ihn und forderte mit hervorquellenden Augen Einlaß:

»Ich verlange einen Sperrsitz«, schrie er, »ich habe als Kritiker Anrecht auf einen Sperrsitz ...«

Merkwürdig war die Haltung, die Basil und Gebhart einnahmen.

Basil sah stillvergnügt vor sich hin. Er sonnte sich. Wie ein idyllisch abgeklärter Mensch saß er da, der nicht einer abgeschmackten Verwirrung beiwohnt, sondern in eine freundliche Abendlandschaft hinausblickt. Ganz anders Gebhart! Sein edles Raubvogelgesicht war von Zufriedenheit überbreitet, die sich immer dann einstellte, wenn sein Geist mit irgendeiner Sache oder Ansicht gesinnungsmäßig einverstanden war. Dabei schenkte er den betrunkenen Vorgängen nicht die geringste Beachtung. Nur die Begeisterung lichtvoll drängender Gedanken, die das Kokain aller Reibung entband, sprach aus seinen seemannshaft blauen Augen. Leopold Zöger, der mit seinem Klaviersessel zum Tisch gekommen war, hatte ihm ein glückliches Stichwort gebracht, den oft gehörten Satz nämlich, daß nur das Christentum Schuld an der Lustverachtung und sexuellen Scham trage.

(Es gehörte zu den Wunderlichkeiten der Zeit, daß diese Menschen trotz aller atemberaubenden Geschehnisse jede ruhige Minute zu tiefgründigen Gesprächen und heiklen Zergliederungen benutzten.)

Gebhart wies Zögers Gemeinplatz zurück. Jetzt war er in seinem Element. Dieser Mann der Zerstörung lächelte mit der kindlichen Fröhlichkeit eines Gelehrten, dem jemand den Gefallen getan hat, sein ureigenstes Forschungsthema in den Vordergrund zu rücken. Die Fülle seiner frühgeschichtlichen Ideen stieg in ihm auf, ohne durch das baalsdiensthafte Geschrei und Getuschel in der Gegend der Tür gestört zu werden. Er entwickelte mit halbgeschlossenen Augen in klaren Sätzen jene Gedanken, die für ihn das Entwicklungsrätsel der Menschheit umfaßten.

Nein, nein, das Christentum war nichts Ursprüngliches, sondern nur die späte zivilisatorische Folge jenes Ereignisses, das die Welt einst zu ihrem Unheil um und um gekrempelt hatte. Wer aber dieses Ereignis in seiner ganzen Tiefe verstehn wollte, mußte vor allen Dingen aufmerksam das erste Buch der Bibel studieren, die Geschichte vom Paradies, vom Sündenfall und vom frühesten Menschenpaar. Der ausgezeichnete Autor dieses Buches – verkündete Gebhart – habe zu einer Zeit gelebt, in der das Andenken an jenes umwälzende Ereignis den Völkern noch nicht ganz abhanden gekommen war. Man könne mit Fug annehmen, daß der Verfasser der Genesis ein Mitglied der urtümlichen Prophetenschulen oder mindestens ein Erbe ihrer Tradition gewesen sei. Wesen und Aufgabe der Prophetenschulen aber habe bekanntlich in dem Kampf gegen die babylonische Kultur bestanden, das heißt in dem Kampf gegen die Reste einer erhabenen geschlechtsverherrlichenden Religion. Durch die gesamte babylonische Welt und mithin auch durch das Buch der Schöpfung gehe wie ein Riß die Erinnerung an jenes entscheidende Ereignis ...

»Und was für ein Ereignis meinen Sie, Herr Doktor?« fragte Zöger in seiner trockenen und schwerfällig stockenden Art.

Erstaunt, daß jemand da noch fragen könne, erwiderte Gebhart mit unverhohlenem Abscheu: »Die Abschaffung des Mutterrechtes und die Einsetzung der Vaterehe.«

Bei diesen Worten kam es unter den Betrunkenen, die sich am andern Zimmerende drängten, zu einem Tumult. Spannweit begann nämlich wütend an die Tür zu trommeln. Wimpel warf sich ihm entgegen. Die anderen überschütteten die Balgerei mit einem Gelächter-Sud.

Ferdinand, der zwar auch nicht gerade nüchtern war, empfand angesichts des übrigen Treibens ein gesetztes Gespräch als Wohltat. Obgleich er Gebharts Lieblingstheorie genau kannte, entschloß er sich doch, ihm »ein Hölzel zu werfen«:

»Das mußt du näher erklären!«

»Es ist doch sehr auffällig«, fuhr Gebhart fort, »daß kein Wesen auf der Welt eine genialere Auffassung hat als ein Kind zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr, und daß nicht die sogenannten Kulturvölker die Buchstabenschrift oder die Zeichenkunst erfunden haben, sondern frühe, schollenfremde Jägerstämme, die ohne Besitz und ohne Gesetz durch die Länder zogen und in Höhlen hausten. Die Freiheitsberaubung, die Domestizierung bedeutet einen Verlust der Genialität, also einen Verlust der Reinheit. Hier liegt der geschichtliche Akt des Sündenfalls verborgen ...«

Basil erwachte aus seiner freundlichen Betrachtung. Als päpstlichen Geheimdiplomaten ging dieser Begriff ihn an. Er fragte mit wissensgesättigtem Tonfall:

»Sündenfall? Wieso?«

Gebhart schob, wie er es im Denk-Eifer immer tat, die Arme vor. Sein Kinn näherte sich der Tischplatte.

»An einem gewissen Punkt hat sich die natürliche Wegrichtung verschoben. Ich erkläre mir das als Folge großer Erdumwälzungen, welche die damalige Menschheit zwangen, sich straffer zu organisieren, um die Herrschaft über das Abwehrmaterial im Naturkampf zu erlangen ... Eine Art Zwangsherrschaft und Belagerungszustand ...«

Zöger unterbrach ihn mit einer unzufriedenen und mühsamen Frage:

»Ich bitte, Herr Doktor, was hat denn das mit der sexuellen Scham zu tun?«

»Sehr viel, alles«, tröstete ihn Gebhart. »Die Paradieseserzählung bringt den Liebesakt, die Erbsünde und mit ihnen die Scham in unlöslichen Zusammenhang. Wie ist das zu verstehn? Wir müssen uns, um es zu verstehn, auf einen Punkt außerhalb unserer historischen Entwicklung stellen. Erstens: Adam und Eva sind selbstverständlich kein individuelles Menschenpaar, sondern der Zustand beider Geschlechter in jenem Weltzeitalter, das die Bibel symbolisch darstellt. Zweitens: Schalten Sie Ihren klarsten, natürlichsten Sinn ein und fragen Sie sich: Was könnte am Liebesakt schmachvoll sein!? Welch ein Übermaß an Perversion und Verderbtheit mußte in die Welt gekommen sein, damit die Scham entstand!? Und die Verderbtheit konnte nicht grundlos hereingebrochen sein. Schämen kann man sich doch nur einer abscheulichen Handlung. Aber sich des höchsten Heiligtums der Natur zu schämen, der Beziehung und ihrer lustvollen Geheimnisse? Was mußte vorhergegangen sein, überlegen Sie nur? Ein Greuel!«

Die Tür des Nebenzimmers öffnete sich. Sanft triumphierend erschien Weiß auf der Bildfläche. Er wandte sich schauspielerisch rückwärts:

»Schöne und geniale Pauline, ich danke dir.«

Einer der Soldaten schleppte neue Flaschen ins Zimmer. Spannweit verschwand. Die Ansammlung vor der Tür grölte immer tierhafter.

Gebhart, vom Schmerz der Jahrtausende gepackt, als wäre es sein allerpersönlichstes Erlebnis, senkte den Kopf immer tiefer:

»Überlegen Sie doch nur! Schämt sich irgendein Naturwesen der Sexualität?? Ich bitte Sie inständig, mit mir das Ungeheuerliche auszudenken, daß wir Menschen uns schämen!! Ich weiß nicht, ob Sie das so klar empfinden wie ich. Ist es nicht die allerabsurdeste Tatsache der Welt, daß wir ihres schönsten und heiligsten Geschenkes uns schämen? Das kann in keinem natürlichen Weltplan enthalten sein. Diese Scham ist das ganz und gar Abscheuliche. Sie zeigt, daß unser Gefühlsleben verdreht, krank und gemein ist. Eben deshalb schämen wir uns ja.«

Zöger erhob sich. Gebharts Ausführungen überzeugten ihn nicht. Auch er hatte von Minute zu Minute abgelenkter nach dem geistloseren, aber tolleren Teil der Gesellschaft geäugelt. Nun stampfte er mit seinem klappernden Kunstbein zu der Gruppe, in der die Stimme Ronalds vorherrschte. Ferdinand blieb allein am Tisch mit Basil und Gebhart, dessen Augen immer mehr erloschen, je fanatischer er sprach:

»Zwischen Liebe und Scham steht die Erbsünde. Die biblische Schöpfungsgeschichte stellt in unermeßlicher Logik damit die schärfste Erkenntnis aller Gesellschaftskritik hin. Wie fein ist es, daß zuerst die Frau vom bösen Prinzip verführt wird. Sie wird zwar um ihre Würde kommen, aber nachher alles leichter und bequemer haben ... Das ist der Grund.« Ferdinand, der diesen Schluß nicht verstand, stellte eine Frage.

Der Lärm bei der Tür bewies, daß sich im Fortgang der Orgie ein neuer Wechsel vollzogen habe. Gebhart sah gramvoll drein und gab keinen klaren Bescheid:

»Vielleicht war sogar der Wille zur Entwürdigung da ...«

Basil, der für seine Bedeutung allzu lange geschwiegen hatte, entfaltete nun mit überlegener Stimme sein Panier:

»Ich weiß nicht, ob ich Ihre Anregungen vollkommen verstanden habe, Herr Doktor Gebhart. Aber ich glaube, die katholische Kirche hat im Laufe ihrer Geschichte Augenblicke gehabt, wo sie nahe daran war, den Begriff der Lustscham, wenn nicht ex cathedra, so doch de facto zu überwinden. Ich denke an eine so herrliche Erscheinung wie den Papst Alexander den Sechsten, an dieses Genie, das die protestantische Kritik zum Scheusal gemacht hat. Gott weiß, wo wir heute stünden, wären Luther und Genossen nicht über uns hereingebrochen. Noch die Gegenreformation samt der ganzen Barockkunst zeigt trotz der vorgebundenen Keuschheitsmaske das wahre Streben der Kirche, den Zustand der ursprünglichen naiven Sinnlichkeit, die Welt ohne Scham wiederherzustellen ...«

Gebhart hatte Basil höflich ausgehört. Dann aber bekam er sein wehleidiges Gesicht wie immer, wenn er sich nicht verstanden fühlte. Er murmelte:

»Nein, nein, ich meine es anders. Die Kirche, das ist ja das Vaterrecht, die Autorität in der krassesten Form ...«

Jemand hieb mit einer leeren Flasche gegen die Tür. Ein anderer drosch mit Fäusten auf die Tasten eines aufklagenden Pianos. Die schöne und schuldlose Vormärz-Einrichtung des Zimmers geriet in ernste Gefahr. Ferdinand zerbrach sich den Kopf darüber, wem von diesen tobenden Berserkern dort die rührende Wohnung gehöre. Alles schaukelte. Gebhart zog sich jetzt langsam am Tisch empor. Sein schöner Kopf mit den in die Stirn gekämmten Strähnen schwankte auf dem dünnen Hals. Aus den verglasten Augen starrte der Rausch eines ewigen Entsetzens und unstillbaren Rachedurstes:

»Ich bin Kommunist«, preßte er hervor, »weil ich das Übel klar sehe ... Einmal war die Welt anders. Nicht nur die Bibel, auch andere Urgedichte sprechen von dem goldenen Zeitalter ohne Rechtsvertrag und Richter, vindice nullo. Das ist doch kein Gefasel, sondern eine heilige Menschheitserinnerung. Dann kam der hundsgemeine Eingriff in das Schöpfungswerk. Man kann es ja gar nicht fassen und in Worte kleiden, das Gräßliche, was geschehen sein mag, als auf das Zeitalter der weiblichen Freiheit und Selbstbestimmung, auf die Erhöhung der Mutter zur Herrin die Macht der rechtskräftigen Vaterschaft, des individuellen Kinderbesitzes und des stinkenden Familienzwingers folgte. Was war der Abgrund zwischen Liebe und Scham?«

»Antreten, Ferdinand!«

Dieser bezechte Ruf kam wahrscheinlich von Weiß her. Ferdinand überhörte ihn. Der Anblick Gebharts nahm ihn völlig gefangen. Über sein verwittertes Knabengesicht war solch ein verzweifeltes Außersichsein gegossen, als ringe Gebhart in diesem Augenblick mit Gott, damit er die schuldlose Zeit der herrschenden Mutter wieder erstehen lasse. Der Schwärmer hob seine magern rudernden Arme hoch über den Kopf:

»In dieser Welt des Todes ist ja das einzige jenseitige Wunder die Lust! Es gibt nichts andres Himmlisches und Metaphysisches als sie. Aus ihr strömt alles Gute, dessen wir fähig sind, Liebe, Zärtlichkeit, dankbares Entzücken, Selbstvergessenheit, Opfermut ... Und dieses einzige Licht unserer Armut ist uns genommen worden, meine Herren! ... Können Sie es fassen? ... Oh, ich sehe den Augenblick vor mir ... Eine Horde ehrgeiziger Halbaffen stürzt aus dem Busch hervor auf die nackten ahnungslosen Frauen ... Ja, ich sehe es genau ... Kriegswilde sind darunter mit allen Auszeichnungen auf der Brust und ekelhafte Professoren-Vollbärte ... Sie können nicht lieben, sie können sich nicht freuen, so wollen sie sich rächen ... Macht, Macht, Macht, das ist das einzige Gefühl, das sie beherrscht ... Sie werfen sich über die Lebensquelle und vergiften sie mit ihrem bösen Willen ... Macht, Macht, Macht! ... Unrein, wie sie, soll fortan alles sein, alles nur hungrig nach einem, nach Selbstüberhebung ... In dem Tempel der frommen Liebeslust hängen die Halbaffen Gesetzestafeln und Waffen auf ... Den rohesten Rohling von einem vollbärtigen Halbaffen machen sie zu ihrem Gott ... Der Garten ist verwüstet ... Die Freudlosen haben die Freude in der Welt vernichtet und setzen an ihre Stelle die Notzucht ...«

»Antreten, Ferdinand!«

Noch einmal kreischte dieser besoffene Ruf auf. Gebhart – so hatte ihn noch niemand gesehn – stand wie ein Heiliger in Ekstase da und streckte seine schmalen Hände zur Decke.

Da aber trat eine jähe Totenstille ein, denn aus dem Zimmer nebenan gellten Schreckensschreie des Weibes. Mit allen andern stürzte Ferdinand in den Raum. Von tiefem Grauen geschüttelt, wurde er Zeuge einer unbeschreiblichen Szene.

Das Gesicht der nackten Frau, die auf dem Bette lag, war gedunsen, zerkratzt, die Lippen blutig aufgeworfen. Ihre Beine hielt sie weit auseinandergespreizt. Sie versuchte sich in der Rückenlage aufzustemmen, aber ihre Kräfte waren allzu erschöpft. Mit stumpfen Augen des Entsetzens starrte sie auf Zöger. Der Kriegsinvalide, dieser so ernsthafte und gesittete Mensch, war ebenfalls nackt. Doch ein wüster Dämon schien in ihn gefahren zu sein. Er hatte seine Prothese abgeschnallt und schwang sie über dem Kopf in der Luft, als wolle er das Weib damit zermalmen. Über sein zerkrampftes Gesicht strömten Tränen. Zwischen den gefletschten Zähnen zischte er unablässig: »Da, da und da, du Luder!« In diesem Ausbruch lag aber keineswegs nur Wut, sondern ein maßlos erbitterter Schmerz. War ihm während der Umarmung sein Elend, sein für immer zerstörter Körper schreckhaft bewußt geworden? Er hüpfte und tanzte auf seinem einzigen Bein irr umher. Immer wieder wollte er zuschlagen. Wimpel hielt ihn fest. Aber auch Gebhart mußte festgehalten werden, der im Zorne gegen den Krüppel drängte und keuchend hervorstieß: »Keine Gewalt!«

Ferdinand schloß die Augen. Nicht allein, weil das Bild so grauenhaft abstoßend war, blendete er es ab, sondern weil sich dahinter ein unermeßlich trauriger Sinn verbarg, den er nicht verstehen konnte.


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