Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.
Die Erkennungskapsel

Indem die Geschichtsschreiber des Weltkrieges oft auch entlegene Motive heranziehen, um die erbitterte Kampfesbereitschaft der europäischen Völker im August des verhängnisvollen Jahres zu erklären, vergessen sie ein naheliegendes Motiv, dessen Wichtigkeit nicht genug eingeschätzt wird. Der Weltkrieg war für Tausende von Menschen eine Erlösung vom Hunger.

Leset die Statistiken des Elends nach, die über das letzte Jahrzehnt vor dem Krieg aufgenommen wurden. Ihr werdet finden, daß von Jahr zu Jahr die Lohnstreiks sich verdichten, die unterirdischen Revolten stärker grollen, das Erstickungsleid der Seelen sich in sonderbaren Selbstmordepidemien zu entladen beginnt. Es scheint, als hätte das Fatum in dieser Weltminute die letzte Hand an die völlige Proletarisierung der Menschheit gelegt, aber so heimlich, daß es die Besitzenden kaum merken sollten. Wer nicht mitkommen konnte, war erbarmungslos verloren. Der Tiefkurs des Menschenlebens war schon festgesetzt, ehe ihn noch die Blutbörse auf den Markt warf. All dies ging unter einem frischgekräuselten Spiegel von Wohlstand, Wirtschaftsphrase, Dividendenlust, Kolonialdünkel, Fortschrittsrausch und eingeweihtem Kunstgerede vor sich. Die Aufruhrparteien aber wuchsen, und der gewissenhafte Kenner der Dinge weiß, daß es in keinem Jahre mehr Landstreicher und nächtliche Schwarzgäste unter Brückenbogen und auf Parkbänken gegeben hat als im Jahre neunzehnhundertundvierzehn. Für zahlreiche Existenzen also (es waren durchaus nicht nur Landstreicher dabei, sondern auch gestrandete Intelligenzler) bedeutete der Kriegsausbruch sicheres Brot, Nachtlager und Familienversorgung auf Jahre hinaus. Auch Ferdinand befand sich unter diesen Existenzen.

Es wäre aber eine Wahrheitsfälschung, zu behaupten, daß er sich aus keinem anderen Grunde sogleich kriegsfreiwillig meldete, als um einen Unterschlupf zu finden. Er glaubte wie fast alle anderen, was in der Zeitung stand. In ihm war der österreichische Offizierssohn erwacht. Der heilige Mut des Vaterlandes durchglühte ihn und die heilige Angst aller besseren jungen Leute, ohne Uniform und im Hinterland ein verächtliches Exemplar ihrer Generation vorzustellen. Das Leben, das er in den zwei letzten Jahren geführt hatte, machte ihm aber die freiwillige Meldung und den Ausblick auf eine kriegerische Zukunft wahrlich nicht schwer.

Das Leben, das er geführt hatte!

Von allen Erinnerungen, die sich dem Schiffsarzt so erstaunlich reich aufdrängen, sind diejenigen, die aus dieser dunklen Zeit stammen, die widerwilligsten. Eine Ausgestorbenheit des Gedächtnisses geht ihnen voraus und eine Leere, die dem Ohnmachtsgefühl des Geistes gleicht, der sich der Lösung einer verwickelten Rechenaufgabe nicht gewachsen weiß. Es gibt ein sinnloses, torkelndes Leid, das gleichsam in Gott keinen Widerhall erweckt, weil es nur mißbrauchtes Leben ist. Die Erinnerung an solche vergeudete Qualen erlischt nicht, aber sie stellt sich tot wie gewisse Tiere vor dem nahenden Feind.

Strafft der Schiffsarzt dann seinen Gedächtniswillen schärfer an, beginnt er zuerst ein klapperndes, schepperndes Geräusch zu hören, so stark, daß ihm die Ohren läuten, wenn die Beschwörung in der Nacht vor sich geht. Er kennt genau die Bedeutung dieses Lärms, der in den dunstigen Abwaschräumen der Restaurants um die Mittags- und Abendzeit herrscht. Wie oft hatte er sich sein Essen mit Teller- und Besteckwaschen in den großen Speisehäusern des Praters und der äußeren Bezirke verdient. Erhielt er bei dem großen Angebot diese Arbeit, so war's oft für ihn noch ein glückhafter Umstand. Es gab selbstverständlich noch ein paar andere Studenten an der Fakultät, die nicht minder bettelarm waren als Ferdinand. Diese durch altbekannte Not hartgesottenen Burschen griffen aber mit wilden Händen zu, wo sich ein Glückszipfel zeigte. Ferdinands feinere Kindheit, die luftdicht abgeschlossene Militär- und Internatserziehung machte ihn untauglich im Wettkampf um Stipendien und Vorzugsstellungen. Wenige Monate nach Engländers finanziellem Untergang war er schon so sehr herabgekommen, daß er nicht mehr in die Vorlesungen ging. Hie und da trafen zwar die kleinen Zuwendungen des Freundes ein, aber sie halfen gerade nur über ein paar Tage hinweg. Ferdinand meldete Barbara nichts von seinem Mißergehen. Er wußte, daß sie ihm bei der leisesten Andeutung seines Elends Geld schicken würde. Aber vor nichts scheute er tiefer zurück als vor den Spargroschen der alten Magd. Obgleich ihn manchmal des Nachts, wenn er sein Gesicht einer feuchten und verwanzten Proletenwand zukehrte, eine Sterbenssehnsucht nach ihr befiel, schrieb er keinen Brief, um sich nicht zu verraten. Manchmal schien sich das Schicksal seiner erbarmen zu wollen, und ein Hoffnungsstrahl fiel in die Einöde des Nahrungsmangels, des schimpflichen Quartierwechsels und des Menschengrauens, das ihm die Welt einflößte, in der er zu leben gezwungen war. Eine Hauslehrerstelle bot sich ihm in irgendeiner bürgerlichen Familie, wo er einen blöd-verschlafenen Gymnasiasten durch diese oder jene Klasse zu quetschen hatte. Dann saß er zumeist im spärlichen Nachmittagslicht eines dämmergrauen Zimmers vor einem mit Heften bedeckten Tisch und versuchte dem zerstreuten Zögling den Begriff der Logarithmen klar zu machen oder ein paar homerische Hexameter der Sprachlehre gemäß zu erläutern. Die Eltern solcher nachhilfsbedürftiger Gymnasiasten waren durchwegs strenge Brotherren. Wenn sich binnen wenigen Wochen nicht der erhoffte Schulerfolg einstellte, wurde Ferdinand wieder entlassen. So zitterte nicht nur das Söhnchen, sondern auch der Hauslehrer, wenn Vater oder Mutter von der Sprechstunde im Gymnasium heimkehrten, wo sie sich über den Fortschritt des Schülers erkundigt hatten. Ferdinand erwies sich sehr zum Mißbehagen seiner Zöglinge, die ihn sonst gut leiden konnten, als ein gewissenhafter Informator, der die Nachhilfestunden langhin ausdehnte. Wenn auch von den Gegenständen, Lehrbüchern, Aufgaben, Heften eine kaum atembare Langeweile aufstieg, so saß er wenigstens in einem warmen Zimmer und in einer gesättigten Umgebung. Hätte er diese Nachmittagsstunden besser verwenden können? In der Bibliothek? Die war überfüllt von Existenzen, die der seinen glichen. Auch hatte er sich, durch die Not abgedrängt, vom Studium schon allzuweit entfernt. Sollte er sich auf der Straße umhertreiben? Die Straße, sie machte ihn unglücklicher als jeder andere Aufenthalt, ist sie doch nicht nur ein Markt der Waren, sondern mehr noch ein Markt der Menschen. Jeder Blick, jeder Schritt, jedes Zögern, jedes Ausweichen, jedes Drängen, jedes Wenden, Kleidung, Schuhwerk, Gesicht und Blick – alles bedeutet auf diesem Menschenmarkt ein heimliches Angebot und eine heimliche Nachfrage. Die Straße zeigt uns, Männern und Frauen, was wir in der Ökonomie des verborgenen, aber unbestechlichen Wunschlebens wert sind. Was aber ist ein Mensch wert, der schlecht gekleidet ist, zerrissene Strümpfe und durchgelaufene Sohlen an den Füßen fühlt und dessen Mittagessen aus Kaffee und Brot besteht? Hat er auch solch ein hübsches Gesicht und eine gute Erscheinung wie Ferdinand, was nützt es ihm? Jede Frau weiß, daß es ein absolutes Schönsein kaum gibt, daß alles anziehende Aussehen eine Wirkung ist, die aus der inneren Kraft gesteigerter Selbstbejahung quillt. Obgleich Ferdinand nun wirklich ein hübscher Junge war, sahen ihn die Frauen doch selten an. Wenn er schnell und scheu die Häuser entlang schlich, lag nicht nur der Nebel der Armut auf ihm. Der Sohn aus gutem Hause fühlte sich deklassiert, und das kam in seiner Haltung zum Ausdruck. Noch heute überfällt ihn eine eigentümliche Furcht, wenn er in einen hellerleuchteten menschenbewegten Saal tritt.

Hatte er eine Hauslehrerstelle, so saß er, der vielen Überstunden nicht achtend, an der Seite der Lernenden und atmete gleich ihnen die staubige Luft gymnasialer Öde ein. Dann und wann am Abend oder am Sonntag behielt ihn die Hausfrau zur Mahlzeit da. Bei solchen Gelegenheiten litt er an der üblichen Hauslehrerkrankheit, an der Angst nämlich, Hunger zu zeigen und damit seine Gier nach langentbehrten Tafelfreuden offen einzugestehen. Er nahm den kleinsten Anteil von der Schüssel, und es konnte geschehen, daß die unzufriedene Dame dem wählerischen jungen Mann anriet, sich den Appetit durch Zwischenmahlzeiten nicht zu verderben.

Im Gegensatz zu anderen seinesgleichen aber krankte Ferdinand nicht an verletztem Stolz. Als er durch einen glücklichen Zufall eine Informatorstelle im Hause des Grafen H. bekam, wo er fast drei Monate lebte, wurde er der herrschaftlichen Tafel nicht beigezogen und mußte am Tisch der besseren Domestiken speisen. Wenn nicht der Fechtlehrer, ein Italiener, den das gleiche Los traf, sich stündlich über diese Behandlung das Maul zerrissen hätte, so wäre ihm die Schmach, die man gebildeten Menschen antat, kaum zu Bewußtsein gekommen. Als er diese Stellung verlor, hoben für ihn die dunkelsten Wochen seiner Armut an. Hätte er das Geld für die Reise gehabt, vielleicht wäre er, als ihn alle Kraft verließ, zu Barbara gefahren.

Der Höhepunkt seiner Bedürftigkeit fiel mit dem Kriegsausbruch zusammen. Er stellte sich noch im August der Musterungskommission für Kriegsfreiwillige. In der Kopflosigkeit der Mobilisierungszeit und der ersten Kriegsereignisse wurde er von Ort zu Ort geschickt, ehe er erst im Oktober die Zuteilung zum Ersatzkader eines in Böhmen stehenden Infanterieregiments erhielt, um die abgekürzte, aber damals immer noch mehrmonatige Ausbildung zum Einjährig-Freiwilligen durchzumachen, wie sie für den Kriegsfall vorgesehen war.

Nach all den Erlebnissen seiner Freiheitsjahre erschien ihm das militärische Leben in der kleinen Ortschaft, die beglückende Sorglosigkeit, die es mit sich brachte, wie ein Spiel. Nicht umsonst hatte er schon als kleines Kind die Kaserne und ihren Dienst kennengelernt, nicht umsonst war er vier Jahre lang Kadett gewesen. Er fühlte sich sogleich in der Uniform wohl. Sein Leben kam ihm fast wie eine Heimkehr vor. Neben ihm wurden hier noch über hundert Freiwillige gedrillt. Alle ächzten unter dem Dienst und trugen die ersten Tage lang betäubte Schreckensmienen umher. Ein Teil dieser Kameraden diente »auf eigene Kosten« und wohnte in privaten Quartieren. Die übrigen, arm wie Ferdinand, lebten in einem Mannschaftszimmer der Kaserne. Durch die spielende Bewältigung militärischer Ansprüche, deren Art in seiner Erziehung und seinem Blute lag, schuf er sich eine ziemlich gute Stellung unter der Kameradschaft und bei den Vorgesetzten. Hauptmann Prechtl, der Schulkommandant, war ihm offensichtlich gewogen. Die Umstände wirkten stärkend auf sein Selbstbewußtsein ein. Im Gegensatz zu den Söhnen aus wohlhabendem Hause, die über gutes Taschengeld verfügten, fühlte er sich dennoch wohl. Häftling die längste Zeit seines Lebens, hatte ihn die Freiheit nicht verzärtelt. Wie bei allen Internatsgeschöpfen, bedeutete es für ihn eine gewisse Erleichterung, den Befehl über sich selbst verloren zu haben. Die andern litten an der Härte des Zwanges, am Frühaufstehn, an den körperlichen Übungen, am zufahrenden Gebrüll der Chargen und Offiziere, an der stets drohenden Möglichkeit bösartiger Strafen. Ihm war das alles gleichgültig. Die meisten sahen mit Bangen dem Tag entgegen, da sie mit der Marschkompagnie dem Tode entgegenziehen sollten. Ihn bedrückte dieser Tag nicht, und für den Tod hatte er keine Vorstellung. Ohne sich über die Zukunft Sorgen zu machen, genoß er den anstrengenden Augenblick, der für ihn Ruhe und Sicherheit einschloß. Aus dieser seiner Zufriedenheit erfloß eine Mißdeutung. Manche Kameraden hielten ihn für einen Soldaten mit Leib und Seele, wo er doch nur ein Geretteter war.

Unter einigen wenigen Wehmütigen, die aus einem gutgewürzten Leben sich plötzlich in den Soldatenzwinger geworfen sahen, setzte sehr früh schon ein persönlicher Defaitismus ein. Das heißt, der Fluch, den sie in aller Heimlichkeit gegen den Krieg schleuderten, galt weniger der mörderischen Einrichtung als solcher, als den Unannehmlichkeiten und drohenden Gefahren, die ihrer warteten. Wahre Pazifisten müßten wahre Passionisten sein, weit mehr bereit als alle Kriegerseelen, einen Dulderweg anzutreten. Jene Kriegsverneiner aber erschöpften ihre mordfeindliche Moral in einer leidenschaftlich verschlagenen Wühlarbeit, mittels welcher sie sich der Einreihung in die jeweiligen Marschkompagnien zu entziehen suchten. Als mühselige und beladene Verschwörer gingen sie umher. In ihren Blicken lebte die angespannte Aufmerksamkeit verzweifelter Kämpfer, der keine Wendung des Gegners entgehen darf. Hier ließ sich vielleicht ein Kanzleiunteroffizier bestechen, einen Namen aus der Marschliste zu streichen, dort konnte man am Ende den Oberarzt erweichen, daß er einen Gesunden zur Untersuchung dem Spital überweise, wodurch schon viel gewonnen war. Wenn man die tagtägliche Furcht und Nervenqual dieser stillen Kämpfer summierte, so käme ein Empfindungsgrad heraus, der neben der Todesangst des Schützengrabens wohl bestehen könnte. Es fanden sich aber auch zwei oder drei wirkliche Helden der Drückebergerei, gewaltige Burschen, die sich nicht unterkriegen ließen. Die Frechheit ihres Widerstandes gegen das Staatsungeheuer, die Gefahr schwerster Gefängnisstrafen, die sie hervorlockten, die tausendfältige Kunst des Simulierens, die sie standhaft und unerschrocken übten, auch sie war eines Lorbeers wert. Der verwickelten Zusammensetzung des Reiches gemäß, war die Gruppe der großen Patrioten in der Minderzahl. Sie hatte, bei Ferdinands Kader wenigstens, das Unglück, aus minder sympathischen Elementen zu bestehen. Die hoffnungslose Phantasiearmut dieser Draufgänger verquickte den großen Gedanken des Sieges mit lauten Träumen von silbernen und goldenen Tapferkeitsmedaillen, was allseits unangenehm auffiel. Die große Menge war hier wie überall Kanonenfutter. Ferdinand fühlte sich unter den Unauffällig-Wartenden am wohlsten.

Noch in der ersten Nacht, die er beim Kader zubrachte, hatte er einen Brief an Barbara geschrieben. Einige Tage verlebte er in einer sonderbaren Erwartungsangst und Niedergeschlagenheit. Dann kam Barbaras Antwort. Es ging ihr nicht schlecht. Sie war gesund und wirtschaftete in Frieden mit der Schwägerin. Als Ferdinand die schräge Kinderschrift auf dem Briefumschlag sah, wurde ihm fast übel vor Herzklopfen. Sie sandte ihm, vermeinend, er ziehe unverzüglich ins Feld, angsterfüllte Worte und flehte ihn an, ihr fleißig Feldpostkarten zu schreiben. Noch immer nannte sie ihn »junger Herr« und »Er«. Wegen seines jahrelangen Schweigens fiel kein Wort des Vorwurfs.

Der Brief kam mit einer Sonntags-Morgenpost. Ferdinand, der sehr bewegt war und das endlose Geschwätz dienstfreier Tage fürchtete, machte einen Spaziergang entlang der Elbe, in deren Stromgebiet dieser Ort lag. Irgendwo in der Nähe, angesichts eines vulkanisch geformten Waldberges, dessen Kegelform ihn wundersam beruhigte, legte er sich ins Ufergras, denn es herrschte kein Novemberwetter, sondern ein falscher Frühling. Ferdinand hielt Barbaras Brief in der Hand, ohne zu lesen, ebenso wie er dem schönen Spiel der starken Strömung mit dem Möwenflug darüber zusah, ohne dies alles zu bemerken. Kindliches Glück erfüllte ihn. Lang streckte er sich hin. Da rief ihn eine Stimme an. In der Meinung, es könnte ein Offizier sein, riß er sich zusammen und sprang auf. Aber es war nur ein anderer Freiwilliger, von dem er bisher bloß den Namen wußte, sonst nichts: Ronald Weiß. Da noch keine zwölf Tage seit dem Einrücken vergangen waren, hatte man einander noch kaum kennengelernt. Weiß, ein kleiner, aber stämmiger Kerl mit scharfen unsicheren Augen und indianerhaft mageren Zügen, denen man es anmerkte, daß Verwegenheit ihr Wunschideal war, setzte sich neben Ferdinand:

»Du brauchst dich mir nicht vorzustellen«, sagte er, stolz wie ein Preisschütze, der sein Ziel nicht verfehlen wird. Und er traf sogleich ins Schwarze, indem er Ferdinands Familiennamen nebst sämtlichen Vornamen hersagte und das Geburtsdatum hinzufügte. Dann schoß er weiter:

»Dein Vater war Oberst des Infanterieregiments Nr. 73, Inhaber der Eisernen Krone zweiter Klasse, des Leopoldsordens und des Ritterkreuzes vom Franz-Josef-Orden ... Stimmt das?«

Ferdinand machte eine erstaunte Wendung. Weiß war mit seiner Wissenschaft noch nicht fertig:

»Kämpfer von 1866, sehr angesehener altösterreichischer Offizier ... wie?«

»Woher weißt du das?« fragte Ferdinand. Weiß ließ sich aber nicht aufhalten:

»Du selber hast die unteren Klassen der Militärmittelschule besucht, wodurch wir andern gehandikapt sind, du Schlaumeier! Leugnen hilft nichts.«

»Ja, aber wie hast du das alles herausbekommen?«, verwunderte sich Ferdinand, der noch immer Barbaras Brief in der Hand hielt. Weiß schielte auf das Papier:

»Soll ich erraten, von wem dieser Brief ist?«

»Nein«, wehrte Ferdinand ab und steckte ihn ein. Dann riet er selber:

»Du bist im Zivil Detektiv, nicht wahr?«

»Oh, etwas viel Detektivischeres noch. Hast du denn nie meinen Namen gelesen?«

»Nein«, sagte Ferdinand aufrichtig, woraufhin Weiß ernsthaft gekränkt war und spaßhaft böse tat:

»Wie? Und Homer kennst du? Wie? Diesen alten Trottel von einem blinden Kriegsberichterstatter?«

Ferdinand kam über sein Erstaunen nicht so rasch hinweg:

»Du scheinst von jedem alles zu wissen. Wie verschaffst du dir nur die Daten ...?«

»Also mein biographisches Geschäftsgeheimnis werd ich dir nicht verraten. Aber zwei Dinge will ich dir sagen: Erstens, daß ich mich für dich interessier', und zweitens, daß du ein schreckliches Ekel bist. Warum nützt du es gar nicht aus, daß du zur Familie der Aktiven gehörst? Wär dein Alter noch am Leben, wer weiß, vielleicht würde er ein ganz großes Tier sein. Stell dir nur vor, was du dann für eine Nummer wärst. Aber auch so! Alle Aktiven, und was zu ihnen gehört, halten jetzt fest zusammen. Mies ist ihnen schon vor dem Krieg, der gefährlich ist, ihnen das Geschäft verdirbt und Reserveoffiziere ausbrütet wie der Frühling die Wanzen. Merkst du denn nicht, wie dich der Hauptmann Prechtl bevorzugt?«

Zwischen den beiden Freiwilligen bahnte sich in der Folge dieses Gesprächs eine wachsende Freundschaft an. Ronald Weiß war mit seinen dreißig Jahren schon ein Journalist von großem Namen. Er schrieb für die bedeutendsten deutschen und österreichischen Zeitungen. Seine Stellung hatte er sich durch einige glänzende Abenteuer im amerikanischen Sinn erobert, die er mit einem niederwerfenden Temperament zu beschreiben wußte. Er war als Leichtmatrose auf einem kleinen Segler über den Ozean geschifft; er hatte als Landstreicher eine Walz durch Deutschland unternommen, um die Obdachlosenheime und ihre Gäste kennenzulernen. Als Flößer, als Teepflücker, als Ausgrabungsarbeiter und als Chorsänger hatte er konditioniert und all diese Lebens- und Berufsformen in Aufsätzen beschrieben, die als besonders schmackhafte Spezialität bei Herausgebern und Publikum ausnehmend beliebt waren. Er kann das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, der Schöpfer dieser heute vielgeübten publizistischen Spielart zu sein.

Es ist selbstverständlich, daß Ronald Weiß sogleich bei Kriegsausbruch von allen Seiten die gesuchtesten und gesichertsten Berichterstatterstellungen angeboten bekam. Er lehnte alles schlankweg ab, denn ihm war es darum zu tun, den Krieg als Infanterist, als Grabensoldat zu erleben, mehr aus Gründen der journalistischen Erkenntnis natürlich als aus patriotischem Pflichtgefühl. Unermüdlich witzig, von Leben triefend, mit einer kraftvollen und lustigen Natur begabt, besaß er überdies noch die Gloriole der Kühnheit, die ihm seine Fahrten und Erlebnisse eingetragen hatten. Er fand auch hier beim Ersatzkader sogleich einen Kreis junger Leute, die ihn bewunderten. Als berühmte Persönlichkeit nahm er eine Ausnahmestellung ein, was sich darin zeigte, daß er neben einem Reichsratsabgeordneten, der ebenfalls hier diente, als einziger Einjährig-Freiwilliger gewissen Kameradschaftsabenden des Offizierskorps zugezogen wurde. Diese Einladungen aber hatte er vor allem einigen Gaben zu danken, die in dem reichen Kranz seiner Fähigkeiten nicht fehlen durften. Er konnte die bekannten Schauspieler auf das trefflichste nachahmen, verstand sich mit staunenswerter Fertigkeit auf Kartenkunststücke, ganz zu schweigen von seinem Bauchrednertalent und der Jonglierkunst, die er sich unter Artisten angeeignet hatte, als er einst zwei Wochen im grünen Wagen einer Zirkusgesellschaft zubrachte. Daß Ferdinand diesen Tausendsassa bewunderte, ist weiter nicht merkwürdig. Viel merkwürdiger bleibt es, daß jener sich an den unscheinbaren jungen Menschen anschloß. Es muß ein geheimnisvolles Gesetz in Ferdinands Wesen geben, wonach er immer wieder auf Worte-Menschen eine starke Wirkung ausübt. Vielleicht liegt hier eine Wirkung des Gegensatzes vor. Es gibt ein Schweigen, das alle einfallsflüssige Rede vor ihr selber entlarvt und unsicher macht. Aus einem ähnlichen Grunde werden eingefleischte Großstädter in einer ruhenden Landschaft eigentümlich nervös und unglücklich, dennoch aber zieht es sie immer wieder dahin. Zum zweitenmal gelang es dem jungen Ferdinand, einen überlegenen, kenntnisreichen Worte-Menschen an sich zu fesseln. Auf den Fall Engländer folgte der Fall Weiß. Ferdinand war nicht so einfältig, die beiden miteinander zu vergleichen. Alfred Engländers Witz strömte aus einer leidenschaftlichen Bitterkeit, aus einer erkämpften Gesinnung, die bereit war zu leiden und zu verzichten. Weißens Witz entzündete sich ohne tiefere Herkunft an der Wirkung, die er erntete. Seine schnellen und unruhigen Augen verrieten das, wenn er gierig den Beifall der Runde einkassierte. Es kann nicht geleugnet werden, daß Weiß in gewissem Sinne um Ferdinand warb. Er suchte sein Wohlwollen und konnte in manchen Augenblicken des moralischen Katzenjammers fast kriecherisch werden. Obwohl er dann genau wußte, daß Ferdinand ihn nicht durchschaue, sprach er doch so, als sei er überzeugt, jener durchschaue ihn. Dabei arrangierte er eine gefällige Auslage seiner sittlichen Gebrechen und Lebensnöte, die dem Auge eines ungeübten Seelenkenners sympathisch angepaßt war. Es kam zu jener Spiegelfechterei, die den Zweck verfolgt, sich durch Selbstanklagen im Spiegel eines unschuldigeren Wesens reinzuwaschen, in einem Spiegel, von dem man gewiß ist, daß er selbst den Schmutz noch als reine Farbe zurückwirft. Jeder Mensch, den sein Talent dazu treibt, sich zum Narren herzugeben, kennt diese Art Spiegelung genau.

Ferdinand kümmerte sich wenig um Ronalds Verzwicktheiten. Er bewunderte und lachte. Lachte und bewunderte er einmal weniger als gewöhnlich, so konnte Weiß unglücklich und eifersüchtig werden wie ein Weib. Rundheraus gesagt, der Journalist war ein Ehrgeiziger, gemildert durch Eitelkeit. Dies ist ja das Versöhnende an der Eitelkeit, weshalb man sie mit den Jahren unter den menschlichen Schwächen höher schätzen lernt, daß sie den bösen Willen aufhebt. Sie annulliert das teuflische Zielstreben, da sie die käufliche Dirne jedes Augenblickes ist. Kein Rachsüchtiger aber, kein wahrhafter Mörder und kein wahrer Sieger darf eitel sein.

Weiß war kein gewöhnlich Eitler. Er litt an seiner Eitelkeit, er litt selbst an seinem Talent, das ihn immer wieder abstürzen ließ. Der unersättliche Drang des Ewig-Glänzen-Müssens peinigt auch. Ferdinand hat so manche seiner Geschichten im Gedächtnis behalten. Das Repertorium umfaßte zwei Hauptrichtungen. Die eine bewährte sich an Anekdoten, die darin gipfelten, daß Weiß die Wahrheit über gewisse Größen der Weltgeschichte zu kennen vorgab. Sofern sie lebten, behauptete er, ihre persönliche Bekanntschaft zu besitzen. Aber auch dann, wenn sie der monumentalsten Vergangenheit angehörten, waren sie vor seiner Eingeweihtheit nicht gefeit. Er hatte nämlich in den meisten Fällen die Entdeckung gemacht, daß sie aus irgendeinem Winkel seiner eigenen Vaterstadt oder zumindest aus einem penetrantlautenden Neste seines weiteren Heimatlandes stammten, was für die Tischrunde der Landsleute eine unerwartete Herabsetzung und damit Lachstoff genug bedeutete. Wenn Weiß zum Beispiel die abenteuerliche Forschungsreise in ein derartiges Nest beschrieb, wo ihm ein verbissener Sonderling Dokumente und Geburtsmatrikel vorlegte, aus denen hervorging, daß Napoleon gar kein Korse gewesen sei, sondern ein junger Mann namens Neplatil, der später seine Spuren hochstaplerischerweise verwischt habe, dann freute sich alles über den spaßigen Blödsinn. Der Witzgehalt solcher Geschichten lag in der Entlarvung von Helden, die Weiß auf sein eigenes und das Maß seiner Kumpane zurückführte, worüber sie sich ehrgeizig erhoben hatten. Das andere Erzählungsschema hing mit der Verbrecher- und Dirnenverehrung zusammen, wie sie schon vor dem Kriege in Mode gekommen war. Ronald Weiß war ein guter Junge, der keinem Wesen weh tun wollte und mit tiefbürgerlicher Sentimentalität an seiner Familie hing. Zugleich aber war er mit den Restbeständen seiner kindlichen Wildwest- und Kriminallektüre nie fertig geworden. Als Gerichtssaalberichterstatter rühmte er sich der Freundschaft aller Verbrechergrößen der Vorstädte, der Hochachtung vieler Zuhälter und der echten Liebe so mancher Prostituierten. Diesbezügliche Anekdoten schlossen meist mit einer pompösen Szene. Weiß befindet sich in einem mondänen Ort der Riviera oder er sitzt in einem vornehmen Salon, wohin er durch Zufall geraten ist. Die schönen Trägerinnen großer Namen erfüllen den Raum. Da fällt ihm das Gesicht einer bezaubernden Madonna auf, die als Gräfin Soundso angemeldet wurde. Das Gesicht müßte er kennen. Irgendein Irrtum! Er erinnert sich nicht. Es wird ihm ganz unbehaglich zumute, denn die Schöne zeichnet ihn immer deutlicher mit schmachtenden Blicken aus, die um seine Aufmerksamkeit werben. Endlich nähert er sich ihr, vor Demut ersterbend. Sie aber flüstert in den heimischesten Lauten: »Aber Ronny, kennst mich denn nimmer? Ich bin ja die Lola vom Blauen Affen.«

Oft waren diese Geschichten weniger grob erfunden, und es lag ihnen sogar ein überzeugender Kern der Wahrscheinlichkeit zugrunde. Mochten sie aber sein was immer, sie erfüllten ihren Zweck, indem sie einer des Abmarsches wartenden Horde von Kriegsopfern die Abendstunden vertrieben.

Was Weiß an Ferdinand am allerwenigsten begreifen konnte, war seine Blödigkeit gegenüber den Frauen. Er selber rühmte sich des lästigen Glücks, daß ihm von den sieben Nächten der anstrengenden Woche keine einzige frei und einsam blieb. Die Frauen belagerten seine Bude, und er schien zu keinerlei Treue genötigt, da es fast immer andere waren, die ihm nachstellten: nicht nur die Dirnen der Hauptstadt (seine Freundinnen), die eigens zu ihm hieherfuhren, sondern auch verheiratete Frauen, Bürgermädchen und Arbeiterinnen, welche sich »vom Sehen« in ihn verliebt hatten. Was die Dirnen anbelangt, so war er auf ihre Glut besonders stolz, denn er urteilte, daß die Liebe, die immer zu haben ist, am seltensten zu haben ist. Mit einem dieser Mädchen ihren Freund durch wirkliche Liebe zu betrügen, dies erschien dem Glückspilz als ein Gipfel erotischer Verwegenheit und männlichen Erfolgs. Weiß, wie die meisten kleingewachsenen, unansehnlichen Leute, gierte nach unausgesetzter Bestätigung seiner Vollkraft und Liebesgültigkeit. Um so unbegreiflicher für ihn, daß ein schöngeformter blondhaariger Bursch wie Ferdinand sich so schwierig anstellte.

Es kamen manchmal Tage des Überdrusses, wo Weiß das Bedürfnis fühlte, sich vom Rudel seiner männlichen und weiblichen Bewunderer zu trennen. Dann unternahm er mit Ferdinand Spaziergänge in die Umgebung oder sie hockten zu zweit in irgendeiner finsteren Dorfschenke. Diese gemeinsamen Sonntagsstunden – die Müdigkeit des militärischen Alltags machte Spaziergänge sonst unmöglich – waren Ferdinand weitaus die liebsten. Weiß, den jegliche größere Gesellschaft sogleich zum Brillieren aufstachelte, war verwandelt. Er sprach jetzt stundenlang mit einer merkwürdig unterwürfigen Begeisterung von Büchern. Jene kalte Aufgeregtheit, die er sonst zur Schau trug, verließ ihn, und er führte das Gespräch nach Ferdinands Sinn. Es zeigte sich, daß auf dem Wesensgrund des entwertenden Witzbolds eine fast komische Ehrfurcht vor allem Höheren lagerte, mochte es der geistigen, tätigen oder gesellschaftlichen Welt angehören. Aber wenn bei der Heimkehr das Städtchen und mithin die Hoffnung auf neue Erfolge in Sicht kam, war Weiß mit einem Schlag wieder der alte. Einmal, als es bei solch einem Ausflug schon spät geworden war, beschleunigte er beim Rückweg das Tempo, um ins ›Deutsche Haus‹ zurechtzukommen, wo sich allabendlich sein Stammtisch versammelte.

Ferdinand ärgerte sich darüber und schlug absichtlich keine schnellere Gangart an, so daß Weiß vorauslief. Als er merkte, daß er Ferdinand nicht zu einem rascheren Marsch bestimmen konnte, blieb Weiß stehen und drehte sich ganz traurig um:

»Warum bist du so streng mit mir?« fragte er.

Neben den Helden der Drückebergerei gab es in der Freiwilligenschule noch zwei oder drei »schwere Jungen«, rauflustige Kampfnaturen, Ordnungsfeinde, deren Stolz es war, vor keiner Tat und keiner Strafe zurückzuschrecken. Sie hielten sich weder an die Stunde des Zapfenstreichs noch an die Stunde des Antretens, sie kamen betrunken zum Dienst oder verließen ihn ohne Erlaubnis, sie gingen am hellichten Tag im Zivil über den Marktplatz und scherten sich den Teufel um die bitteren Folgen. Diese blieben nicht aus. Lang noch, ehe ihre Ausbildung abgeschlossen war, wurden sie insgesamt mit den jeweils nächsten Marschkompagnien an die Front befördert. Sie zeigten sich darüber keinen Augenblick bestürzt, als hofften sie draußen im Felde so recht in das zügellose Element zu geraten, das ihrem Wesen entsprach. Diese Aufrührer bewunderte Weiß aus tiefer Seele und suchte ihren Umgang, ohne daß er, selbst ein Vielbewunderter, von ihnen vollgenommen worden wäre. Die Praktiker der Verwegenheit spürten genau, daß Weißens Mut und Tatendrang nicht ganz naiv war, sondern eher dem Ehrgeiz nach Verfluchtheit entsprang als einem natürlichen Bedürfnis. Das ging so weit, daß der Journalist, der in Ferdinands einsamer Gesellschaft eine Stunde lang vor einem einzigen Glase Bier sitzen konnte, in der Gegenwart jener Kraftnaturen den unbändigen Trinker hervorkehrte. Er mochte tun, was er wollte, trotz seiner sonstigen Erfolge und seines revolutionären Gehabens, die Freundschaft der Gewaltskerle errang er nicht. Er kam über die Ausbildungszeit mit einer kleinen Arreststrafe hinweg, die sich allerdings in seinen späteren Erzählungen zu einer rühmlichen Kerkerqual steigerte. Gemeinsam mit Ferdinand und dem übrigen Nachwuchs rückte er nach dem neuen Jahre zur Korporalswürde empor, womit die Zeit des Frontdienstes und die Einteilung in eine Marschkompagnie gegeben war.

Die riesigen Verluste der österreichischen Armeen auf allen Kriegsschauplätzen forderten den Nachstoß neuer ungeheurer Menschenmassen. Die Ersatzkaders, diese rührigen Fabriken zur Erzeugung von Blutfutter, arbeiteten fieberhaft. Es vergingen kaum ein paar Wochen, und immer wieder stand ein neues kriegsmäßiges Bataillon marschbereit. Allerdings, es war sehr bald schon minderwertige Ware, die da von den Fabriken geliefert wurde. Sah man nur auf die Verpackung, schien diese Ware anfangs noch leidlich brauchbar zu sein, aber wie auf allen anderen Lebensgebieten, begann auch auf dem der Menschenbelieferung der »Ersatz« in jedem Sinn sehr rasch eingeführt zu werden. Dies machte jedoch der Führung nicht allzuviel Kummer. Die Tüchtigkeit der Ware nämlich lag weniger im Gebrauchswert des einzelnen als im passiven Schwergewicht der Masse, so daß es dem Rekruten, der ins Feldgrau gekleidet wurde, genügen mußte, wenn er halbwegs den Gewehraufsatz stellen und das Züngel abdrücken konnte. Es gab immer häufiger ein Abschiedsfest auf dem Kasernhof, bei welchem mit Eichenlaub bekränzte Opfergestalten in Reih und Glied standen, der Feldkurat im Schnellzugstempo immer dieselbe Ansprache hielt, der Kommandant desgleichen, wenn auch im schwungvolleren Stil, und die aus Untauglichen zusammengesetzte Musikkapelle immer schwindsüchtiger für Marschbegeisterung sorgte. Auf dem Wehgeheul von Vätern, Müttern, Frauen und Lebensgefährtinnen schwamm eine dünne Schicht von Hochrufen wie die Haut auf einem ausgekühlten Milchkaffee, und eh man sich's versah, hatte der Bahnhof den traurigen Traum verschluckt. Mit jedem abziehenden Transport nahm die Zahl der Freiwilligen reißend ab. Weiß und Ferdinand traf das Los ziemlich spät. Was den letzteren anbelangt, dürfte Hauptmann Prechtl die Ursache der Verzögerung gewesen sein. Erst als er selber zum Führer zweier Marschkompagnien kommandiert wurde, erhielten die beiden auch den Bereitschaftsbefehl.

Jeder, der es erlebt hat, weiß, welch einen eigenartigen Zustand die Spanne umfaßt, die zwischen der Einteilung in eine sogenannte Marschkompagnie und dem Abreisetag liegt. Warten! In einer scharfen Verkleinerung steckt in diesem Wort das Wesen der Lebensspannung überhaupt. Alles der Zeit Unterworfene wartet. Das so sehr hörbare Rauschen der Stille ist nichts anderes als die Musik des Wartens. Sie grundiert auch noch die städtisch-lärmendste Minute. Unter den Soldaten aber und im Kriege wird die reine Idee des Wartens zur blutigen Wirklichkeit. Jede Stunde kann die Entscheidung bringen, und jede Stunde bringt sie, sei es auch nur als falschen Alarm: »Hast du den fremden Hauptmann gesehen, der jetzt in der Kanzlei ist?« »Nein.« »Der Kerl kommt sicher vom Platzkommando. Er hat ein auffällig halboffiziöses Gesicht gemacht, und der Alte hat nach dem Rechtsum (Rechnungsunteroffizier) gebrüllt. Vergatterung zum Heldentod, sag ich dir.« Oder: »Ich hab einen Bekannten, der mit dem Bahnmeister verwandt ist. Also lach nicht, du schlecht adjustiertes Tragtier! Morgen wirst du nicht lachen, denn die Lokomotive unseres Trains steht schon unter Dampf.«

Den prickelnden Gerüchten ist kein Ende gesetzt, bis, gemäß der vorbildlichen Dramatikertechnik Gottes, der Marschbefehl in eine Stunde der Entspannung hineinplatzt. Die Wartezeit über genießt die Mannschaft eine Sonderstellung und Schonfrist. Sie gehört schon anderen Göttern an und versieht den täglichen Dienst mit einer lässig-deutlichen Verachtung für das Hinterland. Weiß schaffte sich als erstes ein paar Notizhefte an, um für die Führung seines Kriegstagebuchs gerüstet zu sein. Überdies trug er von Stund an ein Schillerhemd unter der Uniform, wodurch er andeutete, daß für ihn das Salutier- und Exerziersoldatentum aufgehört habe. Auch Ferdinands Nerven zitterten vor Erwartung, und es half ihm nichts, daß er sich immer wieder sagte, er habe dort und hier weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren.

Eines Tages, als er Kaserndienst hatte, jagte der Feldwebel durch die Räume und schrie:

»Alles zusammentrommeln! Monturfassen! Gewehrvisite ...«

Ferdinand wußte sofort: Der Befehl ist da! Im ersten Augenblick war's ein leichter Schreckblitz. Dann entwickelte sich etwas wie angenehme Hoffnung auf eine bewegte Zukunft, die ihm Gutes bringen könnte. Wenn wir nur schon fort wären, dachte er. Einige Tage noch! Sie waren erfüllt von Hin- und Herrennen, sinnlosem Rufen und Gerufenwerden, von einem gehetzten Treppauf Treppab, daß man sich wundern mußte, wie die sechshundert Mann der beiden Marschkompagnien zuletzt doch in Ordnung kamen. Nun steckte Ferdinand in der neuen groben Montur, die ihm brennend die Glieder kratzte. Der Kopf war ihm glattgeschoren worden wie einem Verbrecher. Sein Rucksack mit der eisernen Büchsenration, den Patronen, dem anderen Stiefelpaar, der Wäsche, den Büchern, die er mitnahm, den Brotlaiben – war so schwer, daß er nicht hoffte, ihn je erschleppen zu können. In den Mannschaftszimmern herrschte ein aufgeregter Dunst. Die Soldaten, die wenige Tage vorher noch die Freiwilligen wie Herren behandelt hatten, sahen in ihnen jetzt gewöhnliche Chargen, denen man mißtrauen mußte. Über so untaugliche Leute, wie den dicken Wellemin, ergossen sie ohne Scheu ihr Hohngelächter. Mit einem Schlag war der letzte Rest kameradschaftlich-scherzhaften Wesens aus der Gemeinschaft gewichen, ein geschäftiger Egoismus machte sich breit. Jeder wollte von den Sorten und Gebühren das Beste für sich erwischen. Ferdinand zog wie immer bei solchen Kämpfen den kürzeren. Als er dem Magazinsleiter die schadhafte Wäsche vorwies, die er gefaßt hatte, knurrte ihn dieser an:

»Jeder Hund muß selber um den Knochen raufen.«

Je näher die Stunde rückte, um so fremdartiger wurde der Ernst, der nun Ferdinand erfüllte. Auch Ronald Weiß war auf einmal kleinlaut geworden und schrieb den ganzen Tag lang Briefe. Im letzten Augenblick langte für Ferdinand Geld ein. Engländer sandte ihm zweihundert Kronen, die er für den Freund von seiner Rente abgespart hatte. Dies war eine Riesensumme für Ferdinand. Merkwürdig, welch ein starkes Gefühl des Schutzes und der Sicherheit vom Gelde ausging. Selbst der schreckliche Rucksack schien ihm jetzt leichter geworden zu sein.

Alles war bereit. Nur eine Kleinigkeit fehlte noch. Die Mannschaft wurde gruppenweise in die Kanzlei getrieben. Ferdinand hielt plötzlich einen talismanartigen Gegenstand, der an einer Schnur hing, in der Hand. Eine kleine Metallkapsel, auf der die Nummer des Regimentes eingestanzt war. Zugleich bekam er einen kleinen Zettel mit dem Befehl ausgefolgt, die vorgedruckten Rubriken auszufüllen: Namen, Alter, Zivilberuf. Einem starken Anreiz gehorchend, begann er nicht zu schreiben, sondern zu kalligraphieren: Haarstrich, Schattenstrich, Schnörkel, er wußte nicht, warum ... »Schneller, schneller«, eiferte ihn der ungeduldige Kanzlist an. Aber Ferdinand, selbstverliebt in sein Geschreibsel, ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Er genoß, die Sache hinausziehend, den Reiz der Buchstaben, als wären sie sein ganz besonderes Eigentum. Endlich kam er zu der Zeile: Vater, Mutter, Angehörige. Ein kleines Weilchen dachte er nach. Dann legte er wie ein Schreibanfänger den Kopf schief über den Arm und malte mit den größten Lettern, die Raum hatten, Barbaras Namen und Adresse auf das Papier der Totenerkennungsmarke.

In der Nacht konnte er nicht schlafen. Er warf sich hin und her. Bei jeder Bewegung flüsterte der Strohsack. Ferdinand setzte sich auf. An seinem Tischchen weit unten saß der Inspektionssoldat vor der Petroleumlampe, deren muffiges Licht kaum den Nebel des Saales durchstach. Er stand auf, schickte den Gefreiten zur Ruhe und übernahm selbst den Dienst. Jetzt saß er regungslos und betrachtete den bewegten, ja wogenden Schlaf dieser Männer, denn immer wieder erhob sich auf den Pritschen ein gelblich umhemdeter Körper wie eine Woge und fiel zurück. Es herrschte kein seichter, aber ein ruheloser Schlaf, wie man ihn nur vor großen Lebensentscheidungen schläft. Manchmal stieß einer aus der Tiefe seines Verlorenseins mehrere gurgelige Worte aus, grob, kurz und mit sachlicher Betonung. Dann geschah es auch, daß ein anderer ihm ebenso antwortete. So besprachen sich die armen tagstummen Seelen hinter den Mauern ihres Schlafgefängnisses, ohne einander zu verstehen.

Auf den Gängen scharrte dann und wann eine schleichende Bewegung vorbei. Im Hof unten knallte Postenschritt. Die Männer hier wurden gut bewacht. Es war dafür gesorgt, daß keiner seinem Schicksal entgehe. Von Monat zu Monat lauteten die Verfügungen strenger, denn es hatten sich Unbotmäßigkeiten ereignet, für die das Kriegsgesetz die Todesstrafe vorsieht. Ferdinand hörte das verzweigte Atemkonzert der Schläfer. Er hatte ja so selten noch das Glück gehabt, ein eigenes Zimmer zu besitzen, und er kannte das Ärgerliche, Empörende des Schläferatems, dem man in ruhelosen Nächten haßverzerrt lauschen muß. Einer stöhnte, einer summte, einer schnarchte, einer seufzte, einer sang. Ferdinand ärgerte sich jetzt nicht. Ihm war, als höre er wohl keine schöne, aber eine tiefsinnige Musik. Jeder Atemzug schien ein zukünftiges Schicksal zu erzählen. Ferdinand faßte den natürlichsten Gedanken, den an seiner Stelle auch jeder andere gehabt hätte: Wer von diesen Männern wird heimkehren? Jetzt schlafen sie und in einigen Tagen vielleicht ...

Das Sonderbare aber war, daß sich Ferdinand, im Augenblick wenigstens, von diesem Gedanken selber ausschloß. Jetzt, in diesem unheimlich schwingenden Raum fiel ihm sein eigenes Schicksal nicht ein. Ihm war zu Mute, als gehöre er diesen Schläfern gar nicht zu. Sie schliefen ja und er wachte. Irgendwo war Gott. Und hier auf ihren Strohsäcken wälzten sich die Menschen. Dazwischen aber, regungslos auf einer unräumlichen, unweltlichen Nebelinsel, saß er vor einem kleinen Licht. Ein völlig unbekannter Zustand wandelte ihn an, eine ferne, aber erschütterte Zuneigung. Ihm wurde der Atem so enge, daß er langsam die Arme gegen die Schläfer ausbreitete.


 << zurück weiter >>