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Sechstes Kapitel.
Der Tanz des Wunderrabbi

Eine Woche lang ließ sich Engländer nicht blicken. Ferdinand, den das Ganze tief beunruhigte, erschien an einigen Abenden in dem kleinen Kaffeeschank. Vergebens! Auch Simon Kurz zeigte sich nicht.

Am neunten Tag endlich stand Engländer wiederum in dem kleinen Zimmer seines Freundes. Es war gegen vier Uhr nachmittags. Ferdinand wollte gerade fortgehen.

»Kurz wartet unten«, sagte Alfred. »Er wollte diese Wohnung nicht betreten. Wir haben zwar darüber verhandelt, aber man kann niemals wissen, meint er. Er will keinen Fehler begehn. Übrigens liegt ein sehr strenges Fasten der Vorbereitung hinter uns. Heut wird's wahr gemacht. Wenn Gott uns hilft, werden wir die Brücke schlagen. Du siehst, ich kann mich vor Schwäche und Aufregung kaum auf den Beinen halten. Der Dunajower Rabbi, an dessen Hof wir jetzt gehn werden, ist eine der größten Figuren der jüdischen Hierarchie. Er spielt in ihr eine gewichtigere Rolle vielleicht als mancher Kardinal in der Kirchenwelt. Unabsehbar, wenn es uns gelingt, ihn davon zu überzeugen, daß Jehoschua aus Nazareth der rechtmäßige Messias Israels war. Kannst du ermessen, was das heißt, nach neunzehnhundert Jahren der Feindschaft Israel mit Christus zu verschmelzen?? Ein neues Zeitalter der Erde bricht an! Ach Gott, es kann natürlich nicht gleich beim ersten Versuch gelingen, ich weiß das selbst sehr genau. Aber leider, leider hab ich so wenig Zeit mehr ...«

Ferdinand hängte seine Kappe wieder auf den Nagel:

»Was hab denn eigentlich ich dabei zu suchen?«

Alfred Engländer hatte heute alles Verletzende und Höhnische abgetan. Er bat demütig:

»Laß mich nicht im Stich, Ferdl! Wenn du auch als ein unschuldiger Goi die ganze Tragweite der Idee noch nicht erfassen kannst, laß mich nicht allein! Du bist mein einziger Freund und sollst in der größten Stunde meines Lebens, von der man wohl noch in Jahrhunderten sprechen wird, bei mir sein als mein Zeuge ... Bitte, komm jetzt! Kurz ist ein schwacher, kranker Mensch und hat tagelang gefastet. Das lange Warten könnte ihm schaden!«

Simon Kurz, der die beiden Freunde unten auf der Straße empfing, sah wirklich zum Erbarmen aus. Er hielt wie immer die Augen halb geschlossen und schwankte bei jedem Schritt.

Ferdinand stellte die Frage, mit welcher Straßenbahn man ans Ziel gelangen könne. Kurz sagte nichts und versuchte nur schneller zu gehn. Auch Engländer hüllte sich in Schweigen. Es war klar, daß aus irgendwelchen religiösen Gründen der Gang zu Fuß zurückgelegt werden mußte.

Nur einmal verfiel während dieses denkwürdigen Weges Engländer in ein abgerissenes Selbstgespräch. Er träumte von dem nächsten Schritt, der zu tun sei, sollte der Dunajower Rabbi der neuen Wahrheit sein Herz öffnen. Eine Zusammenkunft zwischen dem jüdischen Exilarchen und einem katholischen Kirchenfürsten müsse durchgesetzt werden, damit die Vorbedingungen des großen Friedens zwischen Israel und Christus zur Verhandlung kämen. Die Kirche werde jubeln, sei doch die Bekehrung der Juden ihre allerälteste und allerheiligste Sehnsucht.

Simon Kurz bog in eine entlegene Gasse der Leopoldstadt ein. Das Haus, das sie betraten, war ein dunkles Proletarierhaus voll von scharfen und feucht-fauligen Gerüchen, wie alle Häuser ringsum. Die Menschen aber, die es bewohnten, schienen keine Proletarier zu sein. Die Last einer peinigenden Fremdheit legte sich auf Ferdinands Brust. Ehe er im Zwielicht des Flurs noch etwas unterscheiden konnte, hörte er ein erregt scharrendes Auf und Ab in allen Stockwerken, das Schlagen von hundert Türen und ein dumpfes, gleichmäßiges Geschrei, das einem verdorbenen Gesange glich. In großen Intervallen sprangen die Laute immer wieder die Tonleiter hinauf und blieben oben erschrocken und fragend stehn.

Auch Engländer schien unter einer ähnlichen Beklemmung zu leiden wie Ferdinand. Er machte plötzlich einen passiven und willenlosen Eindruck. Simon Kurz faßte seine Begleiter an und zog sie vorwärts. Jetzt erst lösten sich Gesichter aus der Fahlheit des Durchgangs. Weiber mit großköpfigen Kindern drängten näher. Überschwengliche Neugier starrte die Fremden an, Neugier, aus deren Tiefe die Abneigung hervorlugte.

Die Bewegung in diesem Hause war so lebhaft, daß man nur mit Mühe die Treppen emporsteigen konnte. Weit mehr Frauen als Männer zeigten sich. Ferdinand fand es merkwürdig, daß diese Frauen nicht die Gewänder mühseliger Armut trugen, sondern abgenützte Damenkostüme der gestrigen Mode und ehmals feine Schuhe mit schiefgetretenen Stöckeln. Die Männer hatten alle spiegelnde Kaftane an und Sammethüte, die sie auch unter Dach nicht abnahmen.

Auf dem Treppenabsatz des zweiten Stockwerkes stand ein Jude, desgleichen Ferdinand noch nie gesehen hatte. Hoch aufgerichtet, ein Athlet mit hellem Bart, roten Wangen und wildentschlossenen Zügen, schien er die Aufgabe zu haben, Unberufene von diesem Orte wegzuscheuchen. Verächtlich musterte er die drei. Der verächtliche Blick – so kam es Ferdinand vor – traf Engländer, der hier ein unsicheres und gedrücktes Wesen zur Schau trug. Nur mit einem gleichgültigen Murmeln beantwortete der Athlet den Gruß des kleinen Kurz, dann öffnete er den Besuchern eine Tür, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Es war eine große Stube, die sich vor ihnen auftat, oder besser eine überaus geräumige Küche mit einem ansehnlichen Herd, auf dem ungewaschenes Geschirr und Biergläser umherstanden. Die Kahlheit des Zimmers aber war keine gewöhnliche Kahlheit, sondern die schmutzige Öde eines Wohnortes, den sein Mieter eben zu verlassen gedenkt. (Dennoch hausten der Dunajower Rabbi und die Seinen hier schon das vierte Jahr.) Zehn Männer etwa erhoben sich von einem langen Tisch und warteten auf das Näherkommen der Fremden. Aus unbekannten Gründen fiel dieses Näherkommen Ferdinand und Engländer ungemein schwer. Sie hatten mit einer verlegenen Scheu zu kämpfen. Ferdinand mußte den zehnfach forschenden Blick der Männer ertragen. Er glaubte zu erkennen, daß dieser Blick eine lange Wandlung durchmache von ängstlicher Feindseligkeit bis zu gleichmütiger Erleichterung.

Dann erst veränderte sich das ganze Bild für ihn, denn er sah nichts mehr vor sich als den wildungeheuren Kopf dessen, der im Lehnstuhl beim Fenster saß. Vielleicht wäre der Kopf des Rabbi auf den ersten Blick weniger märchenhaft-erschreckend gewesen, hätte ihn nicht die riesige Pelzmütze gekrönt, die seine Gewalt verdoppelte und verdreifachte. Die Pelzmütze aber war nichts anderes als die Potenzierung des Bartes, der Wesen und Leben dieses Gesichtes bildete. Der dunkelgraue Bart begann schon unterhalb der Augen hervorzuströmen, die glänzend gedrehten Schläfenlocken vermischten sich mit ihm, selbst auf dem Rücken der herrischen Nase wuchs ein kleiner Busch grauen Bartes. Eine hypnotische Lebendigkeit ging von dem Barte aus, er konnte lächeln und zürnen, ja diese Gemütsbewegungen in verschiedenen Graden aussenden oder zurückhalten, er bestimmte, wie weit man im Abstand bleiben oder sich der überlebensgroßen Figur annähern durfte, die fettleibig im Lehnstuhl lastete. Das unruhige Leben des Bartes wurde allein von zwei kleinen funkelnden Sternen regiert, die in der tiefsten Tiefe der Augenhöhlen hofhielten und nun die drei Kömmlinge heranbefahlen.

Der Alte ließ sie eine geraume Weile vor sich stehn, ohne ein besonderes Interesse an ihnen zu zeigen, darauf schnipste er mit zwei Fingern seiner gepflegten Hand. Ein junger Mensch erhob sich vom Schemel neben ihm und schlich auf den Zehenspitzen zum Tisch der übrigen Juden. Der Rabbi schnipste wiederum, ohne ein Wort zu sagen. Eine schmale Bank wurde hereingetragen. Ferdinand wollte sich neben Kurz und Engländer niedersetzen. Ein verhüllter Blick des Giganten aber traf ihn, und schon saß er – er wußte nicht, wie das geschah – auf dem Schemel zu Füßen des Rabbi. Dieser nickte mehrmals, als sei er mit dem jungen Christen und mit sich selbst zufrieden. Er ließ einen Augenblick lang seine weiche und weiße Hand auf Ferdinands Schulter ruhen. Dieser hochmütigen, für den Riesenleib viel zu kleinen Hand fühlte man es an, daß sie sich niemals auch nur der kleinsten irdischen Beschäftigung hingegeben hatte.

Rechts neben dem Rabbi befand sich ein kleiner Tisch, auf dem ein Laib Brot und ein Messer lag, sowie ein Teller mit einem geräucherten Hering stand. Der Geruch des Fisches stieg Ferdinand unangenehm in die Nase. Ohne ersichtlichen Grund schob der Alte den Teller einmal an die Stelle des Brotes, legte ein anderesmal das Messer von rechts nach links, und wieder alle Gegenstände an ihren alten Ort zurück. Ferdinand auf seinem niedrigen unbequemen Schemel wagte keine Bewegung, so sehr war er schon in den Bann des mächtigen Menschen an seiner Seite geraten.

Auf einmal neigte sich der Rabbi weit zurück und schloß die schweren Augendeckel. Mit einem Schlage schwieg der Lärm an dem langen Tisch, wo die zehn Männer saßen. Man hätte glauben können, der Riese sei eingeschlafen. Ferdinand sah hilfesuchend zu Engländer hin. Alfreds Gesicht war nicht mehr gelb; es glühte fieberrot und geistesabwesend. So sieht ein zu Tode erregter Kandidat im letzten Augenblick vor der Prüfung aus. Auch er bewegte sich nicht.

Aus der umfänglichen Brust des Rabbi aber stieg, während er ruhig zu schlafen schien, ein seltsam wohltönendes Gurgeln auf, das in samtenes Summen überging, Kraft sammelte und sich zu einem starken klangerfüllten Triller ausweitete, der langsam abschwoll und wieder in dem samtenen Summen erlosch.

Die Wirkung dieses kurzen, aus innerster Seele geholten Traumgesanges auf die Menschen hier war unbeschreiblich. Wie Katzen, denen man das elektrische Fell streichelt, vor Wonne einen Buckel machen und schnurren, so auch schienen sich den Juden in diesem Raum die Haare vor Wonne zu sträuben. Sie schaukelten hin und her, tanzten auf ihrem Sitz, machten entzückte Verbeugungen, lehnten sich, als sähen sie den Himmel offen, weit zurück und wiederholten leise tremolierend die Melodie, die der Alte immer von neuem aufnahm und veränderte. Auch Simon Kurz, der doch nicht ganz hierher gehörte, verfiel dem Zauber. Auch er begann sich zu wiegen und mitzusummen. Nur einer saß regungslos aufrecht und starrte den Rabbi an: Engländer.

Ferdinand suchte sich von der lähmenden Einwirkung, die ihn festhielt, zu befreien und sah umher. Er hatte niemals antisemitische Regungen empfunden. Seine besten Freunde, Engländer und Weiß, waren Juden. Diese Juden jedoch in der unwirtlichen Küche glichen ihnen nicht, sie gehörten einem starken, aber wildfremden Volksstamm an, der mit Europa wenig zu tun hatte. Engländers Starrheit war nicht zu begreifen. Hätte Ferdinand nur aufstehen können und wegstürzen! Das Sitzen auf dem niedrigen Schemel im Schatten des Rabbi wurde zur Qual. Verzweifelt wie ein Gefangener ließ er seine Blicke wandern.

Da gewahrte er noch einen Menschen, der nicht hierher paßte. Ein dreißigjähriger Mann war's, der auf dem Herde saß und seine Beine herabbaumeln ließ. Er trug keinen Kaftan, sondern europäische Kleidung, Wickelgamaschen, Militärhosen und einen schwarzen Sweater. Mit seinem scharfen und abgezehrten Profil glich er etwa einem stellungslosen Schauspieler. Das nachlässige, ja verächtliche Schwingen seiner Beine wirkte wie ein Widerspruch zu allem, was hier vorging. Er rauchte eine Zigarette und erwiderte den Blick des Leutnants mit einer höhnisch-überheblichen Festigkeit. Ferdinand hatte das Gefühl, dieses erbitterte Gesicht müsse er schon gesehen haben. Solche Gesichter waren im Säulensaal zu Hause. Da der Mensch seine frechen Augen nicht abwandte, wich Ferdinand ihnen zuerst aus.

Nun erwachte der Rabbi aus seinem Schlaf oder aus seiner Betrachtung. Mit einer befehlshaberischen Stimme sprach er ein paar Sätze, die er den Männern hinwarf wie einen Knochen unter Hunde. Sie stürzten sich auf diesen Knochen, und eine Reihe neuer Absonderlichkeiten hob an:

Ein Teil geriet sogleich in einen wilden Streit, daß man hätte meinen können, es gehe hier um Tod und Leben, um Besitz und Recht, nicht aber um die Lehrfrage eines Weisen. Zwei alte Juden hockten wie Schachspieler da und setzten behutsam, in langen Pausen, Zug um Zug, den Singsang ihrer Dialektik einander entgegen. Ein Einzelgänger hatte sich abgesondert und wandelte mit zärtlich affektierten Schritten auf und nieder, als überlege er ein Liebesgedicht. Seine Augen hielt er schlau-verzückt auf die Hände gerichtet, die er aufgeschlagen vor sich hertrug wie ein heiliges Buch. Alle sprachen und sangen mit großem Lärm durcheinander.

Der Mensch im schwarzen Sweater beobachtete mit einem Ausdruck von belustigtem Ekel dieses Treiben. Ein Landsmann, aber ein Feind dieser Frommen oder ein Ausgestoßener, daran war nicht zu zweifeln. Keiner kam ihm nahe.

Die Starrheit Engländers hatte sich gelöst. Mit wilden Gebärden sprach er auf Simon Kurz ein, der den Kopf gesenkt hielt. Das Widerstreben des Vermittlers brachte Engländer zur Verzweiflung. Er packte schließlich Kurz bei den Armen und schob ihn – während er selber vor Spannung laut atmete – zum Lehnstuhl des Rabbi. Ein paar der Streitenden hatten sich auch herangemacht und begannen vorsichtig ihre kehlig-melodischen Antworten zu wagen. Der Rabbi aber schien sich sehr wenig dafür zu interessieren. Ferdinand wollte aufstehn. Sanft drückte ihn die weiße Hand auf seinen Sitz zurück.

Die zaghafte leise Stimme Simon Kurzens stotterte. Nun entfernten sich die streitenden Juden, die ihre Auffassung dem Richter vortragen wollten, drei Schritte von dem Lehnstuhl. Andere traten zu ihnen, so daß sich ein Halbkreis um Kurz, Engländer, Ferdinand und den Rabbi bildete. Kurz war nun gezwungen, seine stammelnde Rede fortzusetzen. Aber je stiller es ringsum wurde, um so unbestimmter, schamhafter, erschrockener stockten seine Worte. Jetzt erst schien er sich der ganzen Kühnheit des Wagnisses bewußt zu werden, zu dem ihn Engländer verleitet hatte. Engländer hatte einen schlechten Dolmetsch und Fürsprech seiner weltbewegenden Idee erwählt. Sie war ja so herrlich, diese Idee. Keinen liberalen Rabbinern und Kultusgemeinden sollte sie ausgeliefert werden. Das Urjudentum selbst in der Gestalt dieses Rabbi mußte getroffen werden, an dem die Jahrhunderte spurlos vorbeigegangen waren, der zu Jesu Christi Zeiten auf dem heiligen Boden Jerusalems noch hätte gewandelt haben können. Engländer trug einen bis in alle Einzelheiten ausgearbeiteten Plan in der Tasche, das große Konkordat des Judentums mit der katholischen Kirche betreffend. Der Plan war nicht gerade bescheiden. Er forderte ein Welt-Synhedrion auf der einen Seite und die feierliche Wiederaufnahme und Durchführung des Prozesses Jesu. Doch auch die Kirche auf der anderen Seite mußte sich zu den weitherzigsten Zugeständnissen und einem großmütig dogmatischen Entgegenkommen bequemen, sollte Engländer zufriedengestellt werden. Der Mittelsmann dieses ungeheuren Planes aber versagte mit jedem Worte kläglicher. Das Wasser begann über Engländers Stirn zu laufen. Er faltete flehend die Hände, um den alten Riesen, der für die Szene noch immer keine deutliche Teilnahme verriet, zu erweichen und zu bewegen, damit er ihn und sein großes Vorhaben billige, das Jesus, den Messias, zu seinem Volke zurückführen wollte. Die Stimme des Simon Kurz wurde immer schuldbewußter und leiser. Da ihr niemand durch Widerspruch half, verlor sie sich zitternd im Raum der Unmöglichkeiten, die sie aussprach. Ferdinand hörte scharf hin. Hie und da konnte er ein deutschstämmiges Wort des jiddischen Idioms verstehn. Er war gespannt, wie in dieser gutturalen Sprache der Name »Jesus Christus« lauten werde. Er war aber nicht zu erkennen. Vielleicht auch hatte Kurz es vermieden, diesen gefährlichen Namen, an dem so viel Blut und Leid der Zerstreuung hing, unmittelbar auszusprechen. Welch ein Widersinn übrigens, daß Engländer, der Jude, einen Dolmetsch brauchte, um sich mit seinen Volksgenossen zu verständigen. Aber waren diese Bärtigen denn Alfreds Volksgenossen, waren sie für ihn nicht ebensolche Fremde wie für Ferdinand? Sie achteten ihren Volksgenossen gar nicht, was man deutlich erkennen konnte. Eine störrische Gehässigkeit wider Engländer machte sich bemerkbar. Immer schwächer kämpfte Kurz gegen den stummen Widerstand der Juden an. Wie welke Blätter sanken die Worte in dem mißgünstigen Raum zu Boden. Wozu hatte er sich verführen lassen? ... Da gab er es auf, senkte den Kopf und vollendete nicht einmal seinen Satz.

Kein Zorn erwiderte ihm, keine empörte Stimme ließ sich hören, kaum ein flüchtiges Murren. Niemand wohl hatte Engländers gewaltige Idee verstanden. Das Wenige aber, das begreiflich war, hatte schon genügt, eine peinliche Verstimmung hervorzurufen. Ein dumpfes Ärgernis, das man vergessen wollte! Die Juden begannen in auffälliger Weise von anderen und nebensächlichen Dingen zu sprechen. In dem gewundenen Tonfall ihrer Worte klang das Peinliche nach. Nur der Mann auf dem Herde gab sich aus vollem Herzen einem ausführlichen Gelächter hin.

Engländer, der die Größe der Niederlage noch nicht fassen konnte, stieß mit flehendem Tonfall ein paar schwerfällige Worte hervor. Der Rabbi aber, für den er gar nicht mehr vorhanden war, brachte mit unbewegten Lippen einen eigenartigen Zischlaut zustande: »Schâ!« Ruhe trat ein.

Nun ergriff der Alte das Messer und zerlegte den Hering in zwei Teile. Den kleineren, das Schwanzstück, legte er auf den Teller, den Kopfteil aber behielt er auf dem Tisch. Langsam ließ er seinen Blick im Kreise wandern, was den Eindruck von abschätzender Strenge machte. Dann bot er den Teller mit dem Heringsschwanz Ferdinand in der freundlichsten Manier an, was eine erstaunte Bewegung der Versammelten zur Folge hatte. Der Ausgezeichnete wagte es nicht, den Teller zu nehmen, und hielt die scharf-riechende Fischhälfte ratlos in der Hand. Er spürte, daß etwas Rätselhaftes, Sinnbildliches vorgehe. Mit der angespannten Verlegenheit eines Menschen, der gezwungenermaßen an einer fremdartigen Kulthandlung teilnehmen muß, sah er dem Alten auf die Hand, um nötigenfalls das unbekannte Zeremoniell rasch nachahmen zu können. Widerlich glitschig fühlte sich der Hering zwischen den Fingern an. Ekel stieg in der Kehle auf.

Der Rabbi verzehrte jetzt rasch seine Hälfte. Da würgte auch Ferdinand den Fisch mit Gräten und Schuppen hinunter.

Ehe er aber über den Sinn des Mahles noch einen Gedanken zu fassen vermochte, hatte sich der Rabbi stöhnend aus seinem Lehnstuhl erhoben. Nun erst konnte Ferdinand ermessen, welch ein Koloß an seiner Seite gesessen war. Das Zimmer zitterte bei jedem Schritt, den er tat. Der Alte jedoch legte sich wegen seiner Schwere keine Beschränkung auf, sondern stampfte mehrmals wuchtig den Boden, ehe er seine neue Weise anstimmte. Es war diesmal eine profane Melodie, ein Kampf- und Trutzlied, wie es Ferdinand schien. Und mit wilden Stimmen fielen die polnischen Juden ein, während alle Hände anfeuernd den Takt klatschten. Dieser Takt wurde immer schneller, der Sang immer rasender, und plötzlich begann die Riesenfigur des Rabbi sich im Tanze zu drehn. Nicht plump, nicht keuchend drehte sich der Gewaltige, nein, zierlich fast und weiblich schwebend, als vermindere der tänzerische Gottesrausch jeder Drehung die Körpermasse und eleviere sie. Der Vortanz des Alten löste den begeisterten Jubel seiner Jünger aus, ein Zeichen, daß sich hier ein seltenes und festliches Ereignis begab. Alle drehten sich nun im fanatischen Wirbel. Die Küche schien zu wachsen. Es wurden der Tänzer immer mehr. Zur Tür herein tanzten die Hausbewohner, jüdische Männer und Frauen, die mit dem Rabbi, ihrem Fürsten im Kriegsexil, aus den evakuierten Städten und Dörfern des Ostens nach Wien gekommen waren. Jene, die keinen Platz mehr fanden, tanzten draußen auf dem Gang, ja selbst noch im Treppenhaus.

   

Auf dem Rückwege versuchte Simon Kurz eine Deutung des gleichnishaften Fischmahles zu geben. Das kleinere, wertlosere Schwanzstück, das der Rabbi Ferdinand zugewiesen, bedeute das Christentum. Da nun einmal die Einheit der jüdischen Lehre seit fast zwei Jahrtausenden zerschnitten und entstellt sei, möge der Christ seinen von der Wahrheit (dem Kopf) entfernteren Anteil behalten. Das Lied und der Tanz aber hätten unzweifelhaft dem kommenden, echten Messias gegolten, der einzig und allein dereinst alle Gegensätze unter seiner Herrschaft vereinigen werde.

Mochte diese Erklärung falsch oder richtig sein, Alfred Engländer war nicht nur durchgefallen, sondern auch mit offener Feindseligkeit und Mißachtung als ein Abtrünniger behandelt worden. Jetzt torkelte er ganz erschöpft, jeden Augenblick seine Züge zu verzweifelten Grimassen verzerrend, über die Straße. Selbst sein treuer Anhänger, der christusgläubige Simon Kurz, schien ihm die schmähliche Niederlage übelzunehmen und ihn samt seiner phantastischen Idee aufzugeben. Er empfahl sich unvermittelt und ohne seinen komischen Strohhut zu lüften an der nächsten Straßenecke.

Es begann zu dämmern, als sich die beiden Freunde auf einer Bank des Opernrings niederließen. Mit Engländer mußte etwas geschehn, das war klar. Noch immer glühte sein Gesicht puterrot, und die Augen traten wie bei einem Kropfkranken heraus. Vorsichtig begann Ferdinand:

»Schau, Alfred, ich versteh sehr gut, daß man an alten Dingen hängt. Ich selber kann mich nicht befreien davon. Manchmal in der Nacht kommt das alles und will einen umbringen. Es will uns umbringen, Engländer, das ist das Wort! Ich hab in diesen Wochen sehr viel gelernt, Gott sei Dank. Wir müssen endlich aus diesem Dämmerzustand des Alten heraus! Wir müssen uns anspannen bis zum Zerplatzen, um das Gestrige zu überwinden. Denke doch klar über die letzten vier Jahre nach! Sollen die Millionen Toten vergessen sein, sollen die unaussprechlichen Bestialitäten, denen das sogenannte Menschenleben ausgesetzt war, ungerächt und ungebessert bleiben? Spürst du nicht, daß dieser Augenblick der Geschichte, den wir erleben, nicht wiederkommt? Jede Sentimentalität, ob sie sich religiös oder nationalistisch verkleidet, ist ein unsühnbares Verbrechen heute. Liegt nicht eine furchtbare Verpflichtung auf uns, Engländer, gerade auf uns?! Dieser Augenblick kommt nicht wieder. Und ein Mensch von deiner Bedeutung sollte da auslassen!? Was wir vorhin erlebt haben, das war ein abgeschmackter Traum, graues Altertum, primitive Barbarei, stumpfe Vorwelt ... Und schließlich, das ganze Christentum ist auch nichts anderes.«

Engländer stöhnte:

»Jetzt trampelst auch noch du auf mir herum ... Was soll ich denn tun? Kann ich etwas dafür, daß ich allein die Wahrheit erkenne? Mir wäre ja viel wohler, wenn ich auch so ein strammer Revolutionär de dato 1918 sein könnte wie ihr alle! Man braucht nur die soziale Republik auszurufen, und alles ist in schönster Ordnung, he, was??«

Ferdinand zwang sich zur Ruhe:

»Das sag ich nicht, Engländer! Aber ist es nicht gemein, wenn wir unsere Denkkraft an alten Unsinn verschwenden, statt gegen die teuflische Grausamkeit und die wahnsinnigen Schmerzen der Vergangenheit und Gegenwart anzugehn?«

Engländer zitierte jetzt, ohne abzusetzen, eine Reihe von evangelischen Sprüchen. Der Tonfall seiner Stimme erschreckte Ferdinand:

»Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! ... Liebe deine Feinde, vergib denen, die dich hassen ... Wer sich frei von Schuld weiß, werfe den ersten Stein auf sie ... Wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen ... Lasset die Toten ihre Toten begraben ...«

Er schlug sich leidenschaftlich mit den Fäusten aufs Knie:

»Ist das etwa auch stumpfe Vorwelt?«

Ferdinand erwiderte (aber schon mit zweifelndem Gewissen), was man bei solcher Gelegenheit einzuwenden pflegt:

»Das sind außerordentlich edle Aphorismen, die an der Welt so wenig geändert haben, daß die christlichen Bischöfe aller Länder die jeweiligen Waffen segnen ...«

»Ja, weil wir, wir, wir in einer stumpfen, in einer grauenhaften Vorwelt leben«, schrie Engländer, »und die wahre Welt, die Christuswelt, so wenig begreifen wie ein Schakalrudel die Harmonielehre. Es gibt auf dieser Erde gar keine andere Frage als Christus. Denn was ist Vorwelt? – Das mörderische Leben für unsere Interessen, das tierhafte. Und was ist Christuswelt? – Das überwindende Leben gegen unsere Interessen, das göttliche!!«

Eine Abteilung Infanterie zog über die Ringstraße. Sie war feldmäßig ausgerüstet. Ein paar Menschengruppen blieben stehn und sahen erbittert den Soldaten nach, die schlapp und ohne Ordnung marschierten. »Die gehn nicht an die Front«, sagte jemand, »sondern nach Wöllersdorf oder Blumau als Assistenz gegen Streikunruhen.« Hinter der Kompagnie trottete eine Reihe von Polizisten. Dies wirkte wie Angst und Mißtrauen.

Mißtrauisch auch starrten die großen Paläste der Prachtstraße. Die erlöschende Stunde überschüttete sie mit grauem und trübsinnigem Schmutz. Der Verkehr erstarb. Nach Einbruch der Dunkelheit stellte die Straßenbahn ihren Betrieb ein. Nur jede dritte Bogenlampe flammte müde auf. Ferdinand bat:

»Wir müssen öfters zusammen sein, Engländer, täglich, wenn es dir recht ist.«

Engländer überhörte den Freundschaftston. Er schaute der letzten Elektrischen nach, die in der Richtung der Museen verschwand:

»Nicht meine Achse ist verschoben«, stellte er fest, »sondern eure Achse, die Achse der ganzen Welt!«

Nach einer kleinen Pause wagte Ferdinand die behutsame Frage:

»Willst du mir nicht wenigstens deine Adresse geben?«

Da sprang Engländer zornbebend auf:

»Also das ist es! Hast du dich endlich verraten? Das war deine ganze Freundschaft! Was? Mich ausspionieren?! Bei meinen Brüdern bist du auch gewesen! Natürlich! Jetzt aber hab ich's satt. Genug! Schluß!«

Und er rannte mit großen Sprüngen davon, obgleich Ferdinand keine Miene machte, ihm zu folgen.


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