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Drittes Kapitel.
Barbara lebt

Ferdinand strich schon Gott weiß wie lange um das kleine Gehöft, das am östlichen Ausgange des Dorfes lag. Daß er nicht eintrat, war nicht nur die Angst vor einer Nachricht, die nichts wieder gutmachen konnte, sondern auch ein geheimes Zeremoniell, wie wir's im Kampfe mit dem Schicksal uns immer wieder auferlegen. Er dürfe nicht die Schwelle betreten, sagte er sich, ehe nicht einer der Hausgenossen aus der Tür getreten sei. Dies würde ihm zum Glück gereichen.

Als Ferdinand vor ein paar Wochen beim letzten Rigorosum saß und, während sein Vorgänger geprüft wurde, auf den furchtbaren Augenblick wartete, in dem der Professor sich ihm zuwenden würde, da war seine Erregung so groß, daß er kaum die Glieder fühlte. Aber in dieser Erregung loderten auch tätige Wallungen der Kampfeswut. Wie anders heute! Es war ein Warten auf das Unabänderliche, so oder so. Sein Herz klopfte kaum erträglich. Die Ungewißheit erfüllte ihn wie eine schwarze Materie, in die nur ein paar haardünne Metalladern der Hoffnung und der Vorfreude eingesprengt waren.

Am schwersten ließ sich die Zeit erdulden, die von Sekunde zu Sekunde ihren Schritt verlangsamte. Sie glich gewissen belehrenden Filmen, auf denen sich vor den Augen der Zuschauer eine Pflanze tänzerinnenhaft aus dem Trieb zur Knospe, aus der Knospe zur Blüte entwickelt. Ferdinand, der sich in der Nähe des Hauses auf einem Feldrain zwischen hohem Getreide verbarg, starrte eine Mohnblume an, die er gepflückt hatte. In ihrem haarigen Stengel schien unendlich langsam die Zeit aufzusteigen, die ihn so quälte. Endlich sammelte sie sich in dem runden Fruchtkropf, aber ehe sie noch in die roten Fähnchen gelangte, ließ er die Mohnblume fallen. Nicht anders als in ihr wirkte die Zeit in Ferdinands eigenem Wesen, das durch die angstvolle Erwartung in einen Zustand quälender Überbewußtheit geriet. Die Zeit war für ihn wie eine Folge tauber Gebärakte. Jede Sekunde war die Mutter der nächsten, die sie mit Schmerzen zur Welt brachte. Kein leichtfüßiges Nach-Einander tanzte dahin, nein, die leidende Mutterschaft eines ewigen Aus-Einander-Entstehens erfüllte das Universum. Selbst die Kontraktion seines Herzmuskels, die Ferdinand jetzt so deutlich spürte, war der gleiche Vorgang wie die Mutterwehen ...

Nun wagte er sich, geschehe, was wolle, in den kleinen Vorgarten. Die Rosenstöcke waren nicht eingegangen, die hohen Sonnenblumen strahlten. Teilnahmslos spielte die bunte Glaskugel mit seinem Bild. Da trat jemand aus dem Haus.

Es war ein Mann, den Ferdinand bei flüchtiger Betrachtung einen alten Bauern genannt hätte. Dies aber wäre sehr falsch gewesen, denn trotz eingefallener Wangen, farblos bräunlicher Haut, spitzer Backenknochen und Wiegeganges war dieser Mann nur um drei Jahre älter als Ferdinand, der sich selbst immer noch als unerwachsener Knabe fühlte.

Franta stutzte und blieb stehn. Mit einem gemachten Lächeln trat Ferdinand auf ihn zu und gab ihm die Hand. Nicht seine Augen, nur sein Instinkt erkannte in diesem gealterten Manne den Jugendgespielen wieder:

»Wie geht es Ihnen?« fragte er verlegen.

Der Mann zeigte weder Erstaunen noch besondere Freundlichkeit:

»No ja, es muß halt gehn ...«

Das weitere Gespräch gestaltete sich für Ferdinand immer schwieriger:

»Lang haben wir uns nicht gesehn, was«, knüpfte er von neuem an.

Franta deutete durch eine stumme Handbewegung an, daß sich eine solche Zeitspanne gar nicht errechnen lasse.

»Und der ganze Krieg liegt dazwischen«, sagte Ferdinand, der dieses ausgiebige Thema wie festen Boden betrat. »Sie haben da alles mögliche erlebt, hab ich gehört.«

Aber auch der Krieg machte Franta nicht gesprächiger:

»No ja ... Das wird schon so sein ...«

»Sie waren in Rußland gefangen, nicht?«

Franta strich sich mit seiner schwarzgearbeiteten Proletenhand nachdenklich über den Schnurrbart und stellte den Sachverhalt richtig:

»In Sibirien waren wir ...«

»Da haben Sie den Legionärszug mitgemacht! ... Eine große Sache?«

Franta aber sprach die ruhigen Worte:

»Große Sache? ... Beim Militär ist es immer dasselbe ... Am Schluß wird der Mensch ein alter Subak, ein längerdienender ...«

Nach dieser für seine Verhältnisse übermäßigen Dauerrede zog er sich wieder in seine Einsilbigkeit zurück. Ferdinand wagte die große Frage noch immer nicht. Krampfhaft suchte er sie hinauszuschieben oder dem Zufall die Antwort zu überlassen. Er sah in Frantas ledernes Runzelgesicht. Dreiunddreißig Jahre, dachte er. Es ist, als ob man mit einem Baum sprechen würde, nein, mit einem Stück Erde. Der tut nur so, als sei es nichts gewesen, aber er hat ganz Sibirien im Gesicht:

»Und wann sind Sie zurückgekommen?«

Franta rechnete gelassen nach:

»Im Zwanzigerjahr ... ja gradaus ... im April.«

»Aber da bin ich ja ein kleines Kind gegen Sie«, rief Ferdinand. Hiermit war der Stoff erschöpft. Eine schleichende Pause trat ein, die Franta nicht nervös machte, Ferdinand aber überanstrengte. Endlich bekannte er leichthin:

»Ich bin wieder einmal hierher zu euch gekommen ... Hab mir selber nach den letzten Prüfungen Urlaub genommen.«

Dies war keine ausnehmend sinnvolle Bemerkung, wenn man bedenkt, daß er zuletzt im Jahre 1910, im tiefen Frieden noch, im grauen Altertum also, Barbara besucht hatte. Franta tadelte ihn deshalb keineswegs. Er steckte die Pfeife in den Mund und schulterte seinen Rucksack, den er bisher überm Arm getragen hatte:

»Ich muß jetzt zur Schicht«, sagte er erklärend, »und komm erst morgen zurück ... Aber die Frau ist drin und die Tante.«

Bedächtig ging er ins Haus zurück und rief mit träger Stimme in den Flur, als habe er eine sehr alltägliche Mitteilung zu machen:

»Tantchen! Der junge Herr ist gekommen!«

Darauf empfahl er sich kurz mit Handschlag von Ferdinand, der nachsah. Während der Bergmann gemächlich dahintrottete, bekam sein Rücken einen zögernden und mißtrauischen Ausdruck. Es hatte den Anschein, als wolle er jeden Augenblick stehenbleiben und aus ganz bestimmten Gründen zurückkehren. Ferdinand starrte zwar hinter ihm her, aber sah nichts. Das Bewußtsein »Barbara lebt« verteilte sich in seinen Gliedern wie eine wohlig strömende Müdigkeit, doch auch die Liebesangst vor der Begegnung wuchs und wuchs.

Es war noch keine halbe Minute vergangen, als die Greisin auf der Torstufe stand. Sie hob nicht die Arme. Sie stieß keinen Schrei aus. Ruhig stand sie da und lächelte. Es war freilich kein rechtes Lächeln, sondern eher ein Blinzeln, eine zwinkernde Abwehr des Lichtes, das wehe tut. Auch Ferdinand rührte sich nicht.

War es Barbara? Die aufrechte Gestalt seiner Kinderfrau, die ihm einst groß erschienen, hatte sich gebeugt wie ein Baum, dessen Leben zu Ende geht und der nun mit dem Wipfel wieder die Erde sucht, aus der er kommt. Die linke Schulter der Alten war hochgezogen und vorgewölbt, der Rücken zum Buckel gekrümmt, der linke Arm fiel unsymmetrisch herab. Sie konnte den Kopf nicht mehr gerade tragen und hielt ihn mit einer kindlich bittenden Geste zur Seite geneigt. In ihrem ehmals so ernsten Gesicht hatten Schwäche und Alter einen Ausdruck zurechtmodelliert, der wie listige Schalkhaftigkeit wirkte. Und dann: Sie war so klein geworden. Zwischen ihren krummen Schultern und der emporgerutschten Hüfte saß der Leib eines Kindes.

»Ich bin's, Babi«, sagte Ferdinand, worauf sie noch immer keinen Laut von sich gab und nur ihre Augen mit der Hand schirmte, obgleich eben eine geballte Wolkenfaust sich vor die Sonne schob. Plötzlich aber trat sie behende von der Stufe hinab und lief auf ihn zu. Es war ein seltsam lautloses Huschen. Wie von Nachttieren. Und auch verschämt.

Ferdinand hielt das kleingewordene, leichte Wesen in Armen. Langsam röteten sich ihre Augen. Und jetzt erkannte er auf diesen grauen Wangen das Schutzbild seiner Kindheit wieder, Barbara. In Gedanken hatte er sich immer ausgemalt, er würde seinen Kopf an ihre Brust legen. Nun kam es umgekehrt. Weil sie so viel kleiner war als er, lehnte sie sich an ihn. Anders ging es nicht. Dadurch aber verwandelte sich die ganze Lebensbeziehung Ferdinands und Barbaras. Nun war sie das Kind und er der Beschützer. Tief mußte er sich zu ihr herabbeugen. Der Scheitel der alten Frau duftete noch immer leise nach edlem Weichselholz. An ihrer schwarzen Bluse steckte die dunkle Brosche mit der kleinen Elfenbeinschnitzerei, die Papa, der Oberst, ihr einmal zu Weihnachten geschenkt.

Das erste, was Barbara sprach, war ein Satz der Besorgnis:

»Aber, ich hab mich ja gar nicht vorbereitet ...«

Ferdinand wartete, daß jene Erschütterung, vor der er sich so sehr gefürchtet hatte, nun über ihn kommen werde. Doch es kam gar nichts. Die tiefe Erregtheit von vorhin war einer hohlen Entspannung gewichen. (O ewiger Verdacht! Es gibt keine Gegenwart. Jegliches Erleben ist nur eine Form der Erinnerung.)

Dann saß er in jenem Raum, den seine Traumsprache »die Stube des Bergmanns« nannte. Wahrhaftig, vom hohen Eichenkasten sahen noch immer die Kristalle herab, zwei große Drusen von Eisenblüte und Bleierz. Ruhelos huschte Barbara umher:

»Ich bin ganz gesund«, entschuldigte sie sich. »Seit zwei Jahren hab ich nur ein bißl Rheumatismus, aber das schadet nichts, wenn's mich auch nicht schöner gemacht hat. Was liegt daran bei einer alten Frau? Gottlob, ich kann arbeiten ... noch grad so wie früher ...«

In hastiger Verwirrung probierte sie ein paar Schlüssel, ehe sie den richtigen fand, um den Paradekasten aufzusperren. Dann zog sie weiße Tischwäsche hervor, wobei ihre jetzt unsicheren Hände mancherlei Verwirrung anrichteten. Sie hatte Arbeit genug, alles wieder ins Gleiche zu bringen. Dabei zählte sie laut auf, was sie brauchte und was nicht.

Ferdinand entschloß sich, seine ganze Schuld durch eine halbe Lüge zu rechtfertigen:

»Ich bin erst heut zu dir gekommen, weil ... Weißt du, vorgestern hab ich mein Doktorat gemacht ... Ja, jetzt bin ich Medizindoktor ... Spät genug ... Dabei hab ich mich ja beeilt, so gut ich konnte ... Du kannst dir denken, wieviel ich in diesen Jahren hab studieren müssen ... Lange Jahre, und kein Tag sorglos ... Schlecht ist es mir auch gegangen ... Neben dem Studieren hab ich mir ja noch das Leben verdienen müssen ... Und vorher, mein Gott, vorher ...«

Der wahre Grund des Liebesversäumnisses war so unaussprechlich verworren. Wenn er sich auch manchmal einen herzenskalten Schurken des Vergessens schimpfte, so wußte er genau, daß nicht Vergessen die Schuld trage, sondern Nichtvergessen. Wie hätte er das erklären können. Barbara aber verlangte gar keine Erklärung und keine Entschuldigung. Sie legte leise ihre kleine harte Hand auf seine Wange:

»Ich hab's immer gewußt, daß Er kommen wird, wenn Er kann ...« In ihrer Bewegung und in diesen Worten lag eine Tiefe verborgen, die ihn vermuten ließ, daß sie weit mehr von ihm wußte und verstand, als er geglaubt hatte. Und jetzt erst klang die unmerkliche Ahnung eines schwachen Vorwurfs auf:

»Ja, wenn man halt schon fünfundsiebzig ist ...«

»Fünfundsiebzig«, wiederholte Ferdinand, als sei er überrascht.

»Er kann sich's ja ausrechnen«, sagte sie, ging aber nicht so weit, aus dieser Zahl den schweren Schluß zu ziehen, vor dem Ferdinand noch vor einer halben Stunde gezittert hatte. Die Angst, sie sei nicht mehr, war ja der Grund gewesen, daß er ihr seit Jahren nicht mehr schrieb. Durch die Nennung ihrer Jahre wies sie nur ganz undeutlich und nebensächlich auf ihren Tod hin, ohne den Pflegesohn dadurch zu irgendeinem belastenden Gefühl zu verpflichten. Solche Feinheit war Barbaras Art.

Jetzt klimperte sie mit Besteck und übersah dabei, daß die Frau ihres Neffen ins Zimmer getreten war. Ferdinand stand vor der fremden Bäuerin höflich auf, die, ihrerseits verlegen, nicht weiterging. Barbara blickte auf. Obgleich sie als Witwe eines fürstlichen Kammerdieners genau wußte, was sich gehöre, so nannte sie doch den Namen des Gastes nicht. Heimliche Eifersucht, daß ihr Ferdinand, ihr Pflegekind auch noch mit anderen Menschen hier im Hause sprechen müsse, machte sie ganz böse. Die Nichte bekam hochmütige und harte Augen zu sehn, und sie bekam auch die sonst leise Stimme der alten Frau im strengen Herrscherton zu hören:

»Lauf hinunter ins Dorf und hol beim Kaufmann Macak ein Kilo Kirschen! Du mußt dich aber nicht beeilen. Eh ich den Teig fertig hab, dauert's noch ...«

Die verlegene Bäuerin war froh, einen Vorwand zu haben, um zu verschwinden. Ferdinand zeigte sich bedrückt, daß sein Besuch Unruhe in die Familie bringe. Barbara machte eine wegwerfende Bewegung:

»Sie soll nur springen. Bildet sich eh auf ihren Reichtum viel zuviel ein.«

Er erfuhr nun, daß Franta nach dem Tode seiner Eltern eine »Reiche« geheiratet habe, die einzige Tochter eines Großbauern. Sie werde einmal viel erben, obgleich der Alte derzeit weder sie noch Franta dran riechen lasse und lieber teure Landarbeiter bezahle. Die Tatsache des künftigen Reichtums schien Barbara aber nicht mit besonderem Wohlwollen gegen die hoffnungsvolle Erbin zu erfüllen. Es war deutlich fühlbar, daß die alte Magd im Hause ihres Neffen eine hohe Achtung genoß und, so gebrechlich sie schon war, gegenüber der jungen Frau ihre Machtstellung zu wahren wußte.

Vor einer Stunde noch hatte Ferdinand geglaubt, daß er dem Gefühlsanspruch dieses Wiedersehens kaum gewachsen sein werde. Und jetzt schon hielt das Gespräch bei gleichgültigen Dingen, und ihm war so zu Mute, als sei diese Stube ein Ort, wo er jahraus, jahrein tagtäglich sitze. Die veränderte Greisin kam ihm nun schon altvertraut vor. Konnte man es fassen, daß auch das Heilige, das Unerfüllbare, einmal ins Leben gerufen, selbstverständlich und gewöhnlich ward?

Barbara hantierte immer unruhiger. Es sei schon spät. Sie zog ihn in die Küche. Vielsagend lächelte sie, als käme ihr nicht der schlechteste Einfall. Nun streute sie auf ein Nudelbrett Mehl, häufte es zu einem Berg, in dessen Gipfel sie einen Krater höhlte, und schlug die Dotter von drei Eiern in die Mulde. Dann legte sie ein großes Stück Butter dazu und vermengte diese drei Urelemente der Küche, Mehl, Butter, Eier, zu einem gelbstrotzenden Teig, den sie immer dünner und feiner walkte.

Diesen Vorgang hatte Ferdinand noch genau in Erinnerung. Jetzt wußte er auch, daß die Nichte ausgesandt worden war, um die Kirschen für seine alte Lieblingsspeise zu besorgen. Er saß neben Barbara auf einem Küchenschemel wie einst als Militärschüler, wenn er sie auf ihren Dienstplätzen besuchte. Bewundernswert ging ihr die Arbeit trotz ihrer Schwäche und Gebrechlichkeit von der Hand. Wenn sie auch den Kopf schief halten mußte, so waren doch all ihre Bewegungen so flink und fest wie in der besten Zeit. Es ist immer ein trostreicher Anblick, wenn ein Mensch beweist, daß seine Kunst auch im hohen Alter nicht nachläßt. Ferdinand sah ihre schnellen Hände mit den vortretenden Adern hin- und herflitzen:

»Und wie hast du gelebt, Babi?«

Sie unterbrach die Arbeit nicht:

»Mein Gott ... der Tag könnt mehr Stunden haben ... So viel ist zu tun, so viel war immer zu tun ... Er ist nie zu Haus ... Und sie? ... Das ist Ihm ein verwöhnter Fratz ... Nichts anrühren, aber immer ein Bonbon im Mund ... Eine feine Dame halt ... Wenn ihr Alter in die Stadt fährt, spannt er einen Landauer ein, wie ein Herr ... Also, da muß ich auch noch manchmal den Stall besorgen ... In Gottes Namen, solang ich kriechen kann ... Die werden sich einmal schon wundern ... Vorige Woche, am Dreifaltigkeitssonntag kommt sie zu mir ... Schau, Tantchen, du plagst dich ab ... Wir könnten für die grobe Arbeit ganz gut ein Mädel nehmen ... Die hab ich aber angefahren ... Was, sag ich, einen Schlampen ins Haus, so ein Frauenzimmer, das faul herumsteht und nur stört ... Dreht man sich um, so hat sie den Finger entweder in der Nase oder im Schmalztopf ... Am Abend reißt sie aus und zieht die halbe Nacht mit Burschen herum ... Und dann stiehlt sie noch ... Nein, nein, die Sorte kenn ich ... Da hab ich eine lange Erfahrung ... Lieber mach ich alles allein ...« Sie war ganz ärgerlich geworden, mußte aber nach einer Weile lachen.

»Was erzähl ich Ihm für Dummheiten, Ihm, einem Herrn Doktor?«

Und sie schloß ihre Antwort:

»Also, Arbeit gibt es, Gott sei Dank, genug ... Da kann ich nicht klagen ... Und sonst? ... Ich komm kaum mehr aus dem Haus ... Bin ja alt, und für den Tratsch der andern alten Weiber interessier ich mich nicht ... No ja, Sonntag geh ich in die Meß ... Das ist aber auch alles ...«

Auf dem Brett lagen zwei schöne gelbe Teigblätter. Barbara nahm eine kleine Handvoll Mehl und streute es über ihr Werk. Eine alte, überflüssige Gewohnheit. So geht ein Maler zum letztenmal mit dem Pinsel über das vollendete Bild, nicht um etwas zu verändern oder auszubessern, sondern nur, weil er sich von seiner Arbeit schwer trennen kann. Während sie nun den Teig, scharfäugend, in gleichmäßige Scheiben zerschnitt, hielt Ferdinand ein stummes abwegiges Zwiegespräch mit einem Toten, mit dem Dichter Gottfried Krasny. Herr Krasny, sagte er, ich glaube, Ihr Arbeits- oder besser Anti-Arbeits-Bekenntnis ist ganz falsch. Die Arbeit dürfte halt doch eine Art der göttlichen Gnade sein. Haben Sie schon gehört, daß in einem Gefängnis den Sträflingen als Belohnung für gutes Verhalten die Arbeit entzogen wird? Der Arbeitsentzug gilt doch dort für eine der schwersten Maßregelungen. Nicht wahr?

Barbara war fertig und setzte sich müde nieder.

Nun zog Ferdinand mit mäßig gutem Gewissen die geweihten Kleinigkeiten aus der Tasche, die er gestern gekauft hatte:

»Es ist weiter nichts ... Nur damit ich dir was mitbringe ... In Wien war keine Zeit mehr, denn gestern früh hab ich noch nicht gewußt, daß ich herfahre ...«

Er hatte keinen schlechten Griff getan. Ein kostbares Geschenk wäre für Barbara eine geringere Freude gewesen als der Rosenkranz, den er brachte. Ihre Frömmigkeit hatte durch Krieg und Umsturz nicht gelitten. Sie konnte ja gar nicht leiden, weil sie von Erkenntnissen und den Strömen der Welt gar nicht abhing. Die Luft atmet man, aber denkt über sie nicht nach. Eine kleine Bemerkung zeigte immerhin, daß auch diese ruhige Seele durch den Ansturm ihr unverständlicher Ereignisse gewisse Zweifel und Kränkungen hatte erfahren müssen. Ohne daß Barbara Bitterkeit gegen die neue Zeit erkennen ließ, schien sie dem Vergangenen doch nachzutrauern:

»Ja ... früher war's anders ...«

»Wie meinst du das, Babi?«

»No, ich mein halt, alles ...«

»Mir scheint, du bist eine Politikerin geworden und denkst an die neue Regierung ...«

»Nein, nein, wie soll ich davon reden ... Das versteh ich ja gar nicht ... Unser Präsident ist ein braver Herr und sehr gescheit ... Man muß sich nur vorstellen, ein alter Mann, verlassen in der Welt, und hat doch alles ganz allein geschaffen ... So sagt man ...«

Jetzt senkte sie vorsichtig ihre Stimme:

»Aber ich weiß nicht, was die Leute immer wollen, der Kaiser Franz Josef« (im Böhmischen heißt es Kaiser-Herr) »hat es doch gut mit uns gemeint ...«

»Der Krieg«, sagte Ferdinand weiträumig und gab damit eine unklare Antwort auf alle Fragen. Barbara aber seufzte sehr entschieden:

»Ja, der Krieg ist schuld.«

Zwischen Barbara und Ferdinand war das Wort kein Lebenselement. So kam es, daß er jetzt schon mühsam darüber nachdachte, was er ihr erzählen könne. Was aber hätte er ihr von der Vergangenheit erzählen können? Es gab keine Brücke von seinem Leben zu dem ihren. Daß es sie aber nicht gab, empfand er in dieser Stunde wahrhaftig als kein »Höherstehn«, sondern als eine Mangelhaftigkeit und Unreinheit dieses Lebens.

Barbara war auf einmal sehr nervös geworden. Sie sah mit scheuem Umblick immer wieder aus dem Fenster. Es wurde deutlich, daß sie von einem wichtigen Entschluß bewegt war. Endlich legte sie den Finger an ihren Mund, als fühle sie sich von feindseligen Horchern umstellt, und flüsterte:

»Gott weiß, wann wir wieder allein im Haus sind ...«

Und wortlos, damit sie, wenn schon keine Menschen zugegen waren, auch unsichtbare Wesen nicht ins Vertrauen ziehen müsse, machte sie Ferdinand ein Zeichen. Er wunderte sich, wie schnell ihre verkrümmte Gestalt die alte steile Holztreppe emporschlüpfte, die in die Mansarde führte. Polternd folgte er.

Unverändert fand er die Kammer, wo er als Kadett und Alumne geschlafen hatte. Nur das alte Wachstuchsofa war fortgeräumt. An seiner Stelle stand Barbaras Eisenbett, kein aufgetürmtes Bauernlager, sondern das schmale Bett der Dienstmägde. Auf dem Tisch sah er in einem tiefen Teller ein dichtgeflochtenes Kränzchen von Wiesenblumen. Hier war der Geruch von Weichselholz, so leise er auch blieb, zu einem Duft gesteigert, dem mystische Schwebung eignete. Die nackte Leere des Zimmerchens und das reine Weiß der Wände ringsum stimmten wunderbar zu diesem Duft und ließen die geheime Macht erkennen, die sich in der Person Barbaras verbarg. Hier in ihrem eigensten Bereich war sie eine andere. Die kümmerliche verwachsene Hülle der Greisin umschloß sie nur wie die Zauberverwandlung eine Fee. Dahinter strahlte ein starkes und einzigartiges Wesen.

Verschüchtert stand Ferdinand da, als entwachse er in dieser Minute der Kindheit und lerne seine Pflegemutter nun erst begreifen. (Den Menschen geht es im allgemeinen mit ihren Eltern nicht anders, die bis zu einem gewissen Zeitpunkt nur Figuranten der Gewöhnung bleiben, ehe sie im Auge ihrer Kinder ein selbeigenes Leben gewinnen dürfen.) Hier aber kam noch eine besondere Erkenntnis hinzu. Ferdinand ahnte, daß die alte Magd, der er vorhin nichts von seinem Leben erzählen konnte, tausendmal mehr von ihm und seinem Schicksal verstand als er selber und seine psychologischesten Freunde.

Barbara kniete vor ihrem schwarzen Holzkoffer. Es war dasselbe rührend uralte Gepäckstück, das er noch gut kannte. Rekruten und Mägde, die ihren Dienst bezogen, hatten immer diese großen schwarzen Kisten in die Stadt geschleppt. Der Deckel klappte auf, und nun wurde das eigentümliche Aroma stärker und vermischte sich mit dem rufenden Leinwandgeruch altmodisch steifer Wäsche.

Unversehens hielt Ferdinand ein ziemlich großes und sehr schweres Säckchen. Es war ein Ding, das man gerade noch auf dem Handteller wägen konnte. In seiner Überraschung begriff er zuerst gar nicht, was der weiße Beutel bedeute.

Jetzt sagte, das erstemal heute, Barbara »du« zu Ferdinand:

»Es ist für dich ... Ich hab's gespart genau von dem Tag an, an dem der Herr Oberst gestorben ist ... Niemand weiß es ... Hab mich auch nicht betrügen lassen ...«

Ferdinand starrte sie entsetzt an. Da empfand sie die Verpflichtung, sich zu rechtfertigen:

»Ich hab's nur für dich gespart ... Und immer Stück für Stück da hineingesteckt ... Denn an Sparkassabücheln hab ich nie geglaubt ... Nicht einmal an Papiergeld ... Wer ist nun der Gescheite, he? ... Die andern haben alles verloren, und ich hab's behalten ... Mach dir keine Gedanken ... Was ich brauch, hab ich ... Bis zum letzten Tag und das Begräbnis dazu ... Und Franta? ... Sie ist ja eine Reiche ... Ihr Alter, der dumme Bauer, muß in der Equipage fahren ... Nein, nein, für Franta ist das nichts ... Es ärgert mich schon, wie sie immer um den Koffer herumschleichen ... Die werden was zum Staunen haben ... Ich bin ihnen nichts schuldig ... Arbeiten tu ich und beisteuern, mehr als mein Teil ... Für ihn hab ich's nicht gespart, sondern nur für dich ... Ich hab stets gewußt, daß du kommen wirst, und so hab ich mich nicht gesorgt ... Es ist dein, denn du bist mir der Nächste auf der Welt ... Was geht mich der Neffe an ... Neffe, das ist eine schwache Verwandtschaft ... Er braucht es nicht ... Aber selbst, wenn er's brauchen tät, du bist mir der Nächste ... Mach dir keine Gedanken ... Bist du nicht jetzt ein Herr Doktor? ... Du brauchst es ... Ein Arzt muß sich doch ein Wartezimmer einrichten und Instrumente kaufen ... Da gibt es Auslagen, sag ich dir ... Und warum sollst du erst warten ... Zum Schluß gibt's dann nur Unannehmlichkeiten ... Du hast nun deine guten Jahre ... Ich bin froh, wenn's aus dem Haus ist ... Und Gott weiß, ob du wiederkommst ...«

Ferdinand stand noch immer ratlos da. Nichts brachte er heraus, als ein:

»Aber das geht doch nicht.«

Barbara stellte sich verzweifelt an:

»Mach mich nicht närrisch ... Hast du was gehört? ... Ich glaub, sie ist schon zurück ... Schnell, schnell ... Es war ja immer nur für dich bestimmt und für keinen andern ... Wär es mir sonst eingefallen zu sparen? ... Ich, eine alleinstehende Frau? ... Am Todestag deines Vaters hab ich angefangen ... Dein ist es rechtmäßig ... Ich hör schon die faule Nocken unten in der Küche ... Gleich kommt sie, uns ausspionieren ... Wohin wirst du's nur geben, damit man's nicht sieht ... Mein Gott ... In die Hosentasche? ... Da geht's vielleicht gar nicht hinein ... In die Mappe? ... Ja, ja, du mußt es in die Mappe geben ... Laß sie aber nirgends liegen ... Was schaust du so? ... Kommt sie schon herauf?«

Ferdinand sah sich nach einem Platz um, wo er den münzenschweren Beutel hinstellen könne. In diesem Augenblick machte die Nichte unten im Flur ihren Eintritt lärmend bemerkbar. Barbara zuckte zusammen und zischte:

»In die Tasche damit, schnell, schnell!!«

Ferdinand, der selber zusammenschrak, ließ gehorsam den Beutel in seiner Hosentasche verschwinden, was unauffälliger war, als Barbara angenommen hatte. Sie erlaubte ihm nicht, zu Worte zu kommen. Ganz atemlos vor Verwirrung flüsterte sie:

»Du wirst jetzt sicher spazierengehn wollen ... Ich hab ja auch noch viel zu tun ... Der Braten brennt mir an ... Und sie horcht herum, anstatt die Kartoffeln aufzustellen ... Die Kirschen ... Alles liegt auf mir ... Wenn du genug weit vom Haus weg bist, steck es in die Mappe ... Du mußt die Mappe mitnehmen ... Geh nur spazieren ... Es ist ein schöner Tag heut und nicht zu sonnig ... Schwül freilich ... Nach Tisch wird es etwas geben ... Das spür ich mit meinem Rheuma ... Komm zum Essen zurück ... Eine Stunde wird's noch wenigstens dauern ... Vergiß ja die Mappe nicht ... Und bleib nicht gar zu lange fort ...«

Sie hatte ihn in ihrer Angst vor der Nichte schon aus der Tür gedrängt. Aber ihre letzten Worte rissen sie aus ihrem Wahn. Nun hielt sie ihn wieder fest. Das verschrumpfte Gesicht glühte vor Siegerstolz. Mit beiden Armen zog sie ihn zu sich herab und an ihre Wangen. Er spürte, wie sie feucht wurden. Da ließ sie ihn los und flüsterte nochmals scharf:

»Geh jetzt spazieren!«


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