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Zweites Kapitel .
Schattenreich

Wie lieb hab ich ihn! Er ist mein Freund.

Ferdinand verspürte eine heftige Sympathiewallung, als ihn Ronalds dunkel-rasche Blicke freudig umfingen. Es war ein Ausbruch des Menschenhungers nach einem Fastjahr ohne Gespräch und Freundschaft. Seit einigen Monaten kamen auch keine Briefe von Engländer mehr. Ferdinand hatte Nachforschungen angestellt, aber nichts Näheres herausbekommen können, als daß jenes Artillerieregiment, dem der unselige Kanonier Alfred Engländer angehörte, gegenwärtig im Frontbereich der Sieben Gemeinden stand.

Jetzt hielt er die Hand seines zweiten Freundes fest. Beide verstellten den Durchgang zwischen den Tischen. Weder er noch Weiß wichen aus. Mit der Rückerinnerungs-Leidenschaft an gemeinsame Erlebnisse, wie sie nur Militär- und Kriegskameraden kennen, fragten und erzählten sie durcheinander, ohne sich um den unbequemen Ort zu kümmern. Nach der ersten Wiedersehens-Überraschung freilich konnte Weiß nicht umhin, die vielen Bekannten, die in diesem Lokal saßen oder sich bewegten, in seiner lebhaften Art von ferne zu begrüßen. Der Gruß erfolgte je nach dem Grad der Beziehung in reicher Abstufung vom respektvollen Kompliment bis zum herablassenden Handwink. »In diesem Saal sitzen die Parlamentarier«, erklärte er schnell, als müsse ein unwissendes Landkind in die wichtigsten Anfangsgründe des großstädtischen Lebens eingeführt werden. Weiß hatte sich ziemlich verändert. Sein Gesicht war sehr mager geworden, sein Wesen in nervöser Weise aufgekratzt. Er berichtete sofort – um zwischen sich und Ferdinand kein Mißverständnis aufkommen zu lassen –, daß er zwar im Kriegsministerium noch zum Dienst erscheine, aber die alte Welt für verloren halte und den Tag der Abrechnung mit Riesenschritten herankommen sehe. Er selber sei mit dem und dem in ständiger Verbindung. Er raunte einige aufrührerische Namen in Ferdinands Ohr, die deutlich genug sprachen und jeden weiteren Kommentar überflüssig machten. Der oberste Haken seiner Uniformbluse stand offen. Darunter war ein farbiger Zivilkragen sichtbar. Diese Verachtung der Vorschrift hatte die Bedeutung: 1918! Defaitismus! Wer wagt es, mir wegen meiner Eigenwilligkeit einen Anstand zu machen?

Ferdinand hingegen war so genau und gläubig adjustiert wie am ersten Tag. Niemand hätte ihm seine Gedanken anmerken können.

Weiß schnappte plötzlich auf:

»Aber, Himmelherrgott ... jetzt fällt es mir erst ein ... Du bist ja ein Mordsmensch ...«

Er kannte die Geschichte von der vereitelten Hinrichtung ziemlich genau; kein Wunder schließlich, da er dem gleichen Truppenverbande angehört hatte. Weiß, der berühmte Spürhund entlarvender Zusammenhänge, kannte ganz andere, weit geheimnisvollere Begebnisse noch als die humane Gehorsamsverweigerung eines Leutnants. Von diesem Augenblick an zappelte er unruhig:

»Ich muß dich vorstellen ... Wir gehn in den Säulensaal ... Ich werde dich einführen ...«

Man hätte meinen können, er wolle Ferdinand irgendwelchen entscheidenden und unnahbaren Größen der Menschheit vorführen, so wichtig klangen diese Worte in seinem Mund. Auch der Begriff »Säulensaal« erweckte das Bild einer exklusiven, machterfüllten Örtlichkeit. Ohne eine Einwilligung abzuwarten, zog er ihn aus dem großen, stimmenplappernden, tassenklappernden Raum in einen schmalen Gang, wo sich die unechten Kaffeegerüche der Küche mit den echten Ammoniakdüften des Abtritts kreuzten.

Recht betäubt stand Ferdinand endlich im Eingang einer hohen Halle, die nicht zu Unrecht den Namen Säulensaal führte, obgleich sie nur ein schäbiges Kaffeehauslokal beherbergte.

Unvergessen der erste Eindruck: Warum ist diese Höhle so hoch? Und was für ein Licht ist das? Heute, nach so vielen Jahren, zweifelt Ferdinand, ob das Erinnerungsbild dieser kuppelhaften Höhle nicht einer Gedächtnisfälschung entspringe, die das Äußere des Raumes mit seinem eignen inneren Zustand von damals vermischt. Jedenfalls ist die unbehagliche Empfindung einer nur geahnten, sinnlosen Höhe noch heute vorhanden; etwas sonderbar Kirchenhaftes. Dick riegelte eine Wolkenbank von Zigarettenqualm (der stickige Weihrauchdunst dieses Doms) die Wölbung ab.

Auch das Licht war für einen Neuling verwirrend. Die graugehaltenen Mauern der Halle, deren menschenfeindliche Amts-Renaissance eine geradezu infernalische Stimmung förderte, hatten keine äußere Lichtquelle, nicht einmal eine armselige Luke! Alle Glühbirnen brannten insgesamt zu matt, um sich gegen das turmhafte Dunkel behaupten zu können. Außerdem war ja Kriegszeit, und mit dem Strom mußte gespart werden. Ein Nebenraum, das Schachzimmer, lag gegen die Straße. Von dort her fiel ein Balken unverschämter Sommersonne ein, störend, verletzend. Dieses Zwielicht, eine peinliche Stilmischung zweier Welten, ein Gemengsel von ungesundem Diesseits und schlampigem Jenseits, lastete auf der Seele. Die Luft gehörte genau zu diesem Licht. Der Stollen des Säulensaals schien nicht in ein gewöhnliches Haus, sondern in einen Berg eingesprengt zu sein, damit die Sphäre vor jeder Erneuerung und Durchlüftung geschützt sei.

Zu Ort, Licht und Luft paßten die Gäste nicht übel. Es waren zwar nur sechs oder sieben Tische besetzt, zwischen denen aber ein reger Verkehr herrschte. Immer wieder stand jemand auf, schlurfte müde ein paar Schritte und setzte sich ohne Umstände zu der Gesellschaft eines anderen Tisches, wo er, meist gar nicht an der Unterhaltung teilnehmend, gelangweilt verharrte. Unnachahmlich schlaff bewegten sich einige dieser Gestalten, ebenso wie die Vernachlässigung ihres gutbürgerlichen Anzugs unnachahmlich schlaff war. Zwischen angeekelten Lippen hingen erloschene Zigarren und Zigaretten, an denen zu saugen die Raucher viel zu gleichgültig schienen. Die Gesichter waren fast alle blaß, verfallen oder aufgedunsen. Sie seufzten vor unentrinnbarer Öde. Nur manchmal durchbrach ein erschreckendes Temperament die stieren Masken. Wortschwärme prasselten feindselig auf, die faulen Arme ruderten erregt, Witzigkeit spitzte die Sätze. Schnell aber war solch ein Feuer wieder zusammengesunken.

Kellner lehnten verächtlich an den Säulen des Saales. Sie glichen weniger dienstbaren Geistern als milden Gefangenenaufsehern, die gutmütig den Unfug von Sträflingen dulden, jederzeit aber bereit sind, mit voller Strenge einzuschreiten. Einer der Oberkellner starrte, ein ungerührtes Standbild, ins Leere, während sich ein Gast vor ihm in keifenden Beteuerungen wand. Der andere Ober, der schon ein Greis war, schlich auf weltmüden Kellnerbeinen durch den Raum. Den vielen Anrufen, denen er die schwerhörige Resignation eines Weisen entgegensetzte, entnahm Ferdinand, daß der Alte Fritz hieß.

Hinter der Säulenkolonnade, dicht an der Wand, standen grünbespannte Tische. Von dorther kamen die nachdenklichen, höhnischen oder triumphierenden Laute der Kartenspieler. Kurzsichtige Schreiberaugen, gerunzelte Intellektsstirnen stierten in die Tarockblätter. Draußen im Felde und auch in der Kaserne war das Kartenspiel eine angemessene Beschäftigung, der Ausdruck quälenden ziellosen Wartens. Hier wirkte das verkrochene Zusammenhocken unerfreulich. Ein dunkles Wort Engländers tauchte in Ferdinands Gedächtnis auf: Das Geheimnis des Kartenspiels ist die Todesangst.

Wie das Licht in diesem Saal aus zwei Elementen bestand, so war auch das Stimmengewirr, das ihn erfüllte, aus Lethargie und Aufregung gemischt. Licht aber und Stimmengewirr, die schlechte Luft, das Fremde, Neue, Gefährliche, Ronalds anspornende Worte – all dies wuchs für Ferdinand in ein schweres Unbehagen zusammen. Als er unversehens an einem der Tische saß, steigerte sich dieses Unbehagen beträchtlich, denn Ronald Weiß breitete die Heldentat von Kolkow mit prahlerischer Effektverstärkung vor der Tischrunde aus.

Zur Ehre Ferdinands muß gesagt werden, daß er jenes Ereignis in Augenblicken schärfster Selbsterkenntnis nicht für eine große Tat hielt. Die Rettung seines eigenen Gewissens war ihm damals viel wichtiger gewesen als die Rettung von drei fremden Menschenleben. In Verzweiflung hatte er die letzte Möglichkeit ergriffen, von sich abzuwenden, was nicht zu ertragen war. Wenn er den Vorgang klar untersuchte, konnte von einer Heldentat, von einem wohlüberlegten Willensakt gegen sein eigenes Interesse, keine Rede sein. Viel eher gab er dem Auditor und seinem freundlichen Schriftsatz recht: ein Nervenversager. Dieser Weiß aber schilderte, um seinen Freund herauszustreichen, den Fall ganz verkehrt: Heroische Unbotmäßigkeit! Tatenkühner Pazifismus. Man hätte nach Ronalds Darstellung Ferdinand für einen härenen Sektierer oder für einen aufrechten Tolstojaner halten können. Ein mahnendes Erbteil seines Wesens liebte es aber gar nicht, um einer offenen Auflehnung willen vorbehaltlos gelobt zu werden. Während eines stummen Jahres hatte sich zwar viel Brennstoff in ihm aufgehäuft; dennoch erfüllte ihn jetzt Ronalds Gerede und das Zuhören der andern mit Widerständen. Er machte erfolglose Zeichen gegen Weiß hin, damit er endlich dieses Thema verlasse. ›Wohin bin ich geraten?‹ Diese Frage bohrte, und ›Wozu bin ich bereit?‹ Seine alte Gabe, das Vorwissen, regte sich. Ein Zufall war die Begegnung nicht, das spürte er. Dieses Lokal, dieser Tisch, diese Gesichter, sie hatten ihn erwartet. Ihm war, als sitze er nicht erst fünf Minuten hier. Endlich verließ Weiß den ernsten Ton und glitt in den Witz hinüber. Ferdinand atmete auf. Die Leute lachten. Nur einer lachte nicht. Ein hoher, federnder Mann mit ruckigen Gebärden, der unvermittelt aufsprang, zu Ferdinand trat und ihm leidenschaftlich die Hand schüttelte: »Gebhart!«

Des Mannes zerrütteter Kopf zeigte eine herrliche Hakennase, die nur an der Spitze etwas erschlafft abfiel. Graublondes Haar, das in die Stirne hing. Ein Vierzigjähriger, von der Natur sichtlich nicht dazu bestimmt, an diesem Ort der geschwätzigen Erstarrung seine Zeit zu verschwenden. Ferdinand traf sofort ein Sympathiestrahl. Er wußte nicht warum, Gebhart wirkte ehrfurchtgebietend. Dieser zuckte jetzt ein paarmal verlegen mit der Schulter, setzte zum Sprechen an, sagte nichts und ging an seinen Platz zurück.

Ein Gespräch kam in Schwung, das durch die Geschichte von Kolkow angeregt war. Man erzählte von Deserteuren, von den Refraktären in den neutralen Staaten, von der geheimnisvollen Einrichtung der grünen Kader hinter der Front, zu denen sich so viele Ausreißer schlugen und die als Sammelbecken der zukünftigen Revolution galten. Die Revolution schien in diesem Kreise eine selbstverständliche, längst beschlossene Sache zu sein, in die niemand mehr Zweifel setzte. Weiß berichtete von dem neuesten Heereserlaß, der alle Urlaube einstellte. Es sei ein offenes Geheimnis, daß achtzig Prozent aller Urlauber nicht mehr in ihre Einteilung zurückkehrten und sich zu Hause versteckten. Kein Wunder, daß Ronald Weiß auch mit politischen Informationen vertraulicher Art prunken konnte. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß nunmehr auch die Kroaten, dem Beispiel der Tschechen folgend, sich weigerten, mit der Krone in Verhandlung zu treten. Die slawischen Gegenregierungen in Paris machten von Tag zu Tag größere Fortschritte.

Während die Regierung, die Staatsmänner, die leitenden Stellen, ja selbst die unterschiedlichen Nationalverbände noch an das künftige Fortbestehn der Monarchie glaubten, waren die Neurastheniker des Säulensaals von ihrem Untergang längst überzeugt. Kranke Nerven haben immer einen Vorsprung in der Zeiterkenntnis. Die russische Revolution hatte die Welt umgeworfen. Sie sahen nur dies. Alle anderen Tatsachen waren überalterte Restbestände, die sie verachteten. Ehe die Sozialisten selber noch daran dachten, daß ihnen die Herrschaft über Nacht in den Schoß fallen werde, wurden sie im Säulensaal schon als Reaktionäre gelästert, als »Sozialverräter«, vor denen man die Revolution werde schützen müssen. Dabei hatten die wenigsten hier in ihrem ganzen Leben mit einem Arbeiter gesprochen. Zu Verrätern wurden übrigens nicht nur die gemäßigten Abgeordneten der sozialdemokratischen Partei gerechnet, sondern auch die meisten der geistigen Berühmtheiten Europas, Gelehrte, Dichter, Künstler, denen der höhnischeste Haß galt.

Neben Ronald Weiß führte der Maler Stechler das große Wort, der den Journalisten mit abenteuerlichen Ansichten zu überbieten suchte. Andere Gesichter sahen, obgleich sie zustimmten, dennoch etwas geniert drein. Ihr Beifall war auf einem gelblichen Grund von Furcht und Mißbehagen gemalt. Früher hatte man mit Kriegstaten und -greueln geprunkt. Hier war jeder darauf bedacht, sich durch scharfen Spott gegen die herrschende Weltordnung vor der Zukunft zu rechtfertigen. Jedermann wollte jetzt schon bei Kriegsausbruch Kriegsgegner gewesen sein. An die Stelle anderer Prahlerei trat der Ruhm des »Tachenierens« und erntete Bewunderung. Stechler erging sich in einer langen Geschichte, die den Lauschern dramatisch vorführte, wie er drei Wochen lang in der Beobachtungszelle unübertrefflich einen grundgütigen Kretin simuliert habe. Sein wirres und zerknittertes Gesicht strahlte. Weiß stieß Ferdinand an, um ihn vor diesem Schwindler zu warnen. Jede Stunde hat ihre Eitelkeit und ihre Mode.

Der Maler war sehr stolz darauf, daß er als erster in dem konservativen Wien kubistische Bilder ausgestellt hatte. Wie es einem »abstrakten« Künstler zusteht, schien er sich einer hohen wissenschaftlichen Bildung zu erfreuen, die mit seinem Vorstadtdialekt unheimliche Klangverbindungen einging. Er sprach vom »gekrümmten Raum«, von »Gestirnpulsation«, von Kant und Pascal. Diese orakelhaften Worte flocht er in seine Reden, auch wenn sie von anderen Dingen handelten. An Gebharts Tisch war Stechler nur Gast. Seine knatternde Geistigkeit deutete darauf hin, daß er zu Doktor Basils Gesellschaft gehörte. Diese Gesellschaft galt als die ausgemachte Aristokratie des Säulensaals. Ronald Weiß, der das Solistentum eines anderen nur schwer ertrug, versuchte Stechler in Verwirrung zu bringen. Er stellte sich dumm und bat den Maler, er möge ihn, als ungebildeten Menschen, belehren, was der Inhalt all jener großartigen Begriffe und Namen sei. Die Auskunft erfolgte im reinsten Hernalserisch und lautete etwa, Kant sei »tulli« und Bergson verzapfe ein »unpräzises Gschlader«. Stechler entpuppte sich nämlich als Anhänger strengen und exakten Denkens.

Ferdinand saß ganz still mitten unter diesem verlotterten Gerede. Obgleich er das Haltlose, Hinundherspringende des Schwatzes genau spürte, so hörte er doch mit großem Eifer zu. Er war ja verschmachtet nach höheren Gesprächen. Seit den Zusammenkünften mit Engländer hatte er solches Getränk nicht genießen dürfen. Mochte auch das Wenigste davon echt sein, es klang doch nach hohen Dingen. Ferdinand glühte. Anderes kam noch dazu. Ronalds Einführung hatte gewirkt. Die Leute hier brachten ihm unzweifelhaft Achtung und Aufmerksamkeit entgegen. Wie schön war es, endlich, endlich mehr zu sein als ein kleines Atom, von den Kräften einer rohen Welt umhergetrieben! Sollte er sich wehren? Durfte er sich nicht des schmeichelhaften Gefühls freuen, unter Menschen zu sitzen, die in ihm mehr sahen als den Besitzer einer Erkennungskapsel, unter Menschen, die frei und kühn aussprachen, was seit Monaten seine verborgenste Herzkammer zersprengte.

Dennoch, er sah auf die Uhr! Es ging auf halb vier. Ferdinand hätte sich den prickelnden Wortwirrwarr vielleicht noch eine Weile lang angehört und wäre dann langsam zum Ostbahnhof spaziert, wenn – ja, wenn Gebharts blaue, begeisterte Augen ihn losgelassen hätten.

Dieser dankbar-stetige Blick zeigte eine geradlinige Kindereinfalt, wie man sie an Fanatikeraugen manchmal bemerken kann. Fast alle Blicke ringsum waren eitel. Gebharts Auge spiegelte keine Wirkungen. So weich es leuchtete, eine unverrückbare Überzeugung lag auf dem Grunde seines Lichts. Während die andern alle durcheinandersprachen, keiner jemanden ausreden ließ, die Themen sich gegenseitig durchkreuzten, besaß Gebhart eine zart-höfliche, ja ritterliche Art, dem größten Unsinn mit ernster Geneigtheit zuzuhören. Dann erst antwortete seine leise Stimme, fast schüchtern. Das Wenige, was er sagte, entstammte niemals dem Zufall einer Gesprächswendung, sondern stieg empor aus runden und gehärteten Anschauungen. Seine Rede war immer logisch überlegen, und doch umschloß sie den Kern einer hartnäckigen Tollheit, etwas bei aller Klarheit Beängstigendes, das Ferdinand in Unruhe versetzte.

Gebhart saß zwischen zwei Frauen. Es berührte sehr merkwürdig, wenn er sich zeitweilig aus dem allgemeinen Gespräch löste und in eine erregt-tuschelnde Unterhaltung mit seinen Nachbarinnen verfiel. Lisa schien von ihnen die legitimere zu sein. Auf ihren häßlichen Zügen lag der unsichere Hochmut eines Wesens, das sich zu einem Glauben emporgerissen hat, für den es viel zu schwach ist. Sie war das schweigsamste Mitglied der Gesellschaft, aber sie schwieg böse und kehrte eine abschätzige Verschlossenheit hervor. Vielleicht verbarg sich hinter ihrem Hochmut nur die Gekränktheit enttäuschter Besitzansprüche. Ihr lautes Gegenteil war Angelika. Ferdinand erinnerte sich, daß Weiß sie einmal »Angelika, das geniale Dienstmädel« nannte. Sie war bildhübsch, aber ihr Reiz zeigte tatsächlich das flache Blond und die Geziertheit eines Dienstmädchens, das einen ewigen Sonntag feiert. Die Vernachlässigung des Kleides, die zum Stil dieses Ortes gehörte, war von ihr geschickt gemildert. Während Lisa einen geradezu schmutzigen und ungekämmten Eindruck machte, hatte Angelika gepflegte Nägel und trug eine kleine Bernsteinkette um ihren rührend kindlich gebliebenen Hals. Was aber das Eigenschaftswort »genial« anbelangt, so verdankte sie es den Anfällen wütender Aphoristik, von denen sie gepackt wurde, wenn sich die Wirkung des Kokains einstellte. (Gebhart und seine ganze Umgebung schnupften diese Droge zu jeder Tageszeit.) Staunend erlebte Ferdinand jetzt solch einen Anfall, den er sich gar nicht zu erklären wußte. Angelika geriet in Raserei und begann irgendeinen Tischgenossen, der ihr widerwärtig war, zu »analysieren«. Grelle Tiefblicke vermischten sich mit wüsten Schmähungen, zuletzt fegten gemeine Schmutzworte über den Tisch. Sie wurde bis unter die Haare rot von unbegründetem Zorn, und ihre Haltung sank von der Prophetinnenpose bis zum Fuchteln eines Waschweibs hinab.

Angelikas Leiden war nicht unähnlich dem Leiden Stechlers. Sie mußte nämlich unausgesetzt über ihre geistigen Verhältnisse leben.

Man hält die Boheme im allgemeinen für die Lebensform der völligen Gesetz- und Zuchtlosigkeit. Das ist ein großer Irrtum. Sie hat ihre strengen Regeln wie nur irgendein Orden. Eine dieser Regeln lautet: Stellt sich jemand auf einen krassen Standpunkt, so nimm sogleich einen noch krasseren ein. Man muß also immer auf der Hut sein, um sich nicht einer bürgerlichen Rückständigkeit schuldig zu machen. Die Überwindung solcher Gefahren kostet einen großen Aufwand an geistiger Anstrengung. In dieser Hinsicht war die arme Angelika in keiner beneidenswerten Lage. Sie hatte nur drei Volksschulklassen besucht und später hier im Säulensaal etwa hundert Buch- und Autorentitel aufgeschnappt. Mit diesem kärglichen Rüstzeug – dieses Lob muß man ihr vorbehaltlos erteilen – schlug sie sich verwegen durch. Stechler hatte wenigstens in den philosophischen und mathematischen Werken, mit denen er seine Neider plattschlagen wollte, geblättert. Die unruhige Angelika war nie imstande gewesen, zehn Seiten hintereinander zu lesen. Das Kokain half ihr beflügelnd über diese Schwäche hinweg. Sie warf dann mit den Begriffen der Psychoanalyse herum, die damals noch keineswegs volkstümlich war. Sie sprach über Wedekind und andere Dichter, die sie ebenso gründlich kannte. Mitten in dem Schwulst aber kam ihr manchmal ein weiblicher Naturlaut ins Gehege, den sie zu einer knappen Sentenz umzuprägen verstand. Alle horchten erstaunt auf, und Gebhart, ihr Mentor, lauschte mit andächtig lächelndem Ernst. Ebensooft verfiel sie aber in kleinlaute Stimmungen. Dann übertrieb sie die Dinge in ihr Gegenteil. Sie spiegelte eine tückische Primitivität vor und verleugnete selbst das, was sie wußte. In solchen Momenten pflegte sie mit anzüglichem Tonfall eine Lieblingswendung zu gebrauchen: »Sie müssen nämlich wissen, ich bin niedriger Herkunft.«

Übrigens war auch ein so kenntnisreicher Mann wie Ronald Weiß in dieser Umgebung wie ausgewechselt und von einer stürmischen Erregung erfüllt, der er nicht Herr werden konnte. Er sprach, ohne abzusetzen, als müsse er sich in jeder Sekunde gegen Zweifler beweisen. Wenn ihm jemand das Wort abschnitt, wurde er unglücklich. Seine Augen weideten unruhig alle Tische und Gesichter ab, ob sich wohl irgendwo noch jemand verberge, den er nicht überzeugt habe.

Ferdinand, der Neuling, konnte natürlich nicht wissen, was der Säulensaal für seinen Kameraden bedeutete. Weiß war ein sehr gesuchter Journalist. Aber sich mit dieser Rolle zufriedenzugeben, dazu war er der Mann nicht, wenngleich er auch immer wieder betonte, er wünsche nichts andres zu sein, als was er sei, das scharfe Zeitauge nämlich, das die Bilder der Gegenwart wahr und glänzend spiegle. Hier aber im Café verkehrten nicht nur Tagesschreiber, sondern auch Schriftsteller seltenerer Art, Männer, deren Name in hochnäsigen Revuen zu Hause war und die einen feinen esoterischen Ruhm zu verwalten hatten. Basil zum Beispiel und seine Jünger. Die hohe ausgemergelte Gestalt des Genannten betrat in diesem Augenblick den Säulensaal und ließ sich mit lässiger Grandezza an dem Nebentisch nieder, wo seine Anhänger schon warteten. Von nun an sprach Weiß sehr laut, um auch von Basil gehört zu werden. Es war ja einer seiner besten Charakterzüge, daß er das Höhere fassungslos und knechtisch verehrte. Mit großer Umsicht war er darauf bedacht, diese Schwäche nicht zu offenbaren. Er begrüßte Basil burschikos wie einen älteren, aber lebensfremderen Kollegen. Auch für Gebhart empfand Ronald Verehrung, aber sie war anderer Natur. Basil spielte in der Literatur eine Rolle, hatte es also zu etwas gebracht. Gebhart war ein Außenseiter und Empörer. Zwischen ihm und der bestehenden Rangordnung gab es keinen Weg. So revolutionär auch Weiß heute dachte, in tiefster Seele glaubte er mit kindlichem Erschauern an die gestempelten Geltungen. Wer dieser gehetzten Natur und ihrer Rolle gerecht werden will, muß bedenken, daß Ronald Weiß immerfort an der ungerechten Wertverteilung der Welt litt und nur allzu leicht geneigt war, den eigenen Wert, wie immer er auch beschaffen sein mochte, zu unterschätzen. Ununterbrochen erlebte er Siege und Niederlagen, welche an diesem Ort der Geister, die er für überlegen hielt, doppelt süß oder bitter schmeckten. Ferdinand bedeutete für ihn einen unzweifelhaften Sieg. In dieser wortverluderten Sphäre war der Mensch etwas überraschend Neues. Ein Jüngling, schüchtern, unliterarisch, ohne nutzsüchtige Nebenabsichten. Und doch, er hatte einen Mutbeweis gegeben, der alle hier beschämen mußte. Wer weiß, was in dem Jungen noch alles steckte? Gebhart war offensichtlich begeistert. Angelika hatte die Runde verlassen und war verjüngt und mit wohlgeröteten Wangen zurückgekehrt. Weiß war nicht eifersüchtig. Auch dies galt ihm nur als ein Merkmal seines Sieges. Jedenfalls mußte er Ferdinand auch an den Tisch Basils bringen. Während solche Gedanken in ihm arbeiteten, war er aber nicht gesonnen, sich die Macht der Unterhaltung entwinden zu lassen. Er erzählte lustige Geschichten aus dem Presseamt. Von der Militärkanzlei des Kaisers war ein Befehl herabgelangt, für die Ansprachen seiner Majestät an Zivil und Heer markige Kernworte, holde Güteformeln, gekrönte Prunksätze zum Gebrauch fix und fertig herzustellen. Weiß hatte diesen Auftrag übernommen und sich seiner in geistreich-zweideutiger Art entledigt, wie die Aussprüche bewiesen, die er jetzt zitierte. Er behauptete, daß der General, dem sie zur Zensur vorgelegt wurden, die Fopperei gar nicht bemerkt und ihm sein besonderes Lob ausgesprochen habe. Wieder ein Beweis, mit welch gottverlassener Einfalt die Herren der sterbenden Zeit ihrem Schicksal entgegengingen. Ferdinand fand es komisch, daß Weiß, Stechler und andere von den Gewaltigen dieser Erde wie von alten Trotteln sprachen, die man nicht besonders fürchten müsse. Er kannte nur einen von ihren geringsten Vasallen, Steidler. Aber welch ein furchtbarer Gegner war er! Wohin man blickte, fieberte Hochmut, selbst hier.

Der Säulensaal begann sich um diese Stunde zu füllen. Es wurden auch manche harmlose Gestalten von der Straße hereingespült, die der Welt dieses Ortes nicht angehörten. Plötzlich stürzte ein junges Mädchen mit verzerrtem Gesicht auf Gebhart los. Lisa und Angelika sprangen auf. Wortwechsel der Weiber erhob sich. Ein eigentümlich verklärter Ausdruck kam über Gebhart. Er drängte die drei an einen leeren Tisch. Dort saß er mit ihnen, weit vorgeneigt, nickend, lächelnd. Die weibliche Stimmenschärfe verdüsterte sich zu einem Flüstern, aus dem sich manchmal die wohlklingenden Laute des Mannes leise sonderten. Gebhart sprach das Deutsch der hohen Beamten in Österreich, das die Farbe nachgedunkelter Bilder hat. Eine der Frauen weinte. Angelika hatte wieder einen Anfall ihrer wüsten Beredsamkeit. Der graublonde Kopf eines fremdartigen Raubvogels wiegte sich, dicht über die Marmorplatte gebeugt, zärtlich zwischen den streitenden Mänaden. Wenn die Federn der Hühner flogen, schien er sich besonders wohl zu fühlen. Denkt Ferdinand heute, nach vielen Jahren, an Gebhart, so sieht er immer das gleiche Bild. Ein verwitterter Adlerkopf, ein zerzauster Raubhahn zwischen bösartigen, grauverschlampten Hennen, zärtlich nickend, wortepickend. Was aber der Inhalt dieser auffälligen Gespräche war, zu denen sich Gebhart und seine grauen Hennen oder Krähen mehrmals in jeder Stunde niederließen, das konnte niemand in Erfahrung bringen. Es schien weibliche Geheimnisse zu geben, die kein anderer außer ihm verstand.

Halb fünf Uhr. Höchste Zeit! Verlassen saß Ferdinand unter Fremden, denn Weiß hatte sich zu dem Tisch geschlagen, wo Basil thronte. Stechler schwärmte von einem neuen Mann, einem mit magischen Kräften begabten Maler, der vor einiger Zeit in Wien aufgetaucht sei, sich aber weigere, das Café zu betreten. Sein Dialekt überzog die Fremdworte, die er gebrauchte, mit dem unverschämten Firnis ordinärer Umlaute. Ferdinand stand auf. Am besten war es, sang- und klanglos zu verschwinden. Er winkte den Ober Fritz heran. Mit todmüdem Scharren folgte der Kellner dem Ruf. Ein tausendfach gefälteltes Lächeln gütiger Weltverachtung leuchtete den Gast ab:

»Herr Leutnant gehn schon?«

Ferdinand bezahlte seinen Kaffee. Augen, die alle Genußsucht, Leidenschaft und Dummheit der Welt kannten, betrachteten ihn mit Wohlwollen. Fritz suchte eine Anknüpfung:

»Herr Leutnant waren heut das erstemal hier ... bei uns ...?«

Ferdinand bejahte. Aus der Brust des Kellners aber rasselte ein unbeschreibliches Lachen, ein Lachen diabolischer Gutmütigkeit, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist. Er zwinkerte dem Fremdling zu, als wolle er ihn auf die grenzenlose Lächerlichkeit der Welt im allgemeinen und dieses Lokals im besonderen aufmerksam machen. Ferdinand, der ihn nicht verstand, verabschiedete sich freundlich.

Er hatte schon die Tür erreicht, als ihn eine Hand zurückhielt. Es war eine weiche und schmächtige Hand, eine wundervolle, eine fürchterliche Hand, Gebharts Hand:

»Sie wollen schon gehn?«

»Ja, ich muß zur Bahn.«

Gebhart neigte den Kopf mit einer wehmütig lächelnden Miene zur Seite. Er schien nicht zu begreifen, daß es ein Müssen gebe:

»Warum? Wohin wollen Sie denn fahren?«

»Nach Bruck, zu meinem Regiment.«

Das wehmütige Raubvogelgesicht schrak zusammen, als hätte es eben etwas Schändliches vernommen:

»Zu Ihrem Regiment? ... Aber das ist ja unmöglich ...«

Ferdinand wußte genau, was kommen werde. Dennoch fragte er, warum dies unmöglich sei. Gebhart streckte seinen Kopf angelegentlich vor:

»Sie haben etwas Wundervolles getan ... Sie sind ein Revolutionär ... Jetzt aber dürfen Sie nichts abschwächen ... Sie sollen Ihren Weg zu Ende gehn ...«

»Welchen Weg?«

»Desertieren!«

Das Wort »desertieren« bereitete Gebhart einen besonderen Genuß. Sein Gesicht spiegelte die gleiche zärtliche Begeisterung wie vorhin, da er unter den streitenden Frauen saß:

»Sie sollen bei uns bleiben ... Wir werden Sie verstecken ... Ich glaube, wir gehören zueinander.«

Schüchtern stand er mit seinem seltsam unfertigen Knabenkörper da, der sich einer Liebesbeteuerung zu schämen schien. Er schwieg und sein Lächeln flehte. Im Oberkiefer fehlten ihm die beiden Schneidezähne, wodurch er jetzt unbetreut und erbarmungswürdig aussah. Dies vielleicht entschied.

Obgleich Ferdinand in seinen Träumen den Dienst so oft schon aufgesagt hatte, traf ihn der Begriff des Desertierens jetzt wie ein scharfer Schreck. Der Zeiger der Uhr war stark vorgerückt. Desertieren? Man mußte nicht gleich an so etwas denken. Ob er heute, morgen oder übermorgen nach Bruck zurückkehrte, war ganz gleichgültig. Niemand würde sich darum scheren. In der Nacht übrigens ging auch noch ein guter Zug.

Gebharts verführerhaftes Wesen wirkte. Ferdinand sah sich nach dem Tisch um. Weiß fuhr auf ihn los:

»Du wirst mir nicht durchbrennen, du Hund du, während ich deinen Ruhm verbreite.«

Und nicht unfeierlich betonte er:

»Basil will dich kennenlernen.«

   

Der Vorzug Basils bestand nebst anderen Verdiensten darin, daß er, nunmehr bei Jahren, noch und immer wieder in der vordersten Reihe der Jugend zu finden war. Es ist des Landes hier und anderwärts der Brauch, daß alle zehn Jahre etwa sich ein paar hoffnungsvolle Zwanzigjährige zusammentun und, auf ihre Begabung im schriftlichen Gedankenausdruck pochend, von sich behaupten, sie seien eine neue Bewegung, eine neue Richtung, eine neue Jugend, eine neue Generation der Menschheit. Kein Kluger wird ihnen diese Behauptung übelnehmen, die ja schon im Körperlichen auf einer unbestreitbaren Tatsache fußt. Der Hauptinhalt der neuen Bewegungen liegt in dem Versuch, das Zurzeit-Gültige, die geistige Mode also, die vor einer Weile in Schwang kam, kritisch aufzuheben, verdächtig und lächerlich zu machen. (Das gleiche geschichtliche Gesetz zwingt die Damenschneider, ihre eigenen Hervorbringungen nach einigen Monaten auf den Mist zu werfen, damit ja keine Stockung des Modewechsels eintrete.) Um aber das Gestrige bekämpfen zu können, braucht man eine gedruckte Heimstätte für die Kameraderie des angriffbereiten Auftriebs, eine Zeitschrift. Druckereien wollen bezahlt werden, und Geld hat man keines. In Dingen der neuen Generation tritt also die Frage des Geldgebers gebieterisch in den Vordergrund. Die Kunst Basils hatte es schon seit dreißig Jahren zuwege gebracht, immer wieder harmlose Verschwender aufzuspüren, welche die Zeitschriften der jeweils Jungen finanzierten. Es wird einem künftigen Historiker schwer werden, all jene Blättchen und ihre erfindungsreichen Titel festzustellen, die dem Doktor Basil ihr kurzes Leben dankten. Ein armer Teufel sonst, war er in dieser Hinsicht eine echte Gründernatur. Dafür spricht auch, daß er nicht aus Eitelkeit und zu seiner Selbstverherrlichung die Mühe auf sich nahm, ebensowenig wie er den Part eines Vorkämpfers der Jugend spielen wollte, die ihm aber dennoch die Entdeckung manchen Talentes verdankt. Wie der Seidenwurm spinnt, so gründete Basil hochliterarische Wochen- und Monatsschriften. Seine Feder füllte sie mit glänzend ziselierten Aufsätzen und Betrachtungen an, die er unter den wohllautendsten Pseudonymen, seltener mit eigener Namenszeichnung über die Spalten streute. Es kam ihm nicht darauf an, daß seine Schöpfungen der Zeit widerstanden. Sie gingen auch meist nach ein paar Nummern unter. Wichtiger war es, daß immer neue Periodica zur Gründung und vor allem zu Titeln kamen, die einer unerschöpflichen Einfallsgabe entsprangen. War die Zeit vornehm dekadent gesinnt, wurden Edelsteine zur Namensgebung herangezogen, gehörte erotischer Leichtsinn zum guten Ton, flatterten zierliche Hefte in die Buchhandlungen, die sich zum Beispiel ›Der Kristallflacon‹ nannten, neigte der Tag zu gelehrsamer Verhaltenheit, erschienen, trockenen Angesichts, unhandliche Quartbände, in denen finster-langweilige Aufsätze moderten. Diese Geschmeidigkeit könnte den Anschein einer Persönlichkeitsschwäche erwecken. Dem war aber nicht so. Basil blieb sich in allen Verwandlungen treu. Mit seinen endlos spindeldürren Armen und Beinen, mit seinem hochstirnig bleichen Kopf glich er einem durchsichtigen, feinen und spinnengliedrigen Insekt. Seine Schriften bestätigten dieses Aussehn.

Jetzt eben, zur Stunde, da Ferdinand, von Weiß eingeführt, an Basils Tisch Platz nahm, war eine neue Zeitschrift in Gründung begriffen. Diesmal hatte der Findige einen ganz großen Geldgeber herangezogen. Aschermann, der Präsident einer großen Kriegszentrale, eine vielgescholtene, vielbewunderte Kraftnatur. Schon stand der Titel der neuen Unternehmung fest:

›Der Aufruhr in Gott – Blätter für Kommunismus und katholische Kirche.‹

Ein tollkühnes Vorhaben, gewiß! Aber es fand seine Erklärung in dem Umstand, daß der größte Teil der neuen Generation einerseits dem russischen Kommunismus zustrebte und Basil anderseits in Gefolgschaft französischer Neukatholiken (etwas außergewöhnlich Feines) der Kirchlichkeit und dem Konvertitentum anhing.

Solche atemberaubende Gegensätze auszugleichen, war Basil der luftige Geist. Sogleich zog Ferdinand, der noch gar nicht wußte, worum es ging, in den Kreis seiner Erklärungen: Hier Katholizismus, dort Kommunismus, beide überpersönliche, kollektive Erlösungslehren, beide in Waffen gegen einen einzigen gemeinsamen Feind, den Liberalismus, die Demokratie, das hassenswerte Bürgertum! Beide dem tausendjährigen Reich zugewandt und grundsätzliche Gegner des Krieges und des Geldes! Beide jesuitischen Methoden ergeben, das heißt dem zeitlichen Ideenverrat zur Erreichung überzeitlicher Erfolge. Hier die gewordene, dort die werdende Macht, deren Vereinigung den Sieg des Geistes auf Erden bedeutet.

Wie anders, wie leidenschaftlich dunkel tönte das Bekenntnis zum Aufruhr in Gott aus Engländers Mund! Ferdinand versenkte sich in den Anblick Basils. Der weißhaarige Kopf, das eingefallene Gesicht war so arm, so leidend, der Mund jedoch spottgeschnitten und die knochigen, mit rötlichen Flecken bedeckten Hände gierig, ja schamlos. Er sah ziemlich alt aus, älter vielleicht, als er war. Es mußte diesen ausgelebten Mann schon allerlei seelischen und körperlichen Aufwand kosten, um es immer mit der Jugend zu halten und ihr unbequemes Bummelleben zu führen. Basil lächelte dem Neuling aufmunternd zu:

»Nun, wie wär's? Wollen Sie bei uns mitarbeiten?«

Ferdinand fühlte sich rot werden:

»Ich schreibe nicht. Ich kann gar nicht schreiben.«

Bei diesem Bekenntnis entspannte sich der ablehnende Hochmut auf den Gesichtern von Basils Beisitzern. Gleich bei der Vorstellung hatten Ferdinand die zugekniffenen Lippen dieser Leute erschreckt. Der Tisch hier, an dem die strebsamsten Einwohner des Säulensaals saßen, war der Ursprung dichter Hochmutswirbel. Ferdinand empfand sie leibhaftig. Kein Hochmut ist giftiger als jener, der aus gereizten Unzulänglichkeitsgefühlen stammt. Warum maßen ihn diese Gesichter mit verächtlichem Schweigen? Stechlers knallende Bildungsexplosionen wirkten noch sympathischer als dieses Schweigen. Der Maler war freilich in des Meisters Nähe sehr kleinlaut geworden.

Basil fand es überaus begrüßenswert, daß Ferdinand ein unschuldiger Laie und kein Mann sei, der schon literarische Bemühungen vorzuweisen habe. Er solle aufrichtig seine Erlebnisse und Gedanken während des Krieges und bei seiner Verwundung niederschreiben. Es werde dabei unbedingt etwas Interessanteres herauskommen als die übliche Leier der geeichten Namen und das regellose Wehgeheule kriegsmüder Lyriker. Gerade von einem Menschen, der aus einer ganz anderen Gegend komme, verspreche er sich viel. Was hingegen den Aufsatz betreffe, fuhr er fort, den ihm Stechler angeboten habe, so könne er ihn keinesfalls veröffentlichen, weil er noch nicht gescheut genug sei (er sagte wirklich »gescheut«), ihn zu verstehen.

Der kleine zerknitterte Maler sank zusammen und stotterte:

»Ich habe ja nur als bildender Künstler versucht ...«

Er kam in seiner Rechtfertigung nicht weiter. Basil nämlich umfaßte ein junges Mädchen, das vorüberschlüpfen wollte, und zog es an den Tisch: »Die geniale Schauspielerin Erna«, sagte er und leuchtete scheinheilig. Seine großen Hände streichelten die Choristinnen-Erscheinung, die sich geduldig dem älteren Herrn überließ. Sinnend schlug er fernblickende Augen auf. Dann meinte er, zu Ferdinand gewandt, als sei er sicher von ihm und sonst keinem verstanden worden:

»Leben kann man nur mit einfachen Menschen und mit Frauen.« Solches festzustellen, war er sich von Zeit zu Zeit schuldig. Weiß brachte das Gespräch auf den Ausgangspunkt zurück. Er war von Basils Vorschlag begeistert. Ferdinand müsse unbedingt einen Aufsatz für die neue Zeitschrift verfassen. Er, Weiß, besitze Briefe dieses stillen Wassers und verbürge sich für eine originelle Arbeit. Auf solche Art seien übrigens die größten Schriftsteller entdeckt worden. Ferdinand wehrte immer erschrockener ab. Basil orakelte von seinen Plänen. Während er sprach, sah es so aus, als habe er die Schauspielerin neben sich schon gänzlich vergessen. Nur seine Hände waren wie zwei fremde Persönlichkeiten weiter mit ihr beschäftigt. Diesmal habe es eine ganz andere Bewandtnis mit der Zeitschrift, stehe doch eine wirkliche Macht dahinter, ein großer Mann dieser Zeit, ein Feuerkopf der Wirtschaft. Er sprach aber jetzt den Namen nicht aus. Die Schauspielerin entfloh. Basils enttäuschte Hände fielen leer auf den Tisch.

»›Der Aufruhr in Gott‹«, sagte er zuversichtlich, »wird anständige Honorare zahlen.«

Längst war der Schnellzug nach Bruck schon abgegangen. Der Balken Tageslicht, der vom Schachzimmer her das Hades-Grau des Säulensaals durchstieß, färbte sich bernsteingelb. Immer neue Gäste kamen, deren Gestalten sich sogleich in dem Element dieses Raumes auflösten. Sie gehörten unverkennbar hierher. Manche nahmen nicht Platz, sondern schweiften, nach allen Seiten lugend, neugierig-müßig zwischen den Tischen. Sie schienen Bekannte zu suchen. In Wahrheit suchten sie nichts oder wenigstens nichts, wovon sie wußten. Nach getanem Umgang verschwanden sie, kamen aber bald wieder, um von neuem zu kreisen. Das Café schien auf sie eine geheimnisvolle Anziehung und Abstoßung auszuüben.

Auch Ferdinand erlag, ohne es zu ahnen, den verborgenen Einwirkungen des Lokals. Seine Beklemmung war verschwunden. Er hatte das Gefühl, einem spannenden und lebensvollen Schauspiel beizuwohnen. Schon stellte er Fragen nach auffälligen Menschen. Eine Elendsgestalt fesselte ihn besonders, die mit hochgezogenen Schultern und gekrümmtem Buckel Basils Tisch umschlich. »Der Dichter Gottfried Krasny«, belehrte ihn Weiß, eine eigenwillige Begabung, in jenen Umständen lebend, die dem Talente einzig angemessen seien. Ferdinand zweifelte nicht, daß echte Dichter so aussehen müßten. Vor wenigen Minuten hatte ein geistreicher und selbstzufriedener Herr an diesem Tisch den Satz ausgesprochen, daß der Urbegriff des wahren Dichters und des wahren Bettlers zusammenfalle. Ein Dichter, der das Zeug habe, den »Bettelstab« mit dem »Lorbeerbaum« zu vertauschen, sei eben kein echter Dichter. Zum Beweise zog der kluge Herr den berühmten Bettelpoeten heran, dessen Bild hier eine Säule zierte, obgleich er selber nicht mehr im Café verkehrte. Er nannte diesen großen Mann nicht Altenberg, sondern mit wohlwollender Intimität kurzweg Peter. Zwar besitze Peter ein ansehnliches Bankguthaben, dennoch aber sei er der Lebensweise eines Bettlers niemals untreu geworden, was den bündigen Beweis für sein echtes Dichterwesen bedeute.

Als aber die begehrlichen Kreise Gottfried Krasnys immer enger wurden, bekamen alle starre Rücken und sahen weg.

Eine farbige Frauenerscheinung kam lächelnd auf den Tisch zu. Basils Jünger erhoben sich, er jedoch blieb sitzen und reichte der jungen Dame bloß die Hand. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, Hedda habe sich aus einer helleren Welt in das Schattenreich nur verirrt. Die Eingeweihten aber wußten, daß es damit umgekehrt stand. Sie war aus dem Säulensaal in die Welt des Reichtums ausgebrochen. Viele bewunderten sie darum, denn ohne Willenskraft und Zielbewußtsein kamen solche Erfolge nicht zustande. Andere wieder – Angelika und die übrigen Weiber der Gebhartgruppe allen voran – litten ihr gegenüber an Neid und Haß. Es war auch ein widerspruchsvoller Anblick, wenn an diesem Ort herabgekommener Männer und ungepflegter Frauen eine teuer gekleidete Person auftauchte, die das zarte Lila ihres Sommerkostüms in das graubraune Gewühle mischte. Von der doppelten Reihe ausgesucht schöner Perlen darf man gar nicht reden. Erst ein näherer Blick in Heddas brünettes Gesicht enthüllte gewisse Zeichen der Standeszugehörigkeit zum Café.

Ihre durchaus nicht unhübschen Züge zeigten manche Schärfen und manche Verschwommenheiten, wie sie durch den ewigen Umgang mit intellektuellen Fragen, durch den Genuß von dreißig Zigaretten täglich und andere Freiheiten wahlloser Art noch entstehn. Merkwürdig war es, daß der Reichtum, der von Heddas Person und Kleidung ausstrahlte, auf die jungen Männer an diesem Tisch verwirrend wirkte. Sie kannten zwar die Welt, der sie anzugehören schien, nur vom Blickpunkt der Bürgerverachtung her. Dennoch erzeugte schon dieser illegitime Abglanz des Geldes in den Revolutionären ringsum eine schmachtende Ehrfurcht. Sie ließen sich weniger gehen und führten sich vor ihr nicht so zweifelhaft auf wie vor den anderen Frauen dieses Ortes. Weiß, von dem es ja bekannt ist, daß ihm alles vermeintlich Höhere sogleich den Atem raubt, brach in ein knabenhaftes Kompliment aus. Ferdinand wurde wiederum mit dem üblichen Nachdruck vorgestellt. Er konnte sogleich eine kleine Prüfung ablegen. Hedda war keine Angelika. Sie besaß wirklich eine beträchtliche Bildung und Belesenheit, die sie mit männlichem Scharfsinn ins rechte Licht zu rücken wußte. Als echte Schülerin von Basil war sie auch dem Seltenen und Ausgefallenen ergeben. In diesen Tagen beschäftigte sie sich damit, bei Antiquaren herumzustöbern, um durch geschickte Käufe ihre Bibliothek auszubauen. Sie berichtete Basil, daß es ihr endlich gelungen sei, ein langgesuchtes Werk über die deutsche Mystik zu ergattern. Der Zufall wollte es, daß Ferdinand in diesem Gegenstand beschlagen war, da ihm Engländer seinerzeit einige Schriften von und über Böhme, Tauler und Suso geliehen hatte. Die Runde sah ihn hochachtungsvoll erstaunt an. Weiß triumphierte.

Hedda zeigte sich nicht nur als überlegene Intellektuelle, sondern auch als ein gütiges Mädchen aus der Fremde. Sie zog aus ihrem Täschchen echte ägyptische Zigaretten, Marke Gianaclis, hervor und verteilte sie unter die Herren. Da man in jenen Hungertagen froh war, nach zweistündigem Gedränge ein Paket getrockneten Buchenlaubes für die Pfeife zu erhandeln, wirkte diese Gabe als märchenhaftes Wunder. Basil lächelte wohlwollend wie ein Mann, der den Segen des Himmels ein wenig mitzulenken versteht. Hedda nannte ihn Basilius. Stechler prahlte mit der Erklärung des Verfahrens, das die Araber bei der Zigarettenverfertigung anwenden. Jemand spöttelte über seine Kenntnis des edlen Tabaks. Woher er sich denn so gut auskenne.

»Als Bub hab ich meinem Papa immer seine Gianaclis gestohlen«, erklärte stolz der arme Bursche, dem man noch die Rachitis einer elenden Kindheit ansah. Übrigens sagte er »Tschönagles«. Immer wieder dasselbe. Auch die aufrührerischste Gesinnung wollte eine »gute Herkunft« haben.

Hedda erzählte, warum sie heute ins Café gekommen sei:

»Papa mußte Knall und Fall verreisen. Das Auto steht draußen. Ich wollte dich zum Spazierenfahren abholen, Basilius. Der Prater ist jetzt herrlich.«

Das Wort »Papa« klang in ihrem Mund sehr auffällig. Ferdinand verstand nichts. Basil mit dem weiß durchscheinenden Haupt auf seiner langen Gestalt war nunmehr ganz und gar ein vornehmer Grande, der sich unter unbedeutendes Volk mischt. Große träge Bewegungen brachten zur Kenntnis, daß er es sich leisten dürfe, mehrere Leben zu führen.

Noch einmal kam die Rede auf die neue Zeitschrift. Hedda zückte ein kleines ledergebundenes Notizbuch und las die Ziffern vor, die sie mit der Druckerei, dem Buchbinder und der Vertriebsgesellschaft vereinbart hatte. Es zeigte sich, daß sie auch eine tüchtige Geschäftsfrau war. Was das Papier betrifft, hatte sie sich besondere Verdienste erworben. Alles war rationiert. Der Staat hielt auf jeden Ballen der gefährlichen Ware die Hand, denn die Zensur kam gegen die Fülle mehr oder minder offenen Hochverrats nicht mehr auf, der in allen Kronländern der Monarchie gedruckt wurde. Durch »Papas« mächtige Vermittlung war es gelungen, guten Papiers genug sicherzustellen, um darauf zehn Nummern des ›Aufruhrs in Gott‹ zu veröffentlichen.

Hedda erzählte, daß jüngst bei Papa ein berühmter Universitätsprofessor und katholischer Politiker zum Frühstück erschienen sei. Sie habe dieser Leuchte von den geplanten kommunistisch-religiösen Blättern erzählt. Der Professor sei nicht vom Sessel gefallen, sondern habe mit anerkennendem Wiegen des Kopfes gemeint: »Warum nicht? Sehr interessant! Ich glaub schon, daß in der Zeit alles möglich ist.«

Basil war von dieser Äußerung entzückt. Er sah sich schon von der Revolution und Reaktion gefördert. Ihm war es gar nicht darum zu tun, einer von beiden zum Siege zu verhelfen. Er besaß ja selbst keinen Boden, um ihn zu verteidigen. Ihm ging es um geistige Feinheit. Seit dreißig Jahren schon trieb er sich unter Anfängern umher. Die »neuen Generationen« erbten ihn weiter. Er hatte sich einen bekannten Namen erworben. Wenn man aber näher zusah, besaß dieser Name keine größere Macht und Bedeutung, als daß er immer wieder in den Registern der wechselnden Schlachtordnung auftauchte. Basil war am Ende des vorigen Jahrhunderts als junger Mensch Sozialist gewesen, dann, da die Mode wechselte, hatte er sich zu den Vorkämpfern des Kostbar-Verruchten und der freien Erotik geschlagen; jetzt endlich glaubte er den Punkt gefunden zu haben, auf dem er fortan würde stehn können. Auch andere Überlegungen noch mischten sich in dieses beruhigende Gefühl. Sein Leben war trotz aller Freizügigkeit nicht leicht. Eine Frau und drei Töchter, die in Köln lebten, hingen an ihm. Vielleicht konnte er sich nun soweit fixieren, um das ewige Elend und die bitteren Mahnbriefe seiner Gattin loszuwerden. Wer weiß, ob er mit dem ›Aufruhr in Gott‹ nicht einem tiefen Bedürfnis der Zeit entgegenkam und über einen kleinen Kennerkreis hinaus in die Massen wirken konnte. Geld war ja da. Er hatte Aschermann einige Dienste erwiesen. Die Mittel dieses Krösus waren so unerschöpflich, daß die Papier- und Druckkosten einer Zeitschrift gar nicht ins Gewicht fielen.

Er ließ zukunftsfreudig seine Fingergelenke knacken, während Hedda die Reihenfolge der Beiträge für die erste Nummer mit einem goldenen Stift in ihr Notizbuch eintrug. Ferdinands schriftstellerisches Debüt wurde trotz heftigen Widerspruchs für eines der nächsten Hefte festgesetzt.

Dann verschwand Basil mit seiner Dame, um in Aschermanns Auto eine Abendspazierfahrt im Praterumkreis zu genießen. Übrig blieb an diesem Tisch, außer Ferdinand und Weiß, die üble Laune von Ehrgeizigen, die nicht satt zu essen hatten und von der Sucht geplagt wurden, sich gegenseitig ihre Bedeutung, ihr Wissen und strahlendes Talent zu beweisen. Nirgends, nicht in der Kaserne und nicht im Schützengraben, gab es ein ähnlich unverbundenes Beisammenhocken. Welche Kraft zwang diese Einsamen, in einem unlüftbaren Lokal ihre Zeit miteinander zu verlieren? Auch auf Ferdinand griff diese Kraft über, der man, ohne zu übertreiben, das Beiwort dämonisch zuerkennen muß. Heute weiß der Schiffsarzt, daß die Monate, die er im Schattenreich zubrachte, kein Zufall waren und nicht außerhalb seiner Lebenslinie lagen. Er hatte bisher immer unter dem Zwang eines »Internats« gestanden, unter dem Zwang einer erbarmungslosen Gesetzlichkeit. Jetzt verfiel er dem Gegenteil. Aber siehe, auch dies war Zwang, der Zwang einer erbarmungslosen Ungesetzlichkeit.

Er hatte seinen Zug wegfahren lassen. Fern, vor den Scheiben des Schachzimmers, erlosch der Tag, und er dachte noch immer nicht daran, aufzustehn und den Narrentraum von sich abzuschütteln. Wie merkwürdig er schon verstrickt war, bewies die Unruhe Gebharts wegen, die ihn nicht losließ, solange er an Basils Tisch saß. Fast war es Angst, sein langes Fernbleiben und Verweilen könne Gebhart kränken. Die Furcht vor der Eifersucht einer Frau ist ein ähnliches Gefühl. Immer suchte er von ferne das begeistert-gütige Auge des verwitterten Raubvogels, als hätte er ihm eine Untreue abzubitten. Als Weiß sich erhob und zu einer fremden Gesellschaft trat, hätte Ferdinand wieder die Möglichkeit gehabt, unbemerkt sich zu retten. Die Versuchung war stark. Aber er blieb. Hätte er etwas Schönes und Wohltuendes erlebt, wäre er vielleicht gegangen. Er blieb, weil er sich unwohl und verwirrt fühlte. Man muß keine besonders verwickelten Anlagen haben, um das zu begreifen. Eurydice sieht den hellen Tag vor sich. Wenn sie sich aber umkehrt und die Trübnis der Unterwelt gewahrt, bleibt sie gebannt.

   

Mit einem Male stand alles auf und drängte zur Wand, wo der Kellner Fritz die neuesten Meldungen annagelte. Auch der deutsche Heeresbericht hatte schon die verzwickte und unaufrichtige Wortkargheit angenommen, die man hierzulande nur allzu gut kannte. Ein schadenfrohes Wohlbehagen spiegelte sich auf den Gesichtern. Jeder Tag brachte den Weltuntergang näher. Sie ersehnten die Katastrophe als den ihrer tiefsten Natur angemessenen Zustand. Gebhart lächelte verzückt. Weiß hielt einen Vortrag. Nur die Kartenspieler blieben gleichgültig sitzen.

In diesem Augenblick betrat Chefredakteur Koloman Spannweit den Säulensaal. Von ihm erfuhr man die wahren Neuigkeiten. Er verstand es, Niederlagen, diplomatische Geheimnisse, Friedensanträge, Meutereien und Streiks wie wirksame Schlager vorzubringen, noch ehe jemand dergleichen ahnte. Untrügliche Quellen mußte er besitzen, denn nach Wochen bestätigten sich die Dinge, die er verraten hatte. Im ›Sieben Uhr Boten‹, den er leitete, wurde natürlich nichts davon laut. Es war eine auffallend radikale Zeitung und versuchte durch stramme Auf- und Abdeckerei den ernsthaft-drohenden Ton des sozialistischen Parteiblattes zu übergellen. Nur wenigen fiel es auf, daß die Zensur diese Zeitung recht nachsichtig anfaßte. Manche werden sich noch daran erinnern, daß es der längst vermoderte ›Sieben Uhr Bote‹ war, der in den letzten Kriegszeiten all die mehr oder minder angesehenen Kaufleute ans Messer des Preistreibergesetzes lieferte, weil sie taten, was alle taten, und ihre Waren teurer verkauften als zum behördlich festgesetzten Preis. Alltäglich brachte das Blatt mindestens ein Schlachtopfer zur Strecke. Koloman Spannweits Spürsinn und Spionagesystem war unübertrefflich. Seine blutigen Feldzüge gegen Wucher und Bestechung hatten ihm die Glorie eines großen Revolutionärs eingetragen. Er zog über die »Sozialverräter« her, kannte sich genau in der russischen Revolution aus und behauptete, hier im Säulensaal manches Gespräch mit Trotzki geführt zu haben. Die beherrschende Stellung verdankte er seiner Eingeweihtheit, seinem gewaltigen Auftreten und der Zeitung, in der er hie und da gnädigerweise Gedichte oder Artikel abdruckte, die ihm ein hoffnungsvoller Schlucker des Säulensaals aufdrängte. Ansonsten besaß er die Züge eines düsteren Viehhändlers, verschärft durch eine rasch zusammengelesene Bildung.

Tische wurden aneinandergerückt. Eine große Gesellschaft hatte sich gebildet, um erregende Neuigkeiten zu erfahren. Schwindelnde Abrutsch-Wollust, das war eines der geheimen Grundgefühle dieser Wochen. Zwanzig Leute etwa drängten sich um die Tische. Gebhart, Angelika, Lisa saßen darunter, Weiß, Stechler und auch ein paar von Basils Leuten. Spannweits gewalttätige Stimme herrschte. Ferdinand aber war gar nicht mehr verwundert darüber, sich hier zu finden. (Es ist eine seiner Sonderlichkeiten, in jeder Lebenslage von dem Wahn befallen zu werden, ›dies sei schon ewig so gewesen‹. Er kommt in eine fremde Stadt, und am nächsten Morgen denkt er: ›Hier habe ich ja immer schon gelebt, hier und nirgends anders.‹)

Man hörte von gewaltigen Dingen: Ein deutscher »Friedensfühler« sei von Foch brüsk zurückgewiesen worden. Die radikalen Unabhängigen in Deutschland hätten unwiderruflich den Rechts-Sozialisten die Führung entwunden. Die Arbeiter der Wiener Munitionsfabrik Warchalowski seien seit Tagen schon bereit, in den Streik zu treten. Überreif wartete die Zeit, aber die Männer fehlten. Es gab nur Geschobene.

Während diese Eröffnungen und Aussichten eine wilde Debatte entfesselten, schoß auf Weiß geradeaus ein schwarzes Phantom los und rief:

»Herr Weiß! Sie werden mir einen Pfiff Wein bezahlen!«

Es war Gottfried Krasny, der Dichter, der seiner Gewohnheit nach ferne den Augenblick des Beutesprungs abgelauert hatte. Bei Krasnys Anblick empfand Ferdinand einen schneidenden Schmerz im Magen. Er selber ja hatte jahrelang gehungert. Diese Schreckgestalt aber schien vom Gotte des Hungers höchstpersönlich zur Erde herabgesandt zu sein. Eine niedrige Stirn, in die schwarze Zotteln herabhingen. Gierig kohlende Augen in nackten Schädellöchern. Lippen, die keine Kraft hatten, sich zu schließen und den Speichel zu halten. Das ganze Gesicht von einem sinnlosen, böse-süßen, gleichsam gesponnenen Lächeln überzogen. Krasny hielt die langen Hände abgeknickt vor der Brust in der Art, wie ein Kind im Mutterleibe die Hände vor der Brust hält. Nur machte er keine Faust, sondern spreizte die Finger. Zu alledem litt er noch an einem Sprachfehler, denn gaumig und langsam kollerten die Worte aus seinem Mund.

Weiß, der sich über den befehlshaberischen Überfall ärgerte, holte zu einer Szene aus:

»Was wollen Sie von mir, Krasny? Sie sind doch ein Kriegshetzer.«

Krasny reckte sich hoch, aber seine aufgefächerten Hände blieben regungslos hängen:

»Das ist nicht wahr! Ich bin kein Kriegshetzer. Ich hasse das Maschinengemetzel. Aber den freien männlichen Krieg, den liebe ich.«

Ronalds Blick maß gemächlich das Jammerskelett:

»Sie haben's gut!«

Krasny begann vor Zorn zu schielen.

»Ich habe es nicht gut, Herr Weiß! Wenn ich es so gut hätte wie Sie, wäre ich vielleicht auch ein Revolutionär.«

»Gerade Leuten wie Ihnen wird die Revolution auf die Beine helfen«, bemerkte jemand.

Krasny würgte an einem großen Schmerz:

»Wenn Deutschland besiegt wird, gehöre ich einem Bettlervolk an. Und ich will keinem Bettlervolk angehören.«

Dieses Bekenntnis aus Bettlermund erregte langes Gelächter. Spannweit hatte keine Sorgen: »Die deutsche Industrie hat am Krieg verdient, sie wird auch an der Niederlage verdienen.«

Weiß sah Krasny zärtlich an:

»Sie sind wirklich eine Zierde der Nation ...«

Krasny erwiderte haßverzerrt den Hohnblick und stieß in abgehackten Lauten hervor:

»Was wissen Sie von solchen Dingen? Die Juden verstehn nichts vom Krieg!«

»Wären unsere Generale Juden«, meinte Weiß, »hätten wir vielleicht den Krieg gewonnen.«

Unverschämt zog Spannweit eine Havannazigarre aus einer goldbeschlagenen Ledertasche:

»Ach was! Die Juden brauchen solche Subalternberufe nicht. Sie siegen, wo sie wollen, denn sie verstehn etwas vom Geld.«

»Die Juden verstehn auch nichts vom Geld«, stellte Krasny mit entschiedenen Kehllauten fest.

Allgemeine Verblüffung. Die schwere Zunge des Dichters kämpfte um einen heiklen Gedanken:

»Die Juden verstehn nichts vom Geld ... und lieben es nicht einmal ... Sie sammeln es bloß zu ihrem Schutz ... Lieben kann nur der Freie ...«

Über diesen Ausspruch war Gebhart begeistert. Auch andere stimmten zu. Daraufhin – als hätte er jetzt sein Eintrittsrecht erworben – nahm Krasny Platz und sagte feierlich zum Kellner:

»Fritz, bringen Sie mir einen Pfiff Rotwein! Der Herr Weiß bezahlt.«

Fritz gab die Bestellung an einen seiner Untergebenen weiter. Mit zuwartendem Lächeln blieb er am Tisch stehn, als wisse er zu gut, daß die Sache mit einem Achtel Rotwein ihr Bewenden nicht haben könne. Krasny war neben Ferdinand zu sitzen gekommen, der sich ihm vorgestellt hatte. Die feuchte Fieberhand des Dichters lag eine Sekunde lang in der seinen. Krasny kümmerte sich aber nicht um den Nachbarn. Seine brennenden Augen schätzten ungeduldig die Gesellschaft ab. Dann wandte er sich mit dem schweren Pathos seiner stolpernden Stimme, die zu dem hilfsbedürftigen Lächeln nicht paßte, an einen unsichtbaren Wohltäter:

»Heute gibt es Frankfurter mit Saft.«

Dieser Satz klang wie ein getragener Sang. Niemand nahm ihn auf. Da umwölkte sich Krasnys Tonfall und wurde zaghafter:

»Es gibt auch norwegische Sardinen ... Aber Würsteln mit Saft sind besser und nahrhafter.«

»Fritz, drei Portionen!« schrie Spannweit, als nehme er eine Wette an, und lachte krachend. Der alte Ober entfernte sich befriedigt, um den Auftrag selber auszuführen. Sein schlaffer Kellnerschritt schien eiliger zu sein als sonst.

Als dann aber die Schüssel kam, benahm sich Krasny ohne alle Gier und mit stiller Manierlichkeit. Er breitete die Papierserviette über seine Knie und aß langsam, weltverloren die drei Würstelpaare auf, wobei er niemanden eines Wortes oder Blickes würdigte. Spannweit hußte den Essenden mit Zurufen auf, als gebe sich Krasny nicht einer natürlichen, sondern einer sportlichen Betätigung hin. Dieser aber schmeckte träumerisch jeden Schluck des Weines nach, unbekümmert um Hallo, Witze und Spottbemerkungen. Während des Mahles schien er von beglückenden Vorstellungen umgaukelt zu sein. Als er fertig war, taktierte er mit dem Finger auf der Marmorplatte. Mit einem unvermittelten Lächeln wandte er sich an Ferdinand: »Und ein Edelknab' jung und keck ...«

In seinen Augen lag eine Aufforderung, diesen Satz so schön zu finden wie er. Gott weiß, warum dies in ihm ertönte, da er nun satt an Leib und Seele war; Gott weiß, warum er seinen Nachbarn an dem Schillerschen Verse teilnehmen ließ. Immer wieder deklamierte er:

»Und ein Edelknab' jung und keck ...«

Ferdinand aber hörte kaum mehr etwas. Die Brandung eines wachsenden Schwindelgefühls umpeitschte seine Ohren. Was war das nur? Er hatte ja nichts erlebt als eine Fülle gespenstischer Gesichter und ein Trommelfeuer von Worten. Dies aber verwirrte ihn mehr als das wirkliche Trommelfeuer, während dessen er ein schönes Buch hatte lesen können. Er sah und verstand nichts mehr. Wie ein seltsam körperliches Gestöber deckte ihn das Geschwätz und Geschrei ringsum zu. Was war das nur? Warum konnte er nicht aufspringen und davonlaufen? Als er wieder die Augen öffnete, sah er Gebharts schwankendes Gesicht, das ihn durchdringend betrachtete. Auch Angelika starrte ihn aus eigentümlich gebrochenen Augen an. Wie von einem weitentfernten Ufer kreischte die Stimme des ›genialen Dienstmädchens‹ zu ihm herüber:

»Was sagt man? Psyche kommt ins Café!«

Erschrocken wandte sie sich an ihren Nachbarn:

»... oder heißt es Amor?«

Doktor Gebhart stand auf und begab sich mit seinem schwingenden Schritt zu Ferdinand:

»Sie sehen sehr blaß aus. Kommen Sie! Gehen wir anderswohin, wo man besser miteinander reden kann.«

Es gelang den beiden jedoch nicht, allein zu bleiben. Ehe sie bei der Tür waren, schlossen sich ihnen Weiß und ein paar andere noch an.


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