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Achtes Kapitel.
Schleier über der Landschaft

Während des Heimweges hatte sich die Welt für Ferdinand auf unbegreifliche Art verwandelt. Das Weite und Freie der Bilder war erloschen. Wohl hing der Spätnachmittag goldgründig im Netz einer Erle, aber das flügelmatte Licht setzte sich nicht durch gegen unsichtbare Widersacher. Der Grasboden sah plötzlich wie verrostet aus, und Ferdinand gewahrte, was er bei seinem Auszug übersehen hatte, daß die Erde übersät war mit alten Konservenbüchsen, ausgeschossenen Patronenmagazinen und menschlichen Abfällen. Überall erhoben sich ins abendliche Leuchten hinein Stangen, die Drähte trugen, überall lagen Balken und Traversen aufgestapelt, überall liefen die Kabel der Leitungen am Boden hin. Ringsum waren vorbereitete Stellungen ausgehoben, ringsum warteten zusammengerollter Stacheldraht, Hindernisse, spanische Reiter auf Verwendung. Ein bitterer Ekel, eine wachsende Übelkeit im Magen bemächtigte sich Ferdinands, er wußte nicht warum. Er schob diesen Zustand auf eine kleine abscheuliche Tierszene, der er begegnet war. Zwei Enten hatten sich um das Aas einer Maus gebalgt. Wie das träge watschelnde Geflügel, in wilde Raubvogelnatur verwandelt, den Kadaver zwischen den Schnäbeln zerrte, bis er mitten durchriß, das war ein brechreizerregender Anblick gewesen.

Als er die Stelle erreichte, wo der Einschnitt des Baches ins Tal tritt, hörte er ein paar sonderbar dumpfe Schläge, von denen er gleich wußte, daß sie ihn angingen. Um diese Stunde pflegten die Russen auf die Bataillonsstellungen, die Batteriemasken und das hinter ihnen liegende Dorf ein paar Dutzend Granaten zu senden. Schon arbeitete sich das Eisen keuchend durch die Luft, die Sekunde in viele Zeiteinheiten zerteilend, die sich unnatürlich lange dehnten. Wie ein Schwimmer einen Balken anstrebt, suchte Ferdinand den Schutz einer Platane. Einer der vorüberschlendernden Soldaten sah das und lachte:

»Das ist keine Deckung, Herr Korporal. Wenn's da hineinschlägt, kriegen S' auch noch die Äste auf den Schädel.«

Die Geschosse fielen weitab auf den Nachbarhügel. Zum erstenmal sah Ferdinand die kurzaufspringenden Vulkanausbrüche des Granateneinschlags. Dann aber nahm das spiralige Keuchen in der Luft einen strengeren Ton an. Noch stärker pochte die Empfindung jetzt, das Teufelsheulen suche niemand andern als ihn, Ferdinand, persönlich. Er verbeugte sich tief vor dem Nahenden. Aber auch die alten Soldaten, die hier herumstanden und den Krieg schon von Beginn an kannten, auch diese hartgesottenen Burschen, denen solche Kleinigkeiten nicht einmal mehr Verachtung abnötigten, nahmen die Pfeifen aus dem Mund, zogen den Kopf ein und machten einen devoten Katzenbuckel. Die Granaten krepierten in einem Umkreis von zweihundert Schritten, ohne Schaden anzurichten. Ferdinand lernte das Wispern und Pfeifen der Sprengstücke kennen. Er meinte, der Hagel singe dicht an seinen Ohren vorbei. Einer von den müßigen Soldaten, der sich mit wütendem Ziehen bemühte, seiner Pfeife wieder Leben zu geben, spuckte aus:

»Sakra, da kannst du tun, was du willst, aber den verdammten Himmelhuren muß man immer ein Kompliment machen, den dreckigen ...«

Als alles vorüber war, stellte sich Ferdinand die Frage, ob es Angst gewesen sei, was ihn festgebannt hatte. Er fand aber, daß ein Wort wie Angst den Zustand, in dem er noch immer vorwärts taumelte, nicht erschöpfe. Um seinen Kopf war ein klammernder Eisenring geschraubt, und spitze Stifte bohrten sich in die Schläfen. Die Knie hatten keine Kraft und die Füße gingen unsicher wie auf Federmatratzen. Er betrat den Unterstand nicht eher, als sich diese Schwächeerscheinungen verflüchtigt hatten. Gerne hätte er von der überstandenen Gefahr gesprochen; aber er bemühte sich sofort, die Gleichgültigkeit der anderen nachzuahmen, die hier ihr Tagewerk verrichteten. Der beurlaubte Einjährige übergab ihm den Dienst und machte sich bei einbrechender Dunkelheit auf, um in einer der Ortschaften näher an der Bahn zu nächtigen. Nun sah Ferdinand aus einer engen Luke auf das traurige Feld: Konservenbüchsen, Stangen, Traversen, Senkgruben. Dennoch erkannte er, daß sein Posten, der nicht im vordersten Graben lag, eine Gnade Gottes und Hauptmann Prechtls war. Da krähte der Apparat auf dem Tischchen und verfiel in ein langes Surren, wie ein Insekt, das sich mit rasenden Flügelschlägen gegen einen Feind wehrt. Irgendeine Meldung, die dem Regimentskommando weitergegeben werden mußte: »Feindliche Batterie auf Kote 208 bringt ein neues Geschütz in Stellung.« »Russischer Munitionstransport auf eingesehener Straße im Kartenraum IV-6.« »Fesselballon über feindlicher Reservestellung Zatowka.« Oder auch nur: »Feldwebel Kudly von der dritten Kompagnie wegen Dysenterie ans Divisionsfeldspital abgegeben.« Zu jeder Stunde, Tag und Nacht, ob Ferdinand schlief oder wachte, das eifersüchtig summende Tier holte ihn heran.

Die nächsten Wochen vergingen, ohne daß an diesem Frontabschnitt schwerwiegende Ereignisse eingetreten wären. Ferdinand hatte sich sehr rasch eingewöhnt und fühlte sich wohl. Hie und da kam Weiß, oder er besuchte ihn in der nahen Stellung. Der unruhige Geist war mit seiner Einteilung bei der Geschützbedeckung nicht sehr zufrieden. Der Mut stach ihn. Er dachte daran, sich bei der nächsten Gelegenheit zu einer Sturmkolonne zu melden. Weiß bekam sehr viel Bücher ins Feld geschickt, die er dem Freunde lieh. Ferdinand schwelgte in der buntesten Lektüre. Eines Tages erhielt er einen langen, und angesichts der Zensur, gefährlich offenherzigen Brief von Engländer.

»Ich stehe«, schrieb Alfred, »vor dem schwersten Tag meines Lebens. Morgen muß ich zur Nachmusterung, und es ist so gut wie keine Hoffnung vorhanden, daß ich diesmal freikomme. Seit Wochen zwar malträtiere ich mein Herz mit Meeren von schwarzem Kaffee und mit den giftigsten Virginiers, die ich kettenrauche, aber das wird mir alles nichts helfen. Ich weiß genau, daß es tierisch egoistisch ist, wenn ich Dir, der in täglicher Lebensgefahr schwebt, so schreibe. Aber ich muß mich aussprechen, und Du bist der einzige Mensch, zu dem ich reden kann. De profundis clamo. Ich leide an einer maßlosen, wahnsinnigen, unausdenkbaren Todesangst, an einer niedrigen, schmählichen, schmutzigen Angst vor dem Tode. Seitdem dieser verfluchte Krieg in die Jahre kommt, denke ich an nichts anderes als an Tod, an meinen privaten Tod natürlich. Ich höre Deine ironische Stimme, mein lieber Ferdl: ›Und Deine Gläubigkeit? Hat nicht Christus, wie Du so gerne behauptest, die Welt erlöst?‹ Ach, lieber Freund, ich habe nicht aufgehört zu glauben. Mein Geist und meine Seele glauben, daß mir nichts geschehen kann, daß ich auferstehen werde. Aber mein Körper und seine Nerven glauben es nicht. Sie senden Verfinsterung aus und tauchen Geist und Seele in eine pathologische Phantasiehöhle. Über meinen Körper und Körpergeist hab ich keine Macht. Er hat Christus noch nicht in sich aufgenommen. Ich bin ein Jude und habe von meinen Vorfahren einen jüdischen Körper übernommen. Es ist ein Körper, an dem Ihr Christen eine jahrtausendalte teuflische Blutschuld habt. Ihr habt ihn gestoßen, bespien, getreten, gefoltert, mit glühenden Zangen gezwackt, ans Rad geflochten, in siedendem Öl gesotten, auf offenem Scheiterhaufen verbrannt. Es gibt keinen Menschenkörper auf der ganzen Welt, der so viel gräßliche Todeserfahrung, Todeserinnerung hätte wie der meine. Und der Krieg hat all diese Erinnerung aufgeweckt. Oh, Ihr Verfluchten! Oh, Ihr Mörder. Ihr habt meinen armen Körper so mißhandelt und entmenscht, daß er Christus nicht in sich aufnehmen kann, ihn, den mein Geist millionenmal heller erkennt als Ihr ...«

Als Ferdinand zu dieser Stelle des Briefes gekommen war, wurde er zu Hauptmann Prechtl gerufen. Das Kämmerchen des Kommandanten, aus rohen Baumstämmen gefügt, auf denen das Harz noch immer honigartige Tropfen bildete, diente als Schlafraum und Kanzlei. Prechtl hatte eine ganze Menge von Photographien rings aufgestellt, wodurch das Loch einen wohnlichen und dauerhaften Eindruck machte. An der Wand hing sogar eine Reproduktion von Böcklins Triton. (Solche Drucke kennzeichneten die Kunstbeflissenheit und Bildung des besseren Aktiven.) Jetzt nahm er vorsichtig die Photographien von Tisch und Kisten und hob den Triton vom Nagel. Er übergab seinem Burschen den ganzen Bilderschatz, der ihn sorgfältig im Koffer verstaute:

»Das bleibt beim Regimentsstab«, befahl er, ehe er sich an Ferdinand wandte: »Also passen Sie gut auf.« – Er wartete, bis sich der Diener entfernt hatte. – »Morgen findet eine sehr große eigene Unternehmung statt. Was ich Ihnen jetzt sage, ist natürlich streng vertraulich. Auch in unserm Raum ist ein Durchbruch geplant. Bis auf weiteres der Mannschaft gegenüber kein Wort! Nehmen Sie Papier und Bleistift zur Hand! Um vier Uhr fünfunddreißig Minuten vormittags – haben Sie es – bekommen Sie vom Regiment die Meldung: Offener Befehl für Oberleutnant Dubsky liegt in der Brigadekanzlei bereit! – Haben Sie das? – Dieses Deckwort werden Sie unverzüglich an alle Kompagniekommandanten in den Gräben persönlich weitergeben! Verstehen Sie mich? Ebenso werden Sie die drei Batterien neben uns verständigen! Um vier Uhr fünfzig Minuten muß die Meldung überallhin durchgegeben sein, und dann erst werden Sie mich anrufen. Ich halte mich im ersten Graben der elften Kompagnie auf. Ist Ihnen etwas unklar? Nein! Wiederholen Sie den Befehl! Gut, danke! Sämtliche Leitungen werden heute noch abgegangen. Um sechs Uhr abends machen Sie mir Meldung, daß alles in Ordnung ist. Verstanden? Halten Sie sich marschbereit. Servus! ... Herstellt! Noch etwas. Rufen Sie sofort den Herrn Hauptmann Rechnungsführer in der Proviantur an und erinnern Sie ihn, daß wir unbedingt das angeforderte Faß Rum noch heute abend hier haben müssen. So, das wäre alles! Sie lassen sich um sieben Uhr ablösen, damit Sie ausgeschlafen sind. No, und weil wir schon von Rum gesprochen haben, da, nehmen S' ein Stamperl Kognak. Trinken wir auf unser beiderseitiges Wohl! Denn wer weiß ...«

Der Hauptmann steckte die einzige Photographie, die noch übriggeblieben war, in seine Brieftasche.

Ferdinand schlief in dieser Nacht besonders ruhig und fest. Ein sonderbar lärmender Feuerschein weckte ihn noch vor der festgesetzten Stunde. Er trat ins Freie. Vor dem Blockhaus lagen etwa hundertfünfzig Mann um zwei Feuer. Zwischen den beiden Gruppen war ein Rumfaß aufgestellt, und die Leute füllten damit ihre Eßschalen an, ohne daß sie jemand beaufsichtigte. »Sturmtrupp«, sagte der Unteroffizier, der den Nachtdienst gehalten hatte.

Die Horde, die ums Feuer lagerte, glich keiner modernen Soldatenabteilung, sondern einem Haufen mittelalterlicher Strauchritter und Wegelagerer auf dem Theater. Das kam daher, weil diese Mannschaften die damals noch ungewohnten Stahlhelme trugen und mit Handgranaten bewaffnet waren. Dennoch, darüber konnte kein Zweifel herrschen: Dies waren Gewalttäter und Verbrecher, Abschaum und Bodensatz der Kompagnien. Bei Zusammenstellung der Sturmtrupps nahm man die Gelegenheit wahr, gefährliche Elemente loszuwerden. Doch meldeten sich auch Freiwillige genug, Furchtlose, die nach einer Auszeichnung gierten, Wüteriche, denen der Sinn stets nach Rauferei stand, Spielernaturen, welche die Möglichkeit einer glücklichen Verwundung, einen sogenannten Tausendguldenschuß, jeder langwierigen Kriegsdienstleistung vorzogen. Die Leute brüllten und lachten wüst durcheinander, als hätten sie es darauf abgesehen, alle Schläfer zu stören. Einige waren schon betrunken. Hauptmann Prechtl trat aus der Tür. Anscheinend war er nervös, denn er zeigte sich zu dieser frühen Stunde bereits völlig gerüstet. Sogar Trieder und Kartentasche hingen ihm schon am Überschwung. Die Horde nahm von der Gegenwart des Kommandanten nicht im geringsten Kenntnis. Verächtliche Augen maßen ihn, die den Blick nicht niederschlugen. Als ein Junger aufspringen und die Ehrenbezeigung leisten wollte, rissen ihn viele zornige Arme nieder. Ein Sturmtrupp fühlte sich außerhalb jeder Ordnung und Pflicht. Er bestand aus lauter Ausnahmemenschen, für die kein Gesetz galt. Die Herren Offiziere sollten schön kuschen und froh sein, wenn man draußen im Feuer nicht mit ihnen abrechnete. Prechtl wurde der herausfordernden Nichtachtung gegenüber verlegen: »Weitermachen«, sagte er, obgleich niemand auch nur für einen Augenblick das Gelage unterbrochen hatte. Er sprach diesen Befehl nur aus, um die aufreizende Grußverweigerung der Zecher damit ins Recht zu setzen. Wenn das Wort »Weitermachen« erklang, war jedermann der Pflicht enthoben, sich um einen anwesenden Vorgesetzten zu kümmern. Das feine und verzwickte militärische Empfinden hatte durch solche Vorwegnahme die verletzte Dienstordnung tunlichst hergestellt, worauf sich Hauptmann Prechtl wieder in den Unterstand begab.

Ferdinand unterschied viele Sprachen in dem johlenden Gewirre. Ungarn und Tiroler, Tschechen und Bosniaken tranken sich aus dem ansehnlichen Faß Mut an. Der Übermensch und Held dieses Sturmtrupps schien ein Feldwebel zu sein, auf dessen Bluse eine vollzählige Sammlung aller Auszeichnungen klimperte. Es war ein hellblonder Kerl mit einem schimmernden Wolfsgebiß, das ein langausgezogener Schnurrbart nicht zudeckte. Die Augen eines Bauernfängers und das Kinn eines Raubmörders vervollständigten das Bild einer kraftvoll bösen Bestialität, wie sie Ferdinand noch niemals begegnet war. Dieser Feldwebel sprach ein aufgeblasenes und kauderwelches Deutsch voll von Flüchen und Schweinereien, die aus allen Völkerwinkeln der Monarchie wie Mist zusammengekehrt waren:

»Wer besoffen ist, dem g'schieht nichts«, prahlte er, indem er die Horde mit dem Wort »chlapy« ansprach, was soviel bedeutet wie: Burschen. »Aber richtig besoffen muß er sein, sag ich. Psia krew Cholera! Ich kenn mich aus. Zum sechstenmal bin ich heut freiwillig gemeldet. Mir ist nie was geschehn, nicht ein Ritzer, sag ich. Wer richtig besoffen ist, den kann das Ganze kreuzweis, sag ich. Die Sache hängt vom Rum ab. Bei Rawa Ruska hat man uns einen Extra gegeben. Bei Limanowa aber haben uns die Schweine vom Proviant Wasser hineingeschüttet. Der Rum hat euch geschmeckt wie saurer Katzenurin. Bassena teremtete! No, sag ich, wir sind auch gelaufen bei Limanowa wegen dem stinketen Rum. Zatracena podvrh! Ein guter Rum macht euch nicht blöd, sondern gescheit, sag ich. Ihr klettert aus dem Graben und freut euch nur auf den Spaziergang ...«

Um drei Uhr war das Faß bis auf den letzten Tropfen leergezecht. Hauptmann Prechtl ließ den Feldwebel zu sich rufen. Er hieß Matouschek. Ferdinand stand vor dem Eingang. Der riesenhafte Lackel schritt auf ihn zu, als wäre er Luft. Obgleich Ferdinand auswich, erhielt er von Matouschek einen brutalen Rempler, daß er zur Seite flog. Das ist ein Teufel der Roheit, dachte er. Der Spektakel der Betrunkenen an den Feuern steigerte sich. Als sie aber eine halbe Stunde später vorwärts in die Gräben torkelten, herrschte mit einem Male Totenstille in ihren Reihen.

Zur befohlenen Zeit erhielt Ferdinand von der Regimentsstation den Anruf: »Der offene Befehl für Oberleutnant Dubsky liegt in der Brigadekanzlei.« Der Telephonist, der sonst immer zu Späßen aufgelegt war, fragte: »Wer hat aufgenommen? Korporal R.? Also wiederhol mir's!« Und Ferdinand wiederholte mit gleich ahnungsschwerem Ton wie jener die unauffälligen Worte. Vor ihm stand eine Weckeruhr. Der Gang des Zeigers verlangsamte sich, die Zeit nahm einen feierlich zögernden Schritt an. Im Laufe von zehn Minuten sprach Ferdinand diesen Satz mit düster festlichem Ton noch etwa neunmal in die Muschel und hörte neunmal die Wiederholung. Wenn er nach dem Brauch das Gespräch immer mit den Worten »Ich schließe« beendete, überkam ihn das Gefühl, seine Stimme allein habe das Schicksal wieder um einen Ruck vorwärts getrieben. Um fünf Uhr fünfzig Minuten rief er die elfte Kompagnie an und machte dem Hauptmann die Meldung: »Der Befehl ist durchgegeben.« Dann geschah lange Zeit nichts anderes, als daß die Dämmerung leichter wurde und eine vernebelte Sonne aufging.

Ferdinand war über seinem Fernsprecher eingeschlafen, als ihn ein Erdbeben weckte. In der gleichen Sekunde begannen tausend Geschütze auf österreichischer Seite ihr Vernichtungswerk: Feldkanonen, Feldhaubitzen, schwere Haubitzen, großkalibrige Mörser, Minenwerfer und Grabenartillerie. Er trat aus dem Unterstand in dieses urweltlich-sintflutliche Heulen hinaus, das über seinen Kopf hinwegtobte. Die Landschaft zeigte ein ungeheures Erstaunen. Nie wieder konnte man eine verstummtere Natur erleben als in diesen brüllenden Sonnenfinsternis-Augenblicken. Doch keine Zeit blieb ihm zur Betrachtung. Das Tier auf seinem Tische wimmerte. Meldung um Meldung verlangte Weitergabe. Ein wilder Arbeitsrausch erfaßte ihn, so daß er eine unangenehme Leere empfand, wenn der Apparat ein paar Minuten lang schwieg. Überstürzten sich aber die Meldungen, fühlte er sich selber gekräftigt, beflügelt und als ein wesentliches Glied dieses Automaten »Krieg«, den er nicht begriff. Als er mit brennendem Kopf auftaumelte, stand die Sonne hoch. Die Anrufe wurden immer seltener. Ein Teil der Leitungen schien zerstört zu sein. Jetzt erst ging die Artillerievorbereitung ihrem Ende entgegen. Immer müder und seltener bellten die Abschüsse. Doch indem das große Schlagzeug zurücktrat, erhoben sich andere gebieterische Stimmen aus der Partitur der Schlacht: Die scharfen, langhin schnarrenden Trommelwirbel der Maschinengewehre und das spitze weibische Keifen des Kleinfeuers. Man hatte zugleich mit dem Mittagessen eine ganze Ladung von Rumfässern in die Gräben befördert. Die Stunde war wohl gekommen, die Trunkenheit der Sturmtruppen auf die Höhe zu treiben. Zugleich aber fuhren unterhalb der Kammlinie fremde Maschinengewehre auf. »Die gelten uns«, lachte der Kanzleifeldwebel auf, »und nicht den Russen.« Ferdinand verstand nicht. Man belehrte den Neuling, daß im Falle eines fluchtartigen Rückzuges die Mitrailleusen die Aufgabe hätten, die eigenen Truppen wieder in die Gräben zurückzujagen. Ehe Ferdinand mit der Furchtbarkeit dieser Vorstellung fertig werden konnte, setzte der Gegenangriff der Russen ein. Der Feldwebel forderte alle auf, sich in einen eigens für solche Gefahren betonierten Keller zurückzuziehen. Ferdinand als Stationstelephonist behauptete, er müsse bei seinem Apparat bleiben. Obgleich der Feldwebel höhnisch bemerkte, »Auf Sie und Ihren Apparat wartet man jetzt«, blieb der Kriegsanfänger in seiner Zelle. Während die russischen Geschosse im Umkreis des Unterstandes dutzendweise niedergingen und das Dach fast vollständig wegrissen, während sogar ein paar Splitter die Wände durchschlugen und ein faustgroßes Eisenstück auf der Pritsche liegen blieb, saß Ferdinand ruhig an seinem Tisch. Er wußte ganz genau, daß er jetzt weder mutig noch kaltblütig sei. Mit einem sonderbar kühlen Behagen suchte er auf den Grund seiner Haltung zu kommen. Zum großen Teil war's eine Art betäubter Faulheit, wie die eines Morgenschläfers, der sich gegen jede Veränderung wehrt. Andererseits bestand auch die leise Absicht, die Insassen des Betonkellers in Erstaunen zu versetzen. Letzteres aber war auch bei strengster Gewissenserforschung der schwächere Antrieb. Die sonderbare Faulheit, der betäubte Gleichmut war der tiefere Grund. Und überdies ein Buch noch, das ihm Weiß geliehen hatte und das er jetzt während des Trommelfeuers gierig las: Knut Hamsuns ›Mysterien‹. Um ihn donnerte und blitzte die phantastisch-tödliche Wirklichkeit. Ferdinand aber kehrte ihr den Rücken und trat in ein anderes Reich. Der Krieg brüllte, und er vergoß Tränen über den kleinen Minutte und über das Liebesschicksal einer weißhaarigen Frau.

Noch vor sechs Uhr war alles zu Ende. Nur mehr das Kleingeknatter tackte. Der Tag war ergebnislos verlaufen. Weder der österreichische Durchbruchsversuch noch der russische Gegenangriff hatten nennenswerte Erfolge gezeitigt. Die Kriegskarte blieb im großen und ganzen die alte. Ferdinand wurde abgelöst und ging den Hügel zu den Stellungen empor. Hier begegnete ihm das tiefe Erlebnis dieses Tages.

Es herrschte eine bedeckte, unsichtige Vorabendstunde. Ein leichter Nebel, der zum Frühling nicht passen wollte, schleierte von Osten heran. In diesem unbegründeten Nebel, der weder aus der Erde stieg noch vom Himmel fiel, bewegten sich tausend stolpernde Gestalten langsam weiter. Als Ferdinand die Höhe erreicht hatte, sah er, daß die Erde übersät war von dieser regellos zurückstolpernden Menge schwankender Menschen. Dazwischen krochen viele Wagen, zumal jene, deren Plachen mit dem roten Kreuze gezeichnet waren. Die ganze Bewegung bot den Anblick einer zwar ungeordneten und langsamen, aber rhythmisch-tanzmäßigen Einheit. Jeder Leichtverwundete, der sich durch den Nebel arbeitete, ging für sich wie ein Träumer, und doch gerade die Einsamkeit dieser tausend einzeln Dahinwankenden schuf den erschütternden Zusammenhang des ganzen Bildes. Die Flut, von der ein sumpfig-ekelhafter Geruch ausging, strich an Ferdinand vorbei. Die Gesichter und Hände waren schwarz. (Das romantische Wort »pulvergeschwärzt« bewahrheitete sich.) Die schlammbesudelten Monturen glichen nicht mehr Kleidungsstücken. Große Blutflecke zeichneten sich ab. Von den Notverbänden stiegen Wolken von Jodoformgestank auf. All diese Verwundeten, die noch gehen konnten, zeigten den gleichen Ausdruck in den Augen. Es waren bewegungslose Blicke seherischen Schwachsinns. Da und dort aber zeigte sich die Grimasse einer aberwitzigen Schadenfreude, eines verrückten Hohnes, der zu sagen schien: »Das gönne ich dem lieben Gott.«

Ferdinand strebte weiter in den Nebel und die übelriechende Körperüberschwemmung hinein. Die wenigen Schritte, die er vom Unterstand bis hierher zurückgelegt hatte, schienen ihm ein endloser Weg. Auch er schwankte unter der unbegreiflichen Schlaftrunkenheit, die über dieser zerschlagenen Menge lag. Einige Schritte seitab war ein Hilfsplatz durch ein paar Fahnen kenntlich gemacht. Die Ärzte hatten eben eine Ladung Verwundeter abgefertigt und warteten auf neue. Tragbahren standen umher, auf denen die schwersten und hoffnungslosesten Fälle lagen, die man einem holprigen Transport nicht aussetzen wollte oder in Ruhe sterben ließ. Als Ferdinand an eine dieser Bahren trat, erkannte er Matouschek, jenen großmauligen rohen Feldwebel des Sturmtrupps, der behauptet hatte, daß niemandem, der »richtig besoffen« sei, etwas geschehen könne. Der aufgeblasene Gewalttäter, den Ferdinand heute früh für einen Teufel der Roheit gehalten hatte, lag gelb und wortlos da. Als der Sterbende des Einjährigen gewahr wurde, erkannte er ihn und grüßte – warum nur – mit einem liebreizenden Lächeln. Der bestialische Kerl, vor wenigen Stunden noch ein hassenswertes Mördergesicht, jetzt lächelte er so zart, daß dieses mädchenhafte Wort »liebreizend« keine Übertreibung ist. Als Seelenerwecker zeigte sich der Tod. Er holte aus diesem Gesicht eine Kindheit hervor, die es nie besessen hatte. Nicht er selbst, nur das ungehemmte Leben in diesem Menschen war gewalttätig und böse gewesen. Nun lag, schnell atmend, ein verklärtes Schmerzenswesen da. »Armer Kerl«, sagte ein Sanitätsgefreiter zu Ferdinand, »Sprengstück in Bauch und Geschlechtsteile! Wir haben ihn gar nicht mehr verbunden ...« Ein kurzes Schluchzen würgte in Ferdinands Kehle empor. Er kehrte sich schnell von dem Sterbenden weg. Da rief ihn eine Stimme an, fast aufjauchzend. Er kannte diese Stimme. Weiß! Aus einem Trainwagen drang die Stimme. Ferdinand war mit einem Sprung dort. Der Wagen hielt. Ronald Weiß, der drinnen auf Stroh gebettet lag, versuchte sich lachend aufzustützen. Sein Kopf war verbunden, der rechte Arm, das rechte Bein eingefascht. Sein Gesicht mit den Spitzbubenzügen wirkte ganz klein. Trotz seines Zustands aber befand er sich in einer unbändig lustigen Erregung. Siegestrunken brannten die Augen, als hätte er jetzt die Bestätigung gefunden, nach der er sein Leben lang gedürstet hatte. Triumphierend schrie er Ferdinand an:

»Sechs Wunden! Was sagst du? Sechsfach verwundet! Großartig, was, wie? Fühle mich brillant.«

Ferdinand sah ihn entsetzt an. Ronalds Augen fieberten immer trunkener:

»Ein Schwindel, sag ich dir! Den ganzen Tag lang waren wir im Graben von der Neunten, und keinem von uns ist was geschehn. Dann, wie gar nichts mehr los war, bin ich im Laufgraben zurück zur Batterie. Dort haben wir dann im Unterstand vom Oberleutnant Tarock gespielt. Also, ich bekomm dir ein fabelhaftes Blatt in die Hand. Ein todsicherer Pagat Ultimo. Ich sag ihn an. Der Oberleutnant gibt Kontra. Krach, bum! Die andern sind alle tot. Ich hab meine Karten noch in der Hand gehalten, als sie mich herausgezogen haben. Die geb ich nimmer her. Fabelhaftes Glück, was, wie?«

Ferdinand beugte sich über den Verwundeten:

»Hast du Schmerzen?«

»Die Rückenwunde ist unangenehm beim Fahren, und der Streifschuß am Kopf fängt an zu jucken. Aber das ist ja ganz Wurscht. Ich komm gar nicht dazu, Schmerzen zu haben, so brillant fühl ich mich. Wenn ich daran denk, daß ich vielleicht schon in vier Tagen zu Hause bin, Herrgott.«

Glückstränen standen in seinen Augen, als der Wagen anzog. Ferdinand lief ein Stück mit. Während der holprigen Fahrt begann Weiß zu stöhnen: »Jetzt tut es weh! Gleich denk ich mir, das alles sind keine spitalsbedürftigen Wunden. Eine schwere Wunde darf doch nicht weh tun, wie? Oje, oje! Sie werden mich acht Tage lang bei der Division in der Sanitätsanstalt behalten und dann wieder hinausschicken. Oje, oje!« Am Dorfeingang fielen die Pferde in Trab. Die Freunde hatten keine Zeit mehr, Abschied zu nehmen. Langsam kehrte Ferdinand zum Unterstand des Bataillonskommandos zurück. Nie hatte er sich verlassener gefühlt als in dieser Stunde. Er beneidete Weiß um seine Verwundung, die ihn zu einem Helden erhob. Vor sich selber aber schämte er sich, weil er heil geblieben war.


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