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Elftes Kapitel.
Das bucklichte Männchen

In den nächsten Tagen kam Ferdinand kaum aus den Kleidern. Er stürzte sich in die neue Arbeit, um das nagende Unbehagen loszuwerden, das ihm zuflüsterte: All dies ist ziellos, phrasenhaft, zufällig, unwahr. Vielleicht aber war das in der Welt stets so gewesen, und keine Zeit hatte, wenn man sie bewußt miterlebte, mehr Plan und Sinn bewiesen. Von unten und von außen gesehen, machten politische Vorgänge wohl den Eindruck von reiflicher Erwägung, verantwortungsbewußten Entscheidungen und langhin gerüsteten Taten. Man las in der Zeitung würdegeschwollene Berichte über Thronreden, Ministerkrisen, Kriegserklärungen, und jetzt tauchten Worte auf wie »Führertaktik« und »revolutionärer Wille«. Eins aber wie das andre schien fauler Humbug zu sein und aus einer abgefeimten Mischung von überflüssigem Geschwätz und stumpfsinnigem Amtsschimmel zu bestehen. Geräumige Zimmer, in denen arbeitsscheue Herren blauen Zigarrenrauch und unverbindliche Ansichten von sich gaben – enge Schalter, dahinter heimtückische Tuberkulotiker sich an der demütig wartenden Volksschlange durch grausame Sekkaturen für den Hungerlohn rächten – das war die Regierung dieser Welt, die sich nicht verändern wollte, wer immer auch herrschte.

Sonderbarerweise nahm Ferdinand Ronalds skeptische Erkenntnisse in einem Augenblick an, da jener im Schatten seiner neuen Würde und Gewalt sich zu einem Gläubigen entwickelte und nun auch in der gewöhnlichsten Unterhaltung seine Grundsätze mit Feuer vertrat.

Vielleicht – überlegte Ferdinand – hatte es Gott so eingerichtet, daß alles Sinnlose erst dann einen Sinn bekam, wenn es verflossen war. Es mußte wohl so sein, daß aufgeblasene Nichtstuer jeder Gesinnung in rauchgeschwärzten Räumen sich zu endlosem Schwatz zusammenrotteten, damit Geschichte entstehe. Er zwang sich zu einem engumzirkten Fleiß, in der Hoffnung, es werde sich im Verlauf der Dinge ihr guter Sinn noch erweisen. Nun lief er von Amt zu Amt, von den Intendanturen zu den Provianturen, von Magazin zu Magazin, um für die neuaufgestellten Kompagnien alles Nötige zu ergattern.

Die Ämter befanden sich alle in Auflösung. In mancher großen Schreibstube saß bloß noch ein einziger Offizier, der vor dem Worte »Rote Wehr« zusammenfuhr. In den meisten Depots lungerten nur mehr ein paar gesättigte Rechnungsfeldwebel, die beim besten Willen den ganzen Krempel nicht bewältigen konnten. So gelang es Ferdinand, in aller Eile Monturen, Stiefel, Wäsche, Konserven, Strohsäcke und Decken zu fassen, um damit Mannschaft und Kaserne auszustatten.

Aber es war wie verhext. Kaum hatten die Leute diese Sorten in Empfang genommen, scharten sie sich auf den Gängen zusammen und erhoben ein Geschrei, man lasse sie verhungern und verkommen. Auch jetzt drängten sich wie während des Krieges gewissenlose Elemente zwischen die Mannschaft und ihre Bedürfnisse, um vom Raub zu leben.

Alle gingen aus und ein, wie es ihnen paßte. Niemand hielt sich an die Dienstordnung, die das revolutionäre Militärkomitee an alle Türen der Mannschaftszimmer hatte nageln lassen. Der Vorsitzende des Komitees und Oberbefehlshaber der Roten Wehrmacht, Ronald Weiß, errang nicht die Gewalt, dieses Chaos in eine Form zu bringen. Wie die Dinge lagen, fühlte er sich gezwungen, den Leuten zu schmeicheln. Kommandant und Untergebener gaben sich gegenseitig den Titel »Genosse«, und wenn der Vorgesetzte einen Befehl aussprach, so kleidete er ihn in eine bescheidene Bitte. Der Dienst selber bestand im ununterbrochenen Abhalten von Versammlungen, die von einem Zimmer ins andere übersiedelten und nur während des Menagegangs aussetzten.

Trotz dieser Mißstände fügten sich die Kompagnien in der Mehrzahl aus prachtvollen Burschen zusammen. Ferdinand erinnerte sich nicht, im Felde jemals besseren Gesichtern begegnet zu sein. Die Überzeugung und der Opfermut für ihre Überzeugung adelte sie. Diese selbst freilich war zerfahren, unbestimmt und eher ein Gefühlswert als ein politischer Begriff. Die Soldaten erhofften von der Revolution die Abschaffung des Krieges für alle Zeiten, den Untergang der schuldigen Herrenschicht und mit religiöser Inbrunst »eine neue Welt«. So war es wenigstens in den ersten Tagen. Die Führer, die selber zu keiner Klarheit gelangten, fütterten diese Sehnsucht mit verbrauchten Phrasen des damaligen politischen Wortbestandes. Nichts war vorhanden als ein leerer Schwung, dem niemand eine entscheidende Richtung geben konnte. Bald zeigten sich die Folgen. Die Revolution in Mitteleuropa verschmachtete an ihrer geistigen Armut.

Die Pressekonferenzen, die Weiß abhielt, hatten den gewünschten Erfolg. Wäre das Ereignis nichts anderes gewesen als ein Spiegelbild seiner Veröffentlichung – und dies war die Ansicht jedes echten Journalisten –, so hätte sich der volle Triumph ohne Zweifel einstellen müssen. Die Zeitungen brachten tagelang erschrockene Meldungen, masochistische Berichte, ja sogar spielerische Feuilletons über die wachsende Rote Armee in Wien. Das Bürgertum öffnete zitternd die Morgenblätter, und die niedergeschmetterte Herrenklasse von gestern saß hinter geschlossenen Läden im künstlichen Dunkel der Wohnungen.

Da Ferdinand nicht bei den Versammlungen erschien, keine Reden hielt und seine ganze Zeit auf die Organisation des Verwaltungsdienstes und der Ernährungssicherung der Kaserne verwandte, so rückte er sehr bald in die zweite und dritte Linie der Führer. Er war sehr froh darüber, denn er besaß nicht Ronalds Leichtigkeit.

Eines Tages verlangte das Komitee von ihm einen genauen Bericht über die Zustände auf den Wiener Bahnhöfen. Ferdinand konnte sich diesem Auftrag nicht entziehen, der ihn übrigens auch interessierte. Er wählte als erstes Studienziel den Südbahnhof, wohin er sich am Nachmittag aufmachte. Man sah zu dieser Stunde kaum einen Zivilisten auf den Bahnsteigen. Personenzüge wurden nicht mehr abgelassen, denn ununterbrochen trafen von der Front die Garnituren des zerschlagenen Heeres ein. Eine tobende Soldateska erfüllte die Halle mit ihrem Sprachengewirr und den erdig-faulen Gerüchen des Grabenlebens. Kein Offizier war zu finden. An wen die Kommandogewalt des Bahnhofs übergegangen war, konnte nicht festgestellt werden. Ein Dutzend von Stationsbeamten vermehrten den Wirrwarr dadurch, daß sie Ordnung stiften wollten. Ein anderer Teil sah schlaff und teilnahmslos dem unauflösbaren Treiben zu. Am schlimmsten war ein großer Verwundetentransport daran. Der ärztliche Leiter, ein alter verzweifelter Mann, mußte mit zwanzig Spitälern telephonisch verhandeln, ehe sich eines bereit fand, den unerwünschten Zuwachs aufzunehmen, der heute wahrscheinlich gar nicht mehr nach Österreich zuständig war. Auf nackten Tragen oder in verfaultes Stroh gebettet, lagen die Opfer des letzten Waffenganges in den schmutzigen Waggons. Die Wunden eiterten und brannten nicht anders als in den ersten Tagen des Krieges, da jeder Verletzte als wildumjubelter Held empfangen und gepflegt wurde. Jetzt stand der Zug schon seit sieben Uhr morgens in der Bahnhofshalle, und die Kranken hatten außer einer schalen Wassersuppe noch keine Mahlzeit erhalten. Ferdinand ging von Wagen zu Wagen und steckte seinen Kopf voll wehen Schuldgefühls in den stinkenden Dunst von Karbol und Fäulnis.

Da hörte er vom andern Geleise her seinen Namen: »Leutnant R.!«

Ferdinand gewahrte einen wildbärtigen Mann in zerfetzter Uniform mitten in einem Haufen noch zerlumpterer Soldaten. Der Mann schritt mit unnatürlich glänzenden Augen auf ihn zu. Eine volle Minute brauchte es, bis ihn Ferdinand erkannte:

»Um Gottes willen! Herr Major Prechtl!«

»Oberstleutnant Prechtl, wenn ich bitten darf«, sagte der Mann, der unter dem graudurchzogenen Bart einen Totenkopf trug.

Ferdinand stammelte:

»Herr Oberstleutnant ... ja ... was ist denn mit Ihnen geschehn?«

Die starrleuchtenden Pupillen des Mannes bewegten sich nicht, wenn er sprach. Auch seine Worte hatten eine steif-phrasenhafte Art:

»Es ist uns gelungen, mir und meinen braven Truppen, der schmachvollen Gefangenschaft zu entgehn ...«

Und er deutete auf die Gruppe von etwa dreißig phantastischen Lumpengestalten, die sich hinter ihm drängte. Nur fünf von ihnen trugen Stiefel an den Füßen, die übrigen waren barfuß oder hatten unbeschreibliche Fetzen anstatt des Schuhwerks umgewickelt. Keiner besaß mehr einen Rucksack, geschweige denn sein Gewehr. Prechtls Stimme schnarrte im scharfen abgehackten Kommandoklang, den Ferdinand an ihr nicht kannte:

»Habe mich vom Feinde glänzend abgelöst ... Meine vorsichtigen Herren sind mir vor Udine durchgegangen ... Vor drei Tagen haben wir die Kärntner Grenze überschritten ... Plünderungen wurden vermieden ... Mein Tagesbefehl hat Verpflegung durch offene Feldfrucht angeordnet ... Gestern früh einwaggoniert ... Werde heute Seiner Majestät, dem Kaiser das Regiment übergeben ...«

Ferdinand hatte an Prechtl immer geliebt, daß er dem militärischen Ton abhold war und niemals große Worte machte. Mehr noch! Er war, seiner Meinung nach, vom ersten Tag an ein entschiedener Kriegsgegner und scharfer Kritiker der höheren Führung gewesen, worauf Hunderte seiner furchtlosen Bemerkungen stets hingedeutet hatten. Um so unbegreiflicher die starre Verwandlung jetzt. Wie sonderbar, der Offizier schien keine Vorstellung von der Lage zu haben. Sanftmütig versuchte Ferdinand, ihn aufzuklären:

»Herr Oberstleutnant! Höchstwahrscheinlich wird es schon morgen oder übermorgen keinen Kaiser mehr geben ...«

Prechtl richtete sich auf:

»Habe das auch schon gehört ... Aber, wenn ich bitten darf ... was wird dann aus dem kaiserlich und königlichen Offizierskorps?«

»Es haben sich neue Staaten gebildet ...«

»Und wohin gehöre ich ... wenn ich gehorsamst bitten darf ... Wer wird mich übernehmen? ... Ich war dreimal verwundet ... Habe den Krieg an allen Fronten und in jeder Verwendung mitgemacht ... Auch Seine Majestät hat den Soldateneid geleistet ... Wohin gehör ich also?«

»Das hängt von der Zuständigkeit ab, Herr Oberstleutnant ...«

»Von der Zuständigkeit?« Prechtl erhob schallend seine Stimme: »Da möcht ich mich aber gehorsamst bedankt haben ... Ich bin Regimentskommandant und zuständig in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Merken Sie sich das, Herr Leutnant!«

Sein tiefbraunes Gesicht verfärbte sich vor Kränkung. Er wandte Ferdinand scharf den Rücken und stapfte in der Geleisespur auf und ab. Unglücklicherweise ereignete sich jetzt eine Flegelei, die traurige Folgen nach sich ziehen sollte. Ein paar Soldaten, welche den Bahnhof nach Offizieren absuchten, die ihre Abzeichen noch trugen, kamen auf Prechtl zu:

»Weg mit der Rosetten!« brüllte ihn einer der Kerle an.

Prechtl blieb fassungslos stehn.

Die Soldaten umringten ihn gefährlich:

»Verstehst net? Die Rosetten von der Kappen!!«

Das Ganze spielte sich so schnell ab, daß Ferdinand zu spät kam. Ehe Prechtl noch einen Laut von sich geben konnte, hatte er einen derben Schlag über den Kopf erhalten. Die Kappe flog zur Erde. Ferdinand fing den wankenden Mann auf. Er lag zwei Minuten still in seinen Armen. In der Brust des Geschlagenen arbeitete ein heiseres Pfeifen, das sich aber nicht zum Aufschluchzen verdichtete. Ferdinand versuchte, den Halbohnmächtigen zu beruhigen:

»Herr Oberstleutnant, so was muß jeder jetzt hinunterschlucken! Es geht keinem anders. Gestern ist ein General auf der Straße nackt ausgezogen und verprügelt worden. Kommen Sie! Gehn wir! Sie müssen sich ausschlafen und erholen. Ich bringe Sie in ein Hotel! Morgen schaut alles anders aus ...«

Prechtl sagte kein Wort und blieb noch eine Weile an Ferdinand gelehnt. Dann erst machte er zwei Schritte:

»Nein, nein! Weißt was? Gib mir ein Zigarettl! Das ist viel besser.«

In gierigen Zügen begann er zu rauchen. Dann ging er wieder auf und ab. Als er zu seiner Kappe kam, gab er ihr angeekelt einen Fußtritt. Inzwischen war der Soldatenhaufen Prechtls auf einige Mann (sichtlich die unintelligentesten) zusammengeschmolzen. Der Oberstleutnant schien jetzt zu einem Entschluß gekommen zu sein, denn er gab sich einen Ruck und rief:

»Vergatterung! Antreten!«

Die Soldaten machten keine Miene, dem Befehl zu gehorchen. Einer sah Ferdinand zwinkernd an und deutete auf die Stirn. Prechtl war unter die Rotte getreten und nahm Habtachtstellung. Er schrie, als müsse er von vier vollen Bataillons gehört werden:

»Soldaten des k. u. k. Infanterieregiments Nr. ...!! Ich habe euch nach vierjährigem Ringen in die Reichshauptstadt zurückgeführt ... Der Krieg ist zu Ende ... Ihr rüstet heute ab ... Was mit euch weiter geschieht, entscheidet eure Zuständigkeit ... Das Regimentskommando ist nicht mehr kompetent ... Ich danke euch für eure heldenhafte Ausdauer und Tapferkeit ... Viel Glück auf den weiteren Lebensweg! ... Es lebe ...«

Er brachte den Hochruf nicht aus, sondern verabschiedete ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung. Ferdinand mahnte:

»Gehn wir, Herr Oberstleutnant!«

Prechtl sah ihm fernsinnend ins Gesicht:

»Ich mein, es ist sehr praktisch, daß ich ganz allein bin und zu Hause kein Weibsbild samt ein paar Bankerten sitzen hab ... So was! Neugierig wär ich, was dein Herr Papa zu dem Pallawatsch g'sagt hätt ...«

»Ganz in der Nähe ist ein Hotel, Herr Oberstleutnant ...«

Prechtl ließ ihn nicht zu Ende reden:

»Nein, ausgeschlossen! Brauch ich nicht! Du, weißt, gib mir noch ein Zigarettl!«

Andächtig zündete er die Zigarette an und erfüllte sichtbar inbrünstig seine Brust mit starken Rauchschwaden, während er neuerdings in dem Geleise auf- und abstapfte. Ferdinand, der ihn nicht quälen wollte, sagte sich zwar: Man muß aufpassen. Leider aber besaß Prechtl einen jener winzigen Browningrevolver, die im Handteller verschwinden. Der Knall war so schwach, daß er die schreiende Soldatenmenge in der großen Bahnhofshalle nicht aufstörte. Es gab einen kleinen Wirbel, der auch Ferdinand wie im Traum mit sich spülte. Als man den alten Offizier auf das Sofa des Stationschefs bettete, war er schon tot. Ferdinand empfing weder ein Wort noch einen Blick mehr.

   

Ein Tag wütender Arbeit folgte. Die Rote Wehr besaß nun schon einen Stand von nahezu tausend Mann. Ferdinand hatte wieder nach unendlichen Schwierigkeiten Monturen, Stiefel, Bettzeug, Konserven herbeigeschafft. Gegen acht Uhr abend aber wurden seine Kopfschmerzen so unerträglich, daß er flüchtete und verzweifelt durch die Straßen lief. Die verängstigte Leere der Stadt donnerte ihm mit Verlassenheitsfluten ins Ohr. Er rannte in den Säulensaal, wie ein schreckscheues Pferd in den Stall rennt. Auch das Café war fast gänzlich ausgestorben. Von Bekannten traf er nur Stechler an. Der Maler empfing ihn mit großen Nachrichten. Heute sei kein Geringerer als Präsident Aschermann in Person hier im Säulensaal mit Hedda erschienen. Das erstemal habe sich dieser große Geldmensch, ein famoser Kerl übrigens, der Gesellschaft genähert. Ein Triumph Heddas. Unglaubliche Dinge seien im Anzug. Aschermann werde, wenn sich in Wien die Kommune durchsetzen sollte, alle seine Kunstsammlungen freiwillig sozialisieren und öffentlich zugänglich machen. Das habe er ihm, Stechler, in die Hand versprochen. Der Präsident erntete noch weiteres Lob:

»Er hat zu uns volles Vertrauen. Hätten Sie es für möglich gehalten, daß er fast ein Gesinnungsgenosse ist? Bißl ruhiger vielleicht, aber sonst ... Also in vierzehn Tagen schon wird die neue Zeitschrift erscheinen. Sie heißt ›Der Rote Gedanke‹. Hedda übernimmt selbst die Redaktion. Weiß wird ihr nur dabei helfen. Mir tut es sehr leid für Basil. Ich weiß auch nicht, ob ich als Freund Basils mittun kann. Aber – wenn wir aufrichtig sind – Basil ist doch ein reaktionärer Ästhet. Heute kann man als moderner Mensch philosophisch nur Positivist sein. Vielleicht auch noch Pragmatist! Sie wissen ja eh! Aber thomistischer Metaphysiker wie Basil? Wär net schlecht! Vom Standpunkt des historischen Materialismus aus hat Hedda ganz recht, Basil abzustoßen. Ich bitte Sie, dieses eschatologische Gemurks ist ein Verkehrshindernis. Er sollte jetzt endlich nicht mehr standpunktlos akritisch faseln, sondern wirklich in ein Kloster gehn ...«

Vor Stechler lagen ein paar Kanzleibogen, die mit den großen absichtsvollen Buchstaben der Handschrift übersät waren, wie sie die meisten Maler bevorzugen. Er packte die Blätter langsam zusammen: »Entschuldigen schon, aber ich werd mich jetzt allein dorthin setzen. Eine wichtige Arbeit! Sie sehn ja ...«

Ferdinands Schweigen mißverstehend, gab er bereitwillig Auskunft:

»Ein radikaler Unterrichtsentwurf für alle Schulen. Ich mache das gemeinsam mit Archer. Herrgott, Sie wissen ja noch gar nicht, daß meine Begegnung mit Archer stattgefunden hat. Also, es war einfach kolossal. Beide waren wir direkt durchsichtig ... Er ist ein neuer Pestalozzi, was sag ich Pestalozzi, ein neuer ... ein neuer ... aber dafür gibt's gar keinen Namen ... Daß Archer zum Volkskommissär für Unterricht bestimmt ist, das werden Sie wissen, was?«

Ferdinand ließ ein teilnahmsloses »So?« verlauten. Gegen dieses »So?« sträubte sich Stechler heftig:

»Erlauben Sie? Gehören Sie auch zu diesen Leuten? Jeder kommt mir jetzt mit dem alten Dreck. Archer war niemals Monarchist. Gut! Er hat den Aufsatz ›Reichsgedanke und Kaiseridee‹ geschrieben. Aber erstens im Jahre 1916 und zweitens in der ›Steilen Kurve‹. Das kann man doch nicht ernst nehmen. Viel wichtiger ist's, daß er Mazdaznan für alle Wiener Schulkinder obligat machen will ...«

Stechler bemitleidete Ferdinands erstaunten Blick:

»Unterschätzen Sie das nicht, lieber Herr! Es kommt dabei nicht allein auf die Triebreinigung an. Die zukünftige Regierung wird mit Mazdaznan die ganze Ernährungsfrage lösen. In Rußland werden ähnliche Versuche gemacht. Bedenken Sie nur, Hülsenfrüchte kann man überall anpflanzen, in jedem Schrebergarten und auf der Ringstraße. Warum nicht? Eine enorme Konsumersparnis mit aktiver Handelsbilanz und dabei nahrhaft ... Und alles auf einen Bumsdich!«

Der Zufall wollte es, daß gerade, als das Wort »Hülsenfrüchte« fiel, Gottfried Krasny auftauchte. Stechler packte sich und verschwand. Der Dichter aber umkreiste auf seine Art mit hochgehoben-abgeknickten Händen den Tisch, indem er, ohne zu grüßen, seine gierig aufbegehrenden Blicke in Ferdinands Augen bohrte. Dann, als er sicher war, sein Opfer genugsam beleidigt zu haben, stieß er heran und befahl:

»Herr Leutnant! Sie werden mir einen Pfiff Weißwein bezahlen!«

»Gerne«, sagte Ferdinand, der plötzlich Freude darüber empfand, daß dieser Mensch und kein anderer ihm Gesellschaft leisten werde.

Krasny deklamierte finster:

»Seit ein paar Tagen ist die Küche wie tot. Sie haben nichts draußen als die schwer verdaulichen Tiroler Landjäger ...«

Da Ferdinand grausam genug war, diesen ernsthaften Wink nicht unverzüglich zu beachten, entschied Krasny mit Härte:

»Sie können mir eine Portion Tiroler Landjäger kommen lassen!«

Ehe die Speise aufgetragen war und während des Essens sprach der Dichter mit betonter Ablehnung seines Tischnachbarn kein Wort. Ferdinand hatte Zeit, ihn zu betrachten. Seit zwei Wochen sah er Krasny zum erstenmal wieder. Konnte das der Grund sein, daß er ihn so unbegreiflich verändert fand? Die freche Angriffsbereitschaft seines Bettlertums hatte heute etwas Gezwungenes. Durch die düstere Medusenmaske lugte mehr als einmal ein schwachsinnig flehendes Lächeln ...

Jetzt aber wurde Krasny gelb vor Wut und grinste empört auf seinen Teller:

»Warum zwingen Sie mich, so etwas zu essen? Die Würste sind ja verdorben. Ein Mensch in meiner Verfassung sollte nur eine Melange mit Kondensmilch nehmen ...«

Ferdinand winkte dem Ober Fritz, der mit matter Kennerfreude das wohlbekannte Spiel verfolgte. In der letzten Zeit hatte seine spöttische Zärtlichkeit für Krasny eine auffällige Form angenommen. Er servierte höchstpersönlich den Kaffee, während seine von Müdigkeit geschüttelte Gestalt kaum vorwärts kam. Als Gottfried Krasny die Schale geleert hatte, ließ er sich herab, mißbilligend zu krächzen:

»Von Ihnen hätt ich das nicht erwartet ...«

Ferdinand rückte seinen Stuhl zurück:

»Was denn?«

»Daß Sie sich mit einem Herrn Weiß, einem Herrn Spannweit, einem Herrn Stechler verbrüdern!«

Er zog jeden dieser Namen haßknirschend in die Länge. Ferdinand verstand ihn wohl, aber er sagte:

»Ich versteh Sie nicht.«

Krasny ließ sich nicht zurückschrecken:

»Es ist erstens dumm und zweitens eine Gemeinheit! Außerdem paßt es nicht zu Ihnen!«

»Sie müssen sich schon klarer ausdrücken, Herr Krasny.«

Krasnys Stimme sang schwerfällig:

»Für mich als deutschen Dichter ist der Untergang Deutschlands ein Schlag! Das ist es ... mein Herr ... worunter ich leide.«

Auf Ferdinands Zunge lag eine wegwerfende Bemerkung. Was hatte das deutsche Volk mit diesem Dichter zu tun, der seine Verse, wie es hieß, oftmals gar nicht aufschrieb, sondern nur im Gedächtnis bewahrte. Doch er sagte nichts, denn in Gottfried Krasnys Haltung lag eine Wahrhaftigkeit, die ihn selbst nun zwang, sich zu verantworten:

»Sie reden von den Vorgängen, an denen ich teilnehme«, fragte er mit unglaubwürdiger Leichtigkeit, »nicht wahr? ... Ich habe zuviel erlebt, um nur gleichgültig zuzuschauen.«

Eine laue Beweisführung. Ferdinand schämte sich. Die Kopfschmerzen beraubten ihn aller Schlagfertigkeit, die ja auch sonst seine starke Seite nicht war. Krasny aber stieß gaumig-feindlich hervor:

»Glauben Sie an Gleichheit?«

Weiß Gott, was das für eine Lähmung war:

»Ich glaube, daß, wenn jemals, so jetzt die Möglichkeit da ist, die Lebensbedingungen der Welt zu bessern ...«

Trockene, schlappe Worte! Warum nur? Prechtl war schuld. Das gleichgültig kalte Gesicht des Sterbenden schwankte immerfort vor seinen Augen.

Krasny hob die Krallenfinger wie zum Schwur:

»Gleichheit ist die allertückischeste Lüge der Welt! Bin ich etwa gleich mit einem Herrn Weiß, mit einem Herrn Stechler, mit einem Herrn Spannweit? ... Und Freiheit?«

Ein sprungbereiter Wolfsblick lauerte auf Ferdinands Antwort. Sie kam nicht. Da bellte Krasny:

»Freiheit für wen? Das Proletariat? Das Proletariat hat gefälligst unten zu bleiben!! Roheit, Unbildung, Häßlichkeit müssen unten bleiben. Wer das umdrehen will, ist ein verbrecherischer Narr oder ein ehrgeiziger Jud. Sie sind doch kein Jud! Gestern hat ein Herr Stechler gesagt: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht leben. Ich arbeite nicht, und er arbeitet auch nicht. Herr Stechler ist ein verlogenes Schwein. Ich aber tue, was ich sage. Arbeit schändet. Ich hasse die Arbeit. Die andern hassen sie auch, wollen aber trotzdem verdienen. Die Wahrheit ist die: Nur wer nicht arbeitet, soll leben, denn wer lebt, kann nicht arbeiten. Ein Erzherzog, ein Fürst hat das volle Recht, nicht zu arbeiten. Die Welt ist für die Drohnen geschaffen und nicht für die Bienen!«

Es wäre nicht besonders schwer gewesen, den Aberwitz von Gottfried Krasnys Adelsphilosophie zu widerlegen. Ferdinand holte auch dazu aus. Er hatte freilich kein Glück. Der Dichter hörte ihn gar nicht an. Die wütende Rede schien ihn überanstrengt zu haben. Sein Oberkörper begann haltlos zu pendeln. Die Zungenspitze trat zwischen die Lippen. Unvermittelt fragte er:

»Waren Sie jemals beim Blumenkorso im Prater?«

»Nie.«

»Haben Sie noch den Fronleichnamsumgang mit dem alten Kaiser gesehn? ... Alle ungarischen Magnaten in ihren Goldverschnürungen, die hohe Geistlichkeit, die Arcierengarde?«

Ferdinand verneinte auch diese Frage.

»Aber in der Hofoper waren Sie doch?«

Ja! Ferdinand hatte einige Opernvorstellungen erlebt. Ein fremdes, unerreichbares Glück, das nachher wehe tat. Krasny lugte aus einer schlauen Träumerei herüber:

»Ich bin nur ein einziges Mal als Kind in die Hofoper mitgenommen worden. Seither aber, ich meine in den letzten Jahren, stelle ich es folgendermaßen an ...«

Er machte eine Pause. Das gesponnene Lächeln überzog sein Gesicht:

»Natürlich so, wie ich aussehe, kann ich mich nicht ins Vestibül wagen. Wenn es aber sieben Uhr wird und ich hab Lust, in die Oper zu gehn, so leihe ich mir vom Oberkellner Fritz den eleganten Raglan und seinen Velourhut aus. Es fällt dann gar nicht auf, wenn ich mich unten an der Logentreppe aufstelle. Die Damen gehn an mir vorbei. Ich kann ihnen nachsehn, wie sie hinaufsteigen ... mit Abendmänteln und Goldschuhen ... Es ist ein sehr schönes Vergnügen ...«

Er blickte mit offenem Mund dieser Wonne nach. Dann schluckte er die Erinnerung hinunter und stellte wie ein Habitué, der zahlreiche Abhaltungen bedauert, mit ernstem Ton fest:

»Ich habe leider seit anderthalb Jahren nicht mehr die Hofoper besucht.«

Ferdinand sah ihn erwartungsvoll an, als könne die Erzählung noch nicht fertig sein. Da fuhr Krasny wütend auf:

»Und Sie möchten, daß die schönen Damen statt Diademen Kopftücher tragen. Ja, wissen Sie denn nicht, daß der Reichtum das einzig Göttliche auf der Welt ist? Gott ist gewiß nicht der Bettler, sondern der reiche Mann aus dem Märchen!«

»Ich war immer nur arm«, sagte Ferdinand. »Wie kann ich das wissen?«

Die Übertragungskraft von Krasnys hohl hervorgebrachten Worten war aber so stark, daß eine sehnsüchtige Vision von Parfüm und schwebenden Schultern vorüberzog.

Hier, zum erstenmal während dieser Unterhaltung, wandte Krasny seine fiebernden Räuber-Augen dem Partner forschend zu:

»Können Sie neidisch sein, Herr Leutnant?«

Ferdinand staunte:

»Ich glaub, ich hab nicht viel Talent dazu.«

Krampfhaft erscholl nun Wort um Wort:

»Aber ich dafür! Wissen Sie, daß ich die Hofoper nicht nur besucht habe, um zu schauen, sondern mehr noch, um zu beneiden ... Sogar Sie beneide ich!«

»Da bin ich aber sehr neugierig, weshalb man mich beneiden kann.«

Immer gieriger liefen Krasnys Blicke an Ferdinand entlang.

»Ich beneide Sie um Ihren Körper. Ich beneide Sie um Ihre Gesundheit. Glauben Sie, ich würde immer im Kaffeehaus herumsitzen, wenn ich einen besseren Körper hätte?«

Er schüttelte sein Gerippe, das zu dieser späten Jahreszeit in einer hellgrauen Lüsterjacke steckte:

»Es würde mir mit einem anderen Körper auch viel besser gehn. Ich brauchte ebensowenig zu arbeiten wie jetzt und es würde mir besser gehn ...«

»Seitdem ich Sie kenne«, meinte Ferdinand vorsichtig, »bin ich überzeugt davon, daß etwas mit Ihnen nicht in Ordnung ist. Sie sind krank und könnten bei einer anderen Lebensweise gewiß ausgeheilt werden ...«

Krasny runzelte beleidigt die Stirn:

»Ich bin nicht krank, ich bin nur nicht gesund. Ich halte mehr aus als alle anderen. Das aber ist es nicht. Mit einem anderen Körper würde ich besser zu essen haben, und ein Herr Spannweit würde es nicht wagen, mir für die Gegenleistung von zwei Kronen ins Gesicht zu spucken.«

Mit einer Handbewegung verbat er sich jede Äußerung des Trostes. Ferdinand hatte wirklich derartig grausame Szenen mit Abscheu ansehen müssen, wenn Spannweit und andere Genießer um schäbige Almosen dem Bettler homerisch belachte Selbsterniedrigungen abkauften. Krasny allerdings zeigte stets die hochmütigste Bereitwilligkeit, sich für zwei Kronen anspucken zu lassen. Jetzt aber ging in seinen Zügen eine schwarze Sonne des Hasses auf. Sie erleuchtete mit höllischem Strahl neue Gedankenketten:

»Wissen Sie, warum die Juden die Psychologie erfunden haben? Um den Blick der Welt von ihren degenerierten Körpern abzulenken. Ich versteh das aus mir genau. Der Leib ist die einzige Wahrheit, die an einem Menschen vorhanden ist ...«

Es war Gottfried Krasnys Art, stundenlang zu schweigen, dann aber wieder in betäubender Rücksichtslosigkeit das Gespräch an sich zu reißen, wenn er ein einsames Opfer fand. Ferdinands Schädel drohte zu platzen wie ein überheizter Kessel:

»Wenn Sie wüßten«, klagte er, »welche Kopfschmerzen mich seit Stunden malträtieren, würden Sie mich um meine Gesundheit nicht beneiden ... Ich habe gestern eine ganz schreckliche Geschichte erlebt ...«

Er stand auf und machte den Vorschlag, das öde, beklemmende Lokal zu verlassen und in der Nacht ein wenig spazierenzugehn. In seinem Lufthunger vergaß er den kalten November und Krasnys Kleidung. Dieser nahm den Vorschlag erstaunt entgegen. Spazierengehn, das hatte noch niemand von ihm gefordert. Er gehorchte aber stumm und trug seine Schattengestalt hinter Ferdinand einher. An der Stolleneinfahrt des Säulensaals sah ihnen der alte Fritz mit seinen wäßrig-unerforschlichen Augen nach:

»Wenn einem schon solche Gäst' weitergehn ... schwere Zeiten, schwere Zeiten!«

Als sie an einem bekannten Stadtrestaurant vorüberkamen, blieb Krasny stehn. Die Läden waren zwar vor der aufgewühlten Außenwelt verschlossen, aber durch die Ritzen stach Licht hindurch und bewies, daß die reichen Leute auch heute noch vorzüglich speisen konnten:

»Spannweit sagt«, schwärmte Krasny, »daß man hier mittags einen sehr guten Tafelspitz bekommt ...«

Ferdinands Brieftasche war in den letzten Wochen sehr zusammengeschrumpft. Wenn er auch für sich selbst so gut wie nichts brauchte, so hatte er doch allzu viele Teilnehmer an seinen Ersparnissen gefunden. Was mit ihm demnächst geschehen werde, wußte er nicht. Aber in dem allgemeinen Vabanque dieser Tage verschwendete er keinen Gedanken an die Zukunft. Dennoch aber konnte er sich nicht entschließen, der ersten Regung nachzugeben und Krasny in dieses teure Restaurant zu führen. Nicht nur wegen der schmerzhaften Kosten, sondern auch aus seiner alten Scheu, die er noch immer angesichts vornehmer Wirtsstätten empfand.

Gottfried Krasny trennte sich nicht so leicht von dem üppigen Lichtschimmer in den Ritzen, der gleichsam von erahntem Fett- und Speisenduft vergoldet war:

»Die Wiener verstehen das Pikante nicht«, sagte er mit ruhigem Tadel, hinter dem sich Wonnen der Phantasie verbargen. »Sie gebrauchen immer die gleichen Gewürze und Zutaten: Senf! Das ist für sie schon pikant. Als Bub hat mich mein Vater einmal in ein erstklassiges Hotel im Ausland mitgenommen ...«

»Sie haben einen Vater«, unterbrach ihn Ferdinand, der sich gar nicht vorstellen konnte, daß dieses Phantom auf regelrecht menschliche Weise entstanden sein könnte. Krasny schien nur ungern über persönliche Angelegenheiten Auskunft zu geben:

»Ja, ich glaube, mein Vater lebt noch. Seitdem ich aber bei der Matura durchgefallen bin, hab ich nichts mehr von ihm gehört.«

»Und was ist er denn, Ihr Vater?«

»Vielleicht noch immer Gymnasialprofessor in Villach, vielleicht auch schon Direktor ...«

Er machte einige schnelle Schritte, um von dem unerwünschten Gegenstand loszukommen:

»... Aber ich wollte Ihnen ja von etwas ganz anderem erzählen, von der Speise, die ich damals gegessen hab und an die ich mich peinlich genau erinnere. Sogar an den Namen erinnere ich mich, der auf der Karte stand, obwohl ich damals erst dreizehn Jahre alt war. Die Speise hieß: ›Pot flamand au feu‹ mit ›sauce vinaigre‹. Also, das Ganze kam in einem blanken Kupfergeschirr auf den Tisch und bestand aus vielerlei Fleisch, alles gekocht. Hauptsächlich ein wunderschönes, gut unterspicktes Stück Beinfleisch, es kann aber auch ein Schwarzscherzel oder Hieferschwanzel gewesen sein. Lachen Sie nicht! Diese Unterscheidungen sind Kulturfragen. Denken Sie doch an die Römer. Dann war ein schmelzend weich gesottener Kalbskopf dabei, die weiße Brust vom Kapaun und ein paar Scheiben einer heißen, grobkörnigen Wurst, sehr fett, etwas so Köstliches, wie ich's im späteren Leben nie wieder verzehren durfte. Die Fleischbestandteile waren mit Kohlblättern, Karotten und anderen Gemüsen in ihrer eigenen Suppe abgebrüht. Auch etwas Zwiebel und viele Kapern waren darin und auf der Sauce vinaigre schwamm – aber das kann ich nicht beschwören – Majoran ...«

Er wiederholte mehrmals dieses schöne, melodische Wort: »Majoran!« Dann schloß er mit finsterer Zeitkritik:

»Bei uns verwendet man nur selten Majoran und Kapern überhaupt niemals, außer etwa beim garnierten Liptauer ...«

Er hob die geballte Faust:

»Warum keine Kapern? Kapern werden doch wohl während des Krieges nicht ausgegangen sein!«

Längst sprach Krasny nicht mehr zu Ferdinand. Vornübergebeugt stolperte er dahin und erzählte der Erde von verschollenen Genüssen. Erst im Volksgarten erwachte er aus diesem Traumfieber pikanter Hungerbilder.

Wenn man nicht gerade an einer brennenden Laterne vorbeiging, sah man nur nackte Baumwipfel und fahle Narben im ziehenden Himmel, der die Turmspitze des Rathauses angstvoll erhellte. Der Fuß trat mit Ekel auf faulige Laubhaufen, die sich wie aufgeweichte Tierkadaver anfühlten. Feuchte Kälte durchwehte den Park.

Ferdinand, der nicht verwöhnt war und dem die warme Bluse genügte, hängte dem zähneklappernden Krasny seinen Uniformmantel über.

Der nahm die fürsorgliche Gabe wie immer ohne ein Zeichen des Dankes oder der Freude entgegen und sagte kein Wort. Die Kälte, Prechtls bärtiges Gesicht und der Gedanke an die Rote Wehr jagten Ferdinand in rascher Hatz dreimal um den Theseustempel. Krasny blieb schnaufend hinter ihm:

»Rennen Sie doch nicht so«, keuchte er endlich.

Trotz des scharfen Windes setzte sich Ferdinand nun auf eine feuchte November-Parkbank. Der Dichter blieb vor ihm stehn. Er biß nach ihm wie ein gereizter Köter:

»Das hab ich mir von Ihnen gleich gedacht, daß Sie keine Kraft zum Neid haben ...«

Ferdinand wußte schon, daß jetzt Beleidigung auf Beleidigung folgen werde. Er hielt gelassen still, was Gottfried Krasny nur noch mehr erbitterte:

»Wissen Sie, was an Ihnen das Unerträglichste ist«, fauchte er mit seinem zornkomischen Sprachfehler, »Sie scheinen ja ein guter Mensch zu sein, unerträglich!!«

Ferdinand murrte kurz:

»Gute Menschen? Das gibt es gar nicht!«

»Natürlich gibt es das nicht! Und darum ist es auch das Allerallerekelhafteste, was es gibt. Sie sind gutmütig, weil Sie gleichgültig sind. Was geht Ihnen denn nahe? Tun Sie nicht so großartig! Sie sind doch auch nur ein Bettler, der sich mehr anstrengt als ich ...«

»Mag schon sein ...«

»Warum sind Sie dann nicht gieriger? Ekelhaft! Die tierischesten Gemeinheiten eines Herrn Spannweit sind mir lieber als das ... als das ...«

»Bitte sehr, ich halte Sie nicht zurück. Sie werden Herrn Spannweit gewiß in irgendeinem Kaffeehaus antreffen ...«

Krasny schlug den Kragen von Ferdinands Mantel auf. Seine schwarzen Haarzotteln hingen widerspruchsvoll über die militärische Form:

»Ich bin doch nur mit Ihnen gegangen, weil niemand anderer da war!«

Ferdinand zwang sich ein Lachen ab:

»Was wollen Sie eigentlich?«

»Nichts! ... Sie müssen keine Angst haben ... Oder ... Ich werde ... Kennen Sie das bucklichte Männlein? ... Es ist übrigens nicht von mir.«

»Was für ein buckliges Männlein?«

»Es ist ein Gedicht ... Gebildete Menschen kennen es ...«

»Ich kenne es nicht.«

Ferdinand suchte in seinem Gedächtnis nach einem Gedicht dieses Titels. Sonderbar war's, daß er sich zwar an kein Gedicht erinnerte, aber deutlich einen buckligen Zwerg vor einem großen Kachelofen sah, der ganz und gar nicht dem ziemlich langen Krasny glich.

»Des Knaben Wunderhorn ... Hendelsche Ausgabe ... Seite 805«, stellte der fröstelnde Schatten im hechtgrauen Mantel mit gelehrsamer Pedanterie fest. »Ich weiß jetzt gar nicht mehr, wieso ich daraufgekommen bin ... Aber ich werde Ihnen das Gedicht vorsprechen ... Es sind für mich die schönsten Strophen deutscher Sprache, die es gibt ... Nein, hier geht es nicht ... Sie können sitzen bleiben ... Ich stelle mich dort zur Laterne, denn ich mag in der Dunkelheit keine Verse sprechen.«

Die meisten Bekannten Krasnys fanden seine Art, Gedichte vorzutragen, lächerlich und pathetisch. Etwas Lächerliches konnte man bei einigem bösen Willen an diesem Stil wohl finden, wohingegen der Vorwurf hohler Pathetik gänzlich ungerecht war. Sprachfehler und schwere Lautbildung zwangen ihn zur Langsamkeit, die jedoch niemals feierlich und leer wurde. Wie mit einer Saugpumpe zog er die Worte herauf, verwandelte und schleuderte sie dann, jedes einzelne isolierend, wieder aus. Man hatte den Eindruck, er müsse sich von den Worten befreien wie von einer schweren Last, die ihm weder Kraft noch Ruhe für Sinn und Zusammenhang ließ. Auch dieses Volkslied, das einen schwebend leichten Ton forderte, sprach er stoßweise wie seine eignen gewaltsamen Hymnen. Widerwärtig häßlich aber war, während er rezitierte, die abgeknickte Handhaltung, an die er sich gewöhnt hatte. Gleich bei den ersten Versen fingen seine Hände in den schlaffen Gelenken zu taktieren an:

»Will ich in mein Gärtlein gehn,
Will mein Zwiebeln gießen,
Steht ein bucklicht Männlein da,
Fängt als an zu nießen.«

Krasny hielt inne, legte den Kopf zurück und wiederholte:

»Fängt als an zu nießen ... als an zu nießen ...«

Alles Boshafte war von ihm abgefallen. Er schien Seligkeiten zu verspüren. Das idiotisch-bittflehende Lächeln, das Ferdinand heute schon öfters erahnt hatte, schleierte mit dem ärmlichen Licht der Parklaterne über sein Gesicht.

Nun aber versuchte er, so schnell es die Zunge erlaubte, weiterzukommen, als dürfe er sich's bei seiner Körperschwäche nicht gestatten, die erschütternde Tiefe dieses Liedes auszukosten:

»Will ich in mein Küchel gehn,
Will mein Süpplein kochen,
Steht ein bucklicht Männlein da,
Hat mein Töpflein brochen.

Will ich in mein Stüblein gehn,
Will mein Müslein essen,
Steht ein bucklicht Männlein da,
Hat's schon halber gessen.

Will ich auf mein Boden gehn,
Will mein Hölzlein holen,
Steht ein bucklicht Männlein da,
Hat's schon halber stohlen.

Will ich in den Keller gehn,
Will mein Weinlein zapfen,
Steht ein bucklicht Männlein da,
Tut mir'n Krug wegschnappen.«

»Ich lasse eine Strophe aus«, verkündete Krasny, ohne seinen Singeton aufzugeben und den zurückgelegten Kopf, der gegen die rechte Schulter schwankte, wieder zu heben. Vielleicht kassierte er den Vierzeiler, weil er ihn nicht so schön fand wie das Übrige, vielleicht aber nur, weil er sich zu schwach fühlte und zu Ende kommen wollte:

»Geh ich in mein Kämmerlein,
Will mein Bettlein machen,
Steht ein bucklicht Männlein da,
Fängt als an zu lachen.

Wenn ich an mein Bänklein knie,
Will ein bißlein beten,
Steht ein bucklicht Männlein da,
Fängt als an zu reden:

Liebes Kindlein, ach, ich bitt',
Bet' fürs bucklicht Männlein mit!«

»Es ist schön«, sagte Ferdinand kurz und hart. Hier war etwas berührt, was sie beide anging, ihn und Krasny. Er fühlte das. Freilich, welche Bedeutung es hatte, war nicht so leicht herauszubekommen. Er wollte es auch gar nicht wissen, und deshalb verhärtete er sich.

Krasny stand in derselben Haltung noch immer unter dem Licht. Im Offiziersmantel sah er aus wie eine unerlaubte Traumphantasie. Er sprach zur Laterne hinauf:

»Nur schön? ... Was wissen Sie davon? ... Es ist das tiefste deutsche Lied.«

Ferdinand widersprach nicht. Ein unangenehmer Nachgeschmack. Wozu mußte er sich in der Nacht dumme Kinderreime anhören? ›Liebes Kindlein, ach, ich bitt ...‹ Naivitäten in Krasnys greulichem Maul. Dieser Mensch machte ihn unglücklich. Er sehnte sich danach, ihn so schnell wie möglich loszuwerden ... ›Bet' fürs bucklicht Männlein mit!‹ Aufreizend naiv! Von der Erde unten stieg scheußliche Nässe in die Beine. Ungeduldig scharrte Ferdinand im Fall-Laub:

»Saukalt ist es schon«, sagte er, um etwas zu sagen.

Krasny war weich geworden. Er lief, schwer atmend, ein Stück Weges neben Ferdinand, der rücksichtslose Schritte machte. Fast demütig kam ein Vorschlag:

»Gehn wir doch in den Säulensaal zurück. Man könnte noch einen Tee mit Rum trinken.«

Ferdinand lachte gegen seinen eigenen Willen schadenfroh:

»Zu spät! Schon elf Uhr. Polizeistunde!«

Die frühe Sperrstunde war Krasnys ärgste Feindin. Sie verlängerte die Armut seiner Nacht. Es war eigentümlich, daß all die Gesellen, die mit ihm im Schattenreich zusammenhockten, keine Vorstellung davon hatten, wie und wo Krasny außerhalb des Cafés lebte. Da er zumeist als Letzter den Säulensaal verließ, wußte der Vorletzte nicht, wohin er sich in der Nacht verlor. Jetzt gluckste er verzweifelt:

»Polizeistunde?! Dann muß man wohl nach Hause gehn.«

›Nach Hause!‹ Diesen Begriff fand Ferdinand in Krasnys Mund noch widerspruchsvoller als das Wort ›Vater‹.

»Wo wohnen Sie denn?«

Gottfried Krasny nannte eine Vorstadt jenseits des Gürtels. Auf die Frage, bei wem er wohne, gab er eine ablehnende Antwort:

»Es ist eine gute Familie. Ich bin zufrieden.«

»Da haben Sie es aber sehr weit nach Haus«, stellte Ferdinand fest.

»Eine Stunde und noch mehr ...«

Und nach einer Weile fügte er sehr hochmütig hinzu:

»Sie können mich übrigens begleiten.«

Das war wieder echt Krasny. Der überhebliche Ton dieser Aufforderung ärgerte Ferdinand ungemein. Der Bosnigel mußte in die Schranken gewiesen werden. Nun setzte er selber eine verächtliche Miene auf:

»Nein! Sie können viel eher mich begleiten. Ich gehe noch in die Kaserne. Und die liegt auf Ihrem Weg.«

Sie standen auf der Ringstraße. Krasny bellte:

»Was fällt Ihnen eigentlich ein? Warum soll ich Sie begleiten? Warum ich Sie?«

Ferdinand sah ihn gar nicht mehr an:

»Dann lassen Sie es halt bleiben!«

Und er schlug, ohne sich weiter um Krasny zu kümmern, die Richtung zur Babenbergerstraße ein. Einen Augenblick lang tobte ehrliche Wut in ihm, über die er sich keine Rechenschaft geben konnte. Aber schon nach einer Minute drehte er sich um und trat auf die Fahrbahn, um einen besseren Ausblick zu haben.

Im stolpernden Zickzack bewegte sich Krasny fort, der einzige Mensch auf der weiten Ringstraße.

Ferdinand sah ihm lange nach. Irgend etwas begann ihm schrecklich leid zu tun.


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