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Drittes Kapitel.
Der Oberst

Ferdinands Erinnerungen an Papa sind sehr zahlreich. Der Oberst dachte daran, aus ihm einen guten Soldaten zu machen. Das militärische Leben sollte ihm in Fleisch und Blut übergehen. So nahm er den vier- und fünfjährigen Knaben schon mit, wenn er die Kaserne und das Regiment inspizierte.

Da waren zuvörderst die Mannschaftszimmer. Papa zeigte und erklärte Ferdinand jede Einzelheit. Die Bettstellen, Kavalett genannt, eiserne Tragen, auf denen der gelbe Strohsack ruhte. Auf dem Kopfende lag das harte Kissen, die Decke und das graue Bettuch streng geschichtet und haarscharf ausgerichtet. Über dem Kavalett waren Bretter in die Wand eingelassen, auf denen die Sachen der Soldaten stramm standen: Eßschale, Kommißbrot, Tschako, Tornister und das zweite Stiefelpaar. Vor jedem Bett ragte der dazugehörige Mann, scharfgespannt bis zum Zerreißen wie eine Saite. Papa liebte nicht die angesagten Inspektionen. Er trat plötzlich und unvorhergesehen in die Mannschaftszimmer ein. Ferdinand ist heute davon überzeugt, daß der Oberst kein Durchschnittsoffizier war. Dafür spricht schon die ungebräuchliche Tatsache, daß er manchmal ein kleines Kind an der Hand führte, wenn er die Räume der Kaserne durchschritt. Offenbar spannten die Soldaten ihren Leib wie eine Saite an, um ihm zu gefallen, um zu beweisen, wie gerne sie unter seiner Führung dienten. Selbst die Missetäter und schwarzen Schafe rissen sich zusammen. Mit der Mannschaft redete der Oberst niemals laut und grob. Er fragte die Leute, ob sie mit dem Essen zufrieden seien, er ging langsam von einem zum andern, musterte jeden eingehend, erkundigte sich nach Lebensumständen und Zivilberuf und nahm dann mit einigen, die ihm gefielen, in freundlich-strengem Abstand eine Unterhaltung auf. Schreien hatte Ferdinand seinen Vater nur ein einziges Mal gehört. Dies aber ereignete sich fern von der Garnison in einem kleinen Hotelzimmer der Provinz.

Wenn der Oberst einen Mannschaftssaal betrat, geschah immer das gleiche. Er blieb einige Minuten mit den Leuten allein – zu diesen Überfällen gehörte ein eigenes Geschick – und stellte sogleich die Frage, ob jemand hier eine Beschwerde zu führen habe. Diese Frage des Obersten entsprang zwar einem guten Herzen, widersprach aber der Vorschrift, die alle Beschwerden in die holprigen Bahnen des Dienstweges verweist. Kaum hatte es sich jedoch gezeigt, daß niemand den Mut zu einer Klage aufbringe, als die Türe sich öffnete und der betreffende Kompagniefeldwebel mit entsetzensrotem Gesicht hereinstürzte. Später stellten sich dann mit verlegener Meldung die Offiziere ein, denen der besichtigte Truppenteil unterstand.

Alle Mannschaftszimmer hatten den gleichen stickigen Geruch, mochten auch tagsüber alle Fenster offenstehen. Es roch nach der warmen gärenden Schmolle des Kommißbrotes, nach der tränentreibenden Beize des Kommißtabaks, nach Stiefelwichse, nach Schmieröl, nach einer bis zur Neige veratmeten Luft, die kein Lüften wieder auffüllen kann, nach schwerem Männerschlaf, der, Nebelschwaden gleich, durchs Zimmer zieht, und nach dem rußigen Schwelen kleiner Petroleumlampen.

Es gab aber Räumlichkeiten in der Kaserne, die Ferdinand mehr zusagten als diese Säle. In den Kompagnieküchen ging es amüsant zu. Riesige Kesseltöpfe standen auf der Feuerstätte, in denen die Suppe mit dem Ochsenfleisch dampfte. Der Koch spießte mit einer großen zweizinkigen Gabel das gewaltige Fleischstück aus dem Kessel, um es dem Regimentskommandanten vorzuweisen. Das Fleisch sah ungemein appetitlich aus, schwarzbraun, dampfend, die Suppentropfen liefen daran herunter, würzigen Duft verbreitend. In der Gewehrkammer zerlegte ein Gefreiter den Verschluß eines Mannlichergewehres. Wunderbarer Anblick, wenn die Eingeweide der feuersprühenden Waffe sich auflösten in feinvernickelte Schrauben, Bolzen, Stifte, Federn! War das Ganze wieder zusammengesetzt, durfte Ferdinand nun das Gewehr angreifen und in der Hand halten. Mit angstvollem, ehrfürchtigem Griff nahm er es und setzte es bei Fuß, wie er es von den Soldaten gesehn hatte. Der Lauf reichte ihm fast bis zu den Haaren. Schwer und hart war das Gewehr, schlank dabei und dichtgefügt aus Holz, aus Metall, zuverlässig und voll Gefährlichkeit, voll ausbruchschwangeren Schweigens, ein starker Freund wie der Oberst. Ferdinand fühlte sich besonders stolz und befriedigt, wenn ihm Papa aus Erziehungsgründen die Waffe in die Hand gab.

Doch auch der Besuch der Stallungen war nicht zu verachten. In wohlaufgeräumten, stets frischgestrohten Boxen standen die Reitpferde der Offiziere. Sie legten ein unzweifelhaft hochmütiges Benehmen an den Tag, indem sie den Besuchern keine Aufmerksamkeit schenkten. Nachlässig stampften sie dann und wann mit den Hinterhufen das Stroh. Ihr Schweif war zumeist in vornehmer Art kupiert, ihr Fell glänzend gestriegelt. Ohne Gier senkten sie ihre verträumten Häupter in die Raufen, um ein wenig vom Heu zu naschen. Der fünfjährige Ferdinand wurde belehrt, daß man sich einem Rosse immer nur von der Seite und nicht von der Krupp her nähern dürfe. Er wurde ferner belehrt, daß die tägliche Gebühr eines Reitpferdes aus soundsoviel Pfund Hafer und Heu bestehe.

Eine ganz andere Klasse aber stellten die Mähren der Bespannung dar. Sie standen in weit weniger gepflegten Boxen, sie stampften und scharrten viel vorwurfsvoller, wodurch sich unterm Stroh manchmal die schwarze Erde lüftete. Ihre Hufe waren breit, ihre Fesseln plump und niemals bandagiert wie bei ihren edleren Brüdern. Mit den langen Schweifen wedelten sie immerzu und fanden es durchaus nicht überflüssig, die Fliegen abzuwehren. Sie nahmen von Besuchern ausgiebig Notiz, indem sie ihre schweren Köpfe langsam umwandten und mit todesernsten Blicken die Kömmlinge maßen. Den kleinen Ferdinand beunruhigten die Blicke dieser mächtigen Tiere. Als er viel später, ein Jüngling schon, zum erstenmal in der wachsenden Dämmerung die Alpen sah, mußte er, ohne zu wissen warum, an die großen Bespannungspferde denken, wie sie langsam ihre Häupter wandten, ihn anzusehen.

Das Entzücken Ferdinands aber bildete »Kedvesch«, das Pony. War Papa besonders gut aufgelegt, so durfte der Stallkorporal aus der Lederkammer den kleinen Sattel holen, und Kedvesch wurde aufgezäumt. Von zwei Infanteristen rechts und links gehalten, umtrabte der Knabe mehrmals den Hof. Über solche Extratouren war Kedvesch sehr erstaunt, denn sein Lebensberuf erschöpfte sich sonst in der Pflicht, das Wägelchen mit der großen Trommel zu ziehen, welches die im herrlichen Takte bebende Abteilung der Regimentsmusik beschließt.

Diese Kasernbesuche waren natürlich kein tägliches Brot, sondern besondere Feste, die Papa seinem Sohne zudachte. Doch Ferdinand war auch mit seinem Zuhause nicht unzufrieden. Die Dienstwohnung bestand aus sieben schönen Räumen, von denen ihm das Herrenzimmer und die Küche die liebsten waren. Im Herrenzimmer hingen Papas Jagdtrophäen mit dem Datumtäfelchen der Erbeutung darunter. Sehr früh lernte der Kleine das Gehörne unterscheiden. Am meisten schätzte er aber den riesigen Steinadler, der über einen Bücherschrank seine schattigen Schwingen breitete. Unerreichbar hoch thronte das regungslose Mysterium dieses Raubvogels und erfüllte die Seele mit gletscherahnendem Respekt. Eines der ersten Gedichte, das Ferdinand kennenlernte, war ein patriotisches Lied und begann mit den Worten:

»Hoch vom Dachstein an,
Wo der Aar noch haust ...«

Dieser Aar – es gab nur diesen einen, denn das Lied nannte ihn in der Einzahl – hatte hoch vom Dachstein an den zauberhaften Flug gerichtet, um nun für alle Ewigkeit in Papas Herrenzimmer zu horsten. Ferdinand zweifelte nicht, daß dem so sei, und fand es ganz in der Ordnung. Von den Möbeln dieses Zimmers sieht der Schiffsarzt den mit Kartenfiguren hübsch bemalten Spieltisch vor sich und einen ostasiatischen Lackkasten, auf dem zwei Porzellanchinesen mit Kopf und Händen nickten. Sie konnten auch die Zunge aus dem Munde strecken, ein winziges, steifes Ding, das wie jede kleine Nachbildung einer Wirklichkeit dem Kinde ein fast lüsternes Vergnügen bereitete. Der wichtigste, ja man kann sagen geheiligteste Gegenstand in diesem Raume aber war der Mignonflügel, an dem Papa täglich zur Dämmerstunde saß, um nach Noten zu radebrechen.

Der Oberst war ein kläglicher Klavierspieler. Doppelt rührend darum, daß er allnachmittäglich irgendwelche Notenhefte auflegte und sowohl mit glühender Hingabe wie mit soldatischer Pedanterie zu stammeln begann, was er nicht besser auszudrücken vermochte. Ferdinand aber nuschelte sich in den Schaukelstuhl. Nichts schöner als diesen stockenden, diesen schüchtern ratlosen Klängen zu lauschen! Nichts süßer, als den Anblick eines Starken im Zustand hingegebener Schwäche zu genießen!

Dies war das Herrenzimmer.

In der Küche aber herrschte Barbara und diente Vojta. Aus Vojta, dem Burschen, versuchte Mama immer wieder einen Herrschaftsdiener zu modeln. Es gelang ihr insoweit, als sich der Offiziersbursche angewöhnte, im Hause nicht des Kaisers Rock, sondern eine blauweiß gestreifte Jacke und bei feierlichen Anlässen sogar einen livrierten Frack zu tragen. Dies war natürlich eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, denn seinem Wesen nach blieb Vojta ein unverbesserlicher Pfeifendeckel, wie man vom Erzgebirge südwärts bis zur Bucht von Cattaro die Offiziersdiener nannte. Er stellte in jeder Weise den Verbindungsmann zwischen häuslichen und Heeresangelegenheiten vor. Als seinen größten Schatz hütete er eine perlmutterbelegte Ziehharmonika, die er in Wäsche gewickelt aufbewahrte. Trotz dieses kostbaren Begleitinstruments sang er aber seine Lieder meist frei. Ihre Zahl war so unübersehbar, daß man den Verdacht nicht abweisen kann, Vojta sei in vielen Fällen sein eigener Textdichter gewesen. Dafür spricht auch der Umstand, daß der launige Inhalt dieser Lieder ausschließlich in wehmütige Weisen gehüllt war. Im traurigsten Moll klagte die Melodie, wenn er sang:

»Putzfleckel,
Pfeifendeckel,
Frißt am Tag drei ganze Weckel.«

Für solchen Unsinn fand selbst Barbara, die Ruhige, ein gnädiges Lächeln.

Das Bildergewebe um Papa strahlt einem Mittelpunkt in goldhellen Farben zu. Dies muß eine der frühesten Erinnerungen des Schiffsarztes sein, denn sie ist begleitet von jenem Lichtgefühl, das in außerirdischer Schwebung zittert. Ferdinand fährt zwischen Mama und Tante Karolin in einem federnden Fiaker durch erregte, fahnenüberwogte Straßen. Der Weg führt zum »Invalidenplatz«, wo die großen Paraden stattfinden. Das Kind weiß nicht, was vor sich geht. Aber seit Tagen herrscht zu Hause eine schußlige Unruhe, und nun umdrängt ein unabsehbares Menschenspalier die schneidige Auffahrt. Da ahnt das Kind, daß sich etwas Großes, etwas Begeisterndes begibt, als vermische sich in diesem windigen Fahnengetümmel der Himmel mit der Erde. Auf dem Invalidenplatz sind reisiggekrönte Tribünen errichtet. Ferdinand wird aus dem Wagen gehoben. Nun sitzt er zwischen den beiden Frauen an der Brüstung einer Loge und sieht die graugrüne Riesenfläche vor sich. Ganz fern stehen die unbewegten Mauern der Bataillone. Kanonenschüsse hämmern ihm gegen das Herz. Da aber, viel furchtbarer noch als die Kanonenschüsse, zerreißt der Schreckensruf einer einsamen Trompete die qualvolle Erwartung: Generalmarsch. Jetzt dringt eine Gruppe von Reitern ein wenig ins Feld vor und versteint sogleich. Alle tragen den grünen Federbusch. Einige Pferdelängen vor der Gruppe aber ist ein Schimmel mit seinem glänzenden Reiter zum Denkmal erstarrt. Wer ist es? Ein Erzherzog, der Kaiser selbst, ein Bote Gottes? Wer es auch immer sei, vor dieser Erscheinung muß alles Irdische hinschmelzen. Tante Karolin stößt einen kleinen Schrei aus und Mama weint. Erschütternd dröhnt die Musik und die Defilierung beginnt. Die rasselnden Blitze der Kavallerie schmerzen und blenden allzu sehr. Ferdinand schließt die Augen und wartet auf Papa. Einsam taucht auf seinem Braunen der Oberst auf. Ihm folgen nur Hornist und Stabsfeldwebel. Die entwickelten Linien des Regiments bleiben weit dahinter. Papas goldener Tschako leuchtet auf. Und jetzt senkt er vor der göttlichen Erscheinung auf dem Schimmel langsam den Säbel. Es ist ein Gruß voll heldenhafter Schönheit und Würde. Auf dem unendlichen Platz scheint der Oberst mit dem erhabenen Reiter allein zu sein. Die Begegnung der Götter, von denen der eine Papa ist, durchschauert das Kind ...


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