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Dreizehntes Kapitel.
Der Verfolger wird verfolgt

Ferdinand wurde von schweren Zweifeln gequält, wie er sich nach dem Vorgefallenen zu verhalten habe. Dem Militärkomitee fühlte er sich nicht mehr zugehörig, nicht etwa, weil gestern von irgendwelchen unbefugten Leuten der Ausschluß über ihn verhängt worden war, sondern weil diese so großartig lautende Einrichtung in Wahrheit gar nicht bestand und sich täglich aus anderen dunklen, verantwortungslosen oder albernen Subjekten zusammensetzte. Weiß war ein schwacher Mann, der nach und nach all seinen Einfluß an Elkan verloren hatte. Ferdinand haßte Elkan. Jedes Wort, das aus diesem Munde kam, war ihm in seiner bewußten Kälte und schartigen Arroganz bis zum Brechreiz widerwärtig.

Für einen jungen Menschen, den das Schicksal in die Begebenheiten hineingezogen hatte, war es nicht leicht, den Mut zu innersten Erkenntnissen aufzubringen. Sonst hätte Ferdinand sich eingestehen müssen, daß alle Hoffnungen der Welterneuerung auf einem taschenspielerischen Betrug der Seele beruhten, der das ordnungsfeindliche Befreiungsgefühl (wie es jeder Untergang stets erzeugt) zum begeisterten Zukunftsglauben umfälschte. Er wäre ferner seiner tiefen Enttäuschung bewußt geworden, daß weit und breit kein Mann zu finden war, dessen Kraft, Eindeutigkeit und wahres Führertum ihm voranleuchtete. Dennoch glaubte sich Ferdinand seiner Pflichten gegen die werdende Zeit nicht ledig. Revolution, sie war ja für ihn etwas ganz andres als die scharfe Phrase von der Machtergreifung, die er tagtäglich aus dem Munde hochmutbesessener Menschen zu hören bekam. Sollte er dafür kämpfen, daß Steidlers Herrschaft von der Herrschaft eines rohen Korporals abgelöst werde? Das war der Sinn nicht, den er vor sich gesehn hatte. Wieder einmal erlebte Ferdinand die Grundsituation seines Lebens, nirgend hinzugehören.

Niemand wird es ihm verdenken, daß er den heutigen Tag dazu benützte, um sich diesen Konflikten zu entziehen.

Es war ihm bisher nicht gelungen, den Aufenthalt Alfred Engländers auszuforschen. Da kam die Karte mit dem Poststempel Amstetten, der die Unterschrift fehlte. Ferdinand aber erkannte auf den ersten Blick Alfreds Schrift. Sie war freilich verstellt oder hatte sich durch die Krankheit beängstigend verändert. Die Sätze liefen in großen Abständen schief abwärts:

   

»Suche mich nicht, denn du wirst mich nicht finden!
   (Dies ist der Sinn der Zerstreuung, daß wir uns nicht finden dürfen.)
Verfolge mich nicht, denn du selber bist verfolgt!
   (Die Mörder sind dir auf den Fersen. Du aber bist
            kein Läufer, sondern ein Kind an
               der Hand einer alten Frau.)
Mir geht es von Tag zu Tag besser –
Je mehr ich Sein Sohn bin, um so mehr ist Er mein Vater,
Ich bin in Ihm und Er in mir.
Wir beide grüßen dich.«

   

Poststempel Amstetten! Ferdinand wußte von einer Anstalt, die an der Westbahnstrecke lag. Zwar verbot ihm der Kranke in den dunklen Worten dieser Korrespondenzkarte den Besuch. Dennoch machte er sich sogleich auf.

Der Bahnhof war diesmal nur von wenigen roten Soldaten und Frontheimkehrern besetzt, dafür aber machte sich ein düstergrindiges Lumpenpack in Montur breit, das auf Raubgelegenheit lauerte. Ein Fahrplan bestand nicht mehr. Wenn es dem Himmel oder einem Lokomotivführer gefiel, wurde eine Zugsgarnitur abgelassen. Kleinlaute, verschreckte Menschen warteten in langen Reihen auf dem Bahnsteig. Männern und Frauen hing der Rucksack übers gebogene Kreuz. Es hatte den Anschein, als dienten all diese Rückenlasten keinem Ernährungszweck, sondern wären das Symbol einer Strafe, das ein ganzes Volk (als Joch der Sklaverei) am Buckel tragen mußte. Tauchte irgendwo ein strafferer Sack oder gar ein Gepäckstück auf, so traten die borstigen Gesellen in Tätigkeit, fuchtelten mit den Gewehren, beschlagnahmten die Eßwaren oder hoben auf eigene Faust und nach sonderbaren Tarifen Strafsummen, Steuern und Zölle ein.

Auf jeder kleinen Station wiederholte sich das gleiche. Im Zuge selbst waren die Menschen zusammengepreßt und zusammengestampft wie getrocknete Fische. Alle reckten unablässig die Köpfe, um wenigstens im oberen Luftraum einen Atemzug von Freiheit zu erschnappen. Kein Haß, keine Ungeduld, ja nicht die leiseste Spur einer seelischen Regung zeigte sich auf den Gesichtern, sondern nur das stickige Brüten physischer Qual. Jeder löschte sein Bewußtsein aus, so gut es ging, um nichts zu sein als eine leblose Sache, ein Stück umhergeworfener Schwere.

In diesen Tagen traf irgendeine regierende Allgerechtigkeit schleunig ihre letzten kosmischen Verordnungen, um die Rückstände zu erledigen. Zwölf Millionen Männer waren an den Fronten umgekommen, das Hinterland aber immerhin am Leben geblieben. Ein Ausgleich mußte geschaffen werden. So wurde denn in dieser Stunde, da der Waffenstillstand allenthalben schon unterfertigt war, die Lungenpest oder Spanische Grippe in die Großstädte detachiert, um das Gleichgewicht einigermaßen herzustellen. Ein neuer Ausverkauf des Todes trat ein. Das Fatum warf ihn den Leuten zum herabgesetzten Preise einer mittleren Offensive nach.

Aber auch die Erde mit ihren Landschaften schien von dem Untergang ergriffen, der über die Menschen verhängt war. Nicht teilnahmslos rollte der Planet dahin, wiewohl es ihm nicht viel bedeuten konnte, wenn das juckende Ungeziefer in seinem Pelz hungerte und krepierte.

Ferdinand spürte, daß die Hügel, die Berge, die Waldungen, die Heiden, die Stoppeläcker, daß alles in diesem geheimnisvollen November anders aussah, als es je ausgesehen hatte. Jeder Stein, jede Scholle starrte wie ein vorwurfsvoller Kadaver zum Himmel. Schlaffe, gähnende, wäßrige Melancholie schleppte über die herbstsumpfigen Flächen. Die einzige Kraft, die sich eifrig und zur vollen Zufriedenheit der Todesgötter bewährte, war die Fäulnis. Selbst die Straßen wollten sich auflösen, damit endlich Ruhe sei. Schleimige Wolken hingen herab wie ein überirdischer Schnupfen. Niemals noch hatte man auf allen Wegen soviel eklig-schwarze Schnecken kriechen gesehen.

Auch auf der Chaussee, die zu Ferdinands Ziel führte, konnte man kaum im Schlamm weiterkommen. Als er dann endlich vor der Umfassungsmauer der Anstalt stand, war es ihm unwiderleglich klar, daß er Engländer hier nicht finden werde. Nur um sich diese Klarheit bestätigen zu lassen, läutete er und zog die Erkundigung ein. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Besser so! Erleichtert atmete er auf. Sein Herz war voll Furcht vor dem Anblick des Kranken gewesen.

Der Rückmarsch zum Bahnhof der kleinen Stadt ging weit schneller vonstatten als der Weg zur Anstalt. Ferdinand hatte Glück. Gerade, als er den Perron betrat, fuhr ein Zug ein. »Richtung Wien«, plärrten die Schaffner. Wie Fliegentrauben hingen die Menschen draußen auf Trittbrett und Plattform. Ein brutaler Bauernbauch preßte Ferdinand ins Innere eines Wagens. Nun stand er, nach Atem schnappend, auf dem Gang. Zwei gelbhäutige Wickelkinder, von verzweifelten Müttern geschützt, winselten zwirnsfadendünn. Ein schlechter Einfall war's, im Jahre 1918 zur Welt zu kommen. Auf runzligen Schädeln saßen verschobene Häubchen. Niemand machte den armen Frauen Platz. Wer saß, saß.

Sooft der lange Zug sich in Bewegung setzte, glich es einem Eisenbahnunglück. Die Wagen krachten gegeneinander, die Puffer stöhnten, die Bremsen kreischten und die zerbrochenen oder mit Papier verklebten Fensterscheiben klirrten hell. Jeder Lokomotivführer dazumal schien sich in einen grausamen Menschenfeind verwandelt zu haben, dessen Hauptvergnügen es einesteils war, die Zeit tückisch zu vertrödeln, und andernteils, seinen Zug über alle schmerzhaften Weichen hurtig hopsen zu lassen wie einen besoffenen Bock. Dann wurde die Insassenschaft des Waggons durcheinandergeschleudert gleich den Schachfiguren eines beendeten Spiels. Bei dieser Gelegenheit fiel Ferdinand höchst unsanft einem Herrn in die Arme, der im Winkel vor der Wagentür festen Stand gewonnen hatte. Ein Offizier, nicht feldgrau, sondern im flaschengrünen Rock. Kappe in der Hand. Etwas abstehende Ohren. Verschwollene Augenlider. Der Schreck rollte in Ferdinand nach wie ein Donner im Gebirge. Steidler aber schien hocherfreut: »Da schau her ... So was ... No, da legst di' nieder ... Der R.! ... Servus, grüß dich Gott ...«

Ferdinand sagte kein Wort, entzog aber seine Hand nicht dem Feinde. Der besann sich: »Ach so ... Ach so ... Zwischen uns ist eine Affär ... Ich bitt dich ... Tempi passati ... Hast eine Ahnung, wieviel Affären ich hab ... Wir sind doch Mitschüler ... Ich hab mich zu dir hochgradig kameradschaftlich benommen ... Aber wirklich ... Kann mir nichts vorwerfen ... Wär der Colombo dagewesen, der hätt dich anders uminstradiert ... Bei dem hat's keine Spaßettln gegeben ... Was willst du? ... Schaust aus wie's Leben ...«

Letzteres war eine Übertreibung. Dennoch sah Ferdinand im Vergleich zu Steidler fast wirklich »wie's Leben« aus. Das Gesicht des Hauptmanns war beinahe so flaschengrün wie sein Waffenrock. Die Augen steckten in blauschwarzen Mulden, die entweder von schweren oder von lotterhaften Erlebnissen sprachen. Keine Spur mehr von der Festigkeit des allmächtigen »stellvertretenden Generalstabchefs« von Kolkow. Steidler ähnelte jetzt unglaublich dem Kadetten in Ferdinands Erinnerung. Wie ein feinmaschiges Netz warf er seinen endlosen Schwatz über den Kopf des ehemaligen Opfers:

»Wo kommst denn her? ... Ich komm aus Innsbruck ... Nicht direkt ... Drei Tag war ich bei Salzburg ... Hab ein paar Freunderln dort ... Aproposito Innsbruck ... War nicht mehr auszuhalten ... Unsere herrlichen Bundesbrüder sind dort eingerückt ... Aber nicht Schulter an Schulter ... Sondern als erklärte Feinde ... Waren nie was andres ... Mit denen hab ich so G'schichterln erlebt in der Praxis ... Eine bayrische Division unter Generalleutnant Krafft von Delmensingen!«

Und er trompetete noch einmal:

»Krafft von Delmensingen ... Das kracht nur so, was? ... Jeder Name ein Volltreffer ... Also, da kommen wir dagegen nicht auf ... Kannst dir vorstellen, daß einer bei uns Krafft heißt? ... Und noch dazu als Vorname? ... Der wär bei jedem Kommando unmöglich, der Kraftprotz ... G'freuen tut mich nur, daß sie mitsamt ihren Kraffts den Krieg verloren haben gradso wie wir ... Und dabei haben sie keine Böhm' g'habt ... Von mir aus ... Mich kann die ganze Ramasuri ...«

Ferdinand sah Steidler aufmerksam an. Vorhin hatte ihn ein eigenartig elektrischer Schreck durchzuckt. Jetzt aber verstand er's nicht mehr, daß ihm dieser zerfahrene Schwätzer hier Angst einjagen konnte. Sein ewiger Widersacher enttäuschte ihn. Unmöglich, dieser junge Mann war nicht der Generalstabshauptmann von Kolkow. Damals hatte Steidler scharf, teufelsklug und sachlich gesprochen, ohne den widerlichen Offiziersjargon zu übertreiben. Heute konnte er sich an Näseln, Silbenziehen und Artikelvertauschen nicht genug tun. Der Mensch war nicht mehr gefährlich, sondern nur lästig. Das tat Ferdinand fast leid. Da indessen das Gedränge in dem Wagengang noch unentrinnbarer geworden war, blieb ihm nichts andres übrig, als Steidler weiter anzuhören:

»Mir scheint, wir kommen immer nur durch Zusammenstöß miteinander in Berührung ... Ich glaub, du bist ein nachtragerischer Mensch ... Also schau, ich könnt auch nachtragerisch sein ... zu dir ... du weißt eh' ... Aber fallt mir gar nicht ein ... Ehrenstandpunkt? ... Oh Jegerl! ... Wer so in die Latrin g'schaut hat wie ich ... Ich war, weiß Gott, im Krieg nicht der Letzte ... Meine Beschreibung ist die beste vom ganzen Jahrgang ... Der Waldstätten kennt mich genau ... Oben steh ich fabelhaft da ... Der Arzt hätt mich sicher g'halten, wenn der Ehrenrat in Funktion getreten wär ... No, besser so ... Ich hab meinerseits gar nix gegen den Mordspallawatsch einzuwenden ... Die Gottheiten sollen nur schön die Kochkiste Muster vierzehn auslöffeln ... Was geht's uns an ... Kennst du den Obersten Bubenik von der vierundzwanzigsten Schützendivision  ... Aber ja ... Kennt jedes Kind ... Der war der präsumtive Vorsitzende des Ehrenrats ... Vorher hat er sich noch schnell erschossen ... Weißt warum? ... Wegen Widersetzlichkeit eigener Truppen ... Alle diese Ehren-Pimpfe hätten sich längst schon erschießen müssen ... Da siehst du, wie ich's auffass' ... Also sei nicht nachtragerisch!«

»Bin ich gar nicht«, sagte Ferdinand. Die Vergangenheit, der Krieg war unendlich gleichgültig geworden. Warum sollte er diese wieder zur Null zusammengeschrumpfte Null hassen? Höchstwahrscheinlich hätte der einst aufgeblasene und jetzt geplatzte kleine Gauner damals gar nicht anders handeln können. Auch er war nur Maschinenteil gewesen. Ferdinand spürte nicht die leiseste Rachsucht, sondern immer wieder Enttäuschung, sonderbare Enttäuschung. Steidler legte ihm die Hand auf die Schulter:

»Wirklich, du g'fallst mir ... Man sollt sich öfters sehn ... Was, du fahrst nach Wien? ... Ich fahr auch nach Wien ... Bißl sondieren ... Du als Zivilist hast es ja leichter ... Unsereins aber muß sich umgruppieren ... Wird schon gehn, als Generalstäbler mein ich, als Elite ... Haben tu ich nix, von zu Haus nämlich ... Und du? ... Ach so, weiß schon, dein Alter ist längst tot ... Aber die Mama vielleicht? ... No, wie's is, is es. – Froh bin ich eigentlich, aus dem Kommiß herauszukommen ... Wenn man sein Lebtag nix andres g'sehn hat ... Zum Speiben, sag ich dir ... Du weißt ja selbst ... In Wien werd ich in den Jockeyklub gehn ... Hab dort massenhaft Attachements ... Die Leut dürften übrigens ganz parterre sein ... Der böhmische Großgrundbesitz ist total futsch, wie man sich ausrechnen kann ... Ich spitz viel mehr auf die Industrie ... Kennst du die bekannte Textilfamilie Glückauf in Göding? ... Nein? Aber geh ... Ein Sohn von denen war bei mir im Stab eingeteilt ... Freiwilliges Auto ... Ich hab ihn g'halten ... Der Alte hat buchstäblich vor mir gekniet, daß ich den Judenbuben nicht transferieren laß ... Eine Tochter war auch mit, ein Mädel, sag ich dir ... Also, wenn ich reflektiert hätt ... Man muß nur die Juden kennen, wie sie zueinand sind ... Imponierend ... Wer als Jud auf die Welt kommt, der hat 'ausg'sorgt ... Dabei ist das nur ein Fall von hundert ... Zum Beispiel den jungen Iserstein vom Spirituskartell hab ich auch bei mir g'habt ... Mit der Industrie steh ich überhaupt sehr gut ... Da hab ich keine Angst ... Hast eine Ahnung, was für Versprechungen ich in der Tasch'n hab ... Nein, nein, ich muß nur zugreifen ... Verstehst? ... Ich, als Generalstäbler ... mit dera Vorbildung ... Was? Wir sind schon in Hütteldorf?«

»Ja«, sagte Ferdinand, »und Sie haben eine sehr auffällige Uniform.« Um alle Welt hätte er kein »du« hervorgebracht. Steidler verstand die Warnung nicht gleich:

»Ich hab halt das Bedürfnis g'habt, bißl anständiger equipiert in Wien einzurücken ... Aus is ja ... Da kann man sich wieder friedensmäßiger adjustieren ... Es is ein uralter Waffenrock ...«

»Wo haben Sie denn die letzten Tage verlebt? Außerhalb der Welt wohl?«

»Stimmt! Auf einem Prachtschloß ...«

»Ich rate Ihnen, nehmen Sie die Rosette von der Kappe, schneiden Sie die Sterne ab, oder schlagen Sie wenigstens den Mantelkragen auf! Ein Wunder, daß Sie so durchgekommen sind.«

Für einen kurzen Augenblick kehrte der alte Steidler in das zerlaufene Gesicht zurück:

»Ich hab ja eine freie Auffassung ... Aber heruntergeschnitten wird nix ... Da bin ich doch zu sehr Offizier ... Hörst? ...«

Nach einer Weile jedoch schlug er den Kragen hoch.

Der Zug hopste ein letztes Mal über widerspenstige Weichen und fuhr in die Halle. Ferdinand hatte geschickt die Möglichkeit abgelauert, um als erster durch die Wagentür zu entkommen. Er sprang mit einem mächtigen Satz ab. Nur fort! Hinter ihm näselte die Stimme:

»Geh! Wart auf mich! Brenn mir nicht durch!«

Ferdinand drängte sich rücksichtslos durch die Flut trauriger Rucksäcke. Er hoffte Vorsprung zu gewinnen. Glücklicherweise würde Steidler durch sein Gepäck aufgehalten werden. Die Masse aber erwies sich, je näher man dem Ausgang kam, so zähe, daß Ferdinand auf seine Eile verzichten und sich willenlos weitertreiben lassen mußte.

In der Vorhalle des Bahnhofs schon hatte ihn Steidler eingeholt:

»Was desertierst mir denn? ... Schau, das ist nicht schön von dir ... Man könnt sich amal aussprechen ... Hast was dagegen? ... Alte Schulkameraden ...«

Steidler trug nur eine Aktentasche in der Hand. Ferdinand fragte ihn nicht ohne Interesse:

»Wo haben Sie denn Ihr Gepäck?«

»Das ist dir ein Breigel mit dem Glumpert ... Ich hab beim elften Armeekommando unterg'stellt ... Muß halt warten, bis alles ans K. M. instradiert ist ... Zahnbürschtl samt feldmäßiger Nachtausrüstung hab ich in der Tasch'n ... Hauptsach sind die Moneten ... Und da kann ich vorderhand nicht klagen ... Geh, komm mit mir auf Lepschi ... Also logischerweise bist eing'laden ... Den Vintschi Traisdorf gabel ich noch auf ... Mit dem wird's immer a Hetz ... Lothringer Dragoner ... Jetzt sitzt er sicher schon im Bilderlsalon von der Sacher ... Sag ja!«

Ein klebriger Kerl! Eine unappetitliche Klette! Bis zur Mariahilferstraße geh ich noch mit. Dann spring ich auf die nächste Elektrische. Steidler wurde immer heiterer. Er schob seine Hand unter Ferdinands Arm:

»Da schau her ... Kolossal, dieses Wien ... Was nur die Leut wollen? ... Vor einem halben Jahr war ich auf Urlaub ... Damals war's ruhiger ... Das Leben heut! ... Und man spürt doch die Kultur ... Was sagst du? ... Die deutschen Brüder mit alle ihre Kraffte haben so was nicht ... Meinst nicht auch?«

In dieser Stunde konnte man mit den wohlwollendsten Augen kein Zeichen der gepriesenen Kultur entdecken. Der Platz war zwar von Menschen überfüllt. Aber diese finstere und hungernde Menge schien auf Beute zu lauern. Es mochte noch nicht sechs Uhr sein, dennoch stand kein Laden mehr offen. Viele Geschäftsleute öffneten überhaupt nicht mehr, und wenn, so nur auf eine Stunde. Die Dunkelheit, die von den sparsamen Bogenlampen nicht gemildert, sondern verschärft wurde, hatte etwas Mörderisches, Atemberaubendes! Steidler schien von dieser Stimmung ganz unberührt zu sein:

»Wenn ich zur Industrie geh, bleib ich nur in Wien ... Das schwör ich dir ... Fallt mir ein, mich nach Göding, Nikolsburg oder Pardubitz zu setzen! ... Ich komm nur für die Zentralen in Betracht, als Generalstäbler, mit meiner Beschreibung ... Als Elite der Armee ...«

Die Mariahilferstraße war erreicht. Auf der Schutzinsel lärmte eine dichte Horde von Soldaten. Steidler hatte das Monokel eingeklemmt und drehte sich nach einer jungen Mannserscheinung um, die in einem sehr eng gegürtelten Taillenrock vorüberging:

»Hast g'sehn den Burscherl ... So was ...«

Da löste sich ein Soldat von der Horde und kam langsam auf die beiden Offiziere zu, indem er ihnen den Weg abschnitt. Durch dieses gefahrdrohende Näherkommen gebändigt, blieben sie regungslos stehn. Der Soldat wandte träge den Kopf zu den übrigen zurück:

»Geh, hörst Turl, kumm her! Is dös net der Medinger?«

Und er nagelte mit seinen kleinen Strolchs-Augen Steidler fest. Indessen schlenkerten ein paar andere ebenso langsam herüber wie der erste. Einer zündete sich umständlich die Zigarette an, wobei er knurrte:

»Wos? Der Hauptmann Medinger von die Neinavierzger? Dar Hund, dar verdächtige? Der Medinger? Auf den wart ich scho lang.«

Je mehr Kerle herantrotteten, um so enger zog sich der Ring zwinkernder Begutachtung um Steidler und somit auch um Ferdinand:

»Is dös der Medinger? ... Schauts her, es is der Medinger ... Dös war a Hauptanbinder ... Der Tachenierer, dar verkummene ...«

Steidler flehte mit einer gicksenden Stimme:

»Ich bin der Hauptmann Karl Steidler vom Generalstab. Bitte lassen Sie mich weitergehn!«

Genußvolles Gelächter. Dann viele Stimmlagen:

»Halts Mäul, blader Hund ... Dös kunnt a jeder sagen ... Du bist der Medinger ... Ein Hund wie dar andere ... Dös san zwa Reakzanähre ... Der Medinger hat no seine Sterndln, dar Hund ... Hörst, Franzl, schmier ihm eine ... A wos?! A Fotzen is net gnua für den Hund, den Medinger ...«

Das Folgende geschah sehr schnell. Steidler erhielt mehrere Faustschläge ins Gesicht. Blut stürzte ihm aus der Nase. Er brüllte auf: »Wache! Zu Hilfe!« Dann aber warf er sich mit wütender Kraft gegen den Ring. Ein Soldat, von einem berechneten Fußtritt in den Unterleib getroffen, taumelte jammernd zu Boden. Einige Bajonette blitzten in der schwarzen Luft. Steidler aber war frei und rannte schon, um Hilfe brüllend, die Fahrbahn der Mariahilferstraße entlang. In diesem Moment traf Ferdinand ein furchtbarer Stoß im Rücken, der ihn langhin vorwärtsschleuderte. Fast wäre er gefallen. Im Stolpern aber riß er sich auf. Und nun rannte auch er. Die denkwürdige Jagd, die er nie vergessen wird, begann.

Schon mit den ersten Sprüngen hatte er Steidler überholt. (In der Militärschule war Ferdinand einer der besten Läufer gewesen.) Nun warf er einen Blick zurück. Nur fünf oder sechs Mann hatten die Verfolgung aufgenommen. Der Vorsprung schien groß genug und die Flucht nicht aussichtslos. Man mußte zur rechten Zeit einen Haken schlagen und in einer finstern Seitengasse verschwinden. Hoffentlich ist Steidler so gescheit und wählt eine andere Gasse für sich. Diesen Plan klar zu ersinnen, gelang Ferdinand noch, dann aber ging sein Verstand in dem aufgewühlten Instinktleben unter.

Viele Welten durchschnitten einander wie farbige Scheiben. Da war vor allem der Körper. Oho, sein Körper war gut, gut die Lunge, gut das Herz; es klopfte wild, aber gleichmäßig. Mit Entzücken wurde während dieses Todeslaufes Ferdinand seines Körpers bewußt. Kein Schweißtropfen stand ihm noch auf der Stirn. Seine Jugend durchdrang ihn wie ein frisches eisiges Getränk. Er zog die Knie hoch und schleuderte die Beine weit vor. So hatte er's als Knabe getan, so konnte er auch heute noch, die Ellbogen in die Seiten stemmend, dauerlaufen, dauerlaufen wie im Traum. Für blitzwinzige Sekunden vergaß er sogar den Soldatenlärm in seinem Rücken, obgleich es jetzt nicht mehr fünf und sechs, sondern hundert und tausend zu sein schienen.

Es störte, daß die Fahrbahn, die Rennbahn nicht ganz leer war. Man mußte den Lastwagen und den Elektrischen ausweichen. Aber diese Hindernisse warfen sich ja auch den Verfolgern entgegen. Und dann die Menschen, die komischen Menschen! Er konnte ja von den Passanten der Mariahilferstraße nicht gut verlangen, daß sie ihm halfen oder zumindest wegsahen. Dennoch, ihr kaltes Spalier bildete fast eine erbarmungslosere Macht als die Soldaten da hinten mit ihren Bajonetten und Faschinmessern. Es war offenbar keine wohlwollende Neutralität, die nun die Mariahilferstraße den Flüchtenden erwies. Ferdinand glaubte, daß hinter seinem Lauf die Menge mit den Soldaten gemeinsames Spiel mache und sich anschließe. Aber nicht nur die Menge, auch die Häuser rotteten sich in seinem Rücken zusammen und rannten und hetzten ihn mit. Dabei hätt ich's so leicht gehabt! In meiner Tasche trag ich doch immer das Band von der Roten Wehr. Ich Esel! Jetzt fällt mir das ein. Vielleicht wär's aber ein Unsinn gewesen ... Wie lang lauf ich schon? Ich dreh mich gar nicht um. Man hört sie genau. Bis zur Kaserne könnt ich nicht kommen. Wenn nur der Steidler nicht so blöd ist und dasselbe macht wie ich ... Dort steht ein Schutzmann und rührt sich nicht. Die nächste Gasse!

Ferdinand machte eine wilde Wendung und fuhr in eine Menschengruppe auf dem Trottoir, die auseinanderstob. Dann lief er durch eine völlig finstere und leere Gasse. Sind sie hinter mir? Er horchte. Farbige Fetzen peitschten seinen Kopf. Ja, sie kommen. Das Pflaster klapperte. Immer dichter schnob es heran. Schluß!

Eine schmale Haustür stand offen. Ferdinand fiel in sie wie in schmutziges Wasser. Er stolperte über ein paar Stufen und blieb, sich gegen eine naßkalte Wand stützend, liegen, um sein Schicksal zu erwarten.

Der Lärm draußen schien gewaltig zu wachsen. Die Verfolger hatten alles gesehn. Einer von ihnen stürzte ihm nach in das alte Haus. Jetzt aber stolperte auch er über die unsichtbaren Stufen und fiel über dem Körper, der im Winkel keuchte, zusammen. Sein Kopf sank auf Ferdinands Brust. Einige Minuten lang sprach nichts als der Atem der Gehetzten, der in schnappernden Stößen eine grausige Geschichte erzählte. Kein Laut unterbrach die Nacht vor der Tür.

Ferdinand machte eine Bewegung, um aufzustehn. Mit einem verbissenen Aufschrei umklammerte Steidler krampfhaft seine Hände:

»Um Gottes willen, bleib liegen ... Sie sind draußen ... Sie passen auf ...«

»Sie sind nicht draußen ... man müßte es hören ...«

»Pst ... Grad die Stille ist ein Zeichen, daß sie uns abpassen ... Schweig ... rühr dich nicht ... Jesus Maria ...«

»Sie sind nicht mehr draußen«, sagte Ferdinand noch einmal und machte einen neuen Versuch, sich zu erheben. Steidler zerkratzte ihm die Hand:

»Ich fleh dich an, ich beschwör dich beim Leben ... beim Leben von was weiß ich ... beim Leben von deiner Mama, rühr dich nicht, bleib liegen, um Gottes willen!!«

Das Gesicht des Jugendfeindes näherte sich in Todesverzweiflung den Wangen Ferdinands. Es war überströmt von Tränen, Blut und Schweiß. Ferdinand bog den Kopf weg. Und doch, in der Annäherung der unsichtbaren pulsierenden Wärme lag etwas Kindhaftes, Verschollenes, an Rasenspiele Erinnerndes.

In der Höhle ihres Versteckes stieg langsam jetzt ein Licht auf. Die Stimme des Hausbesorgers empörte sich:

»Was ist das hier, meine Herren, für ein G'hörtsich?«

Aus Steidlers Worten war der Offiziersjargon fortgeblasen. Er bettelte:

»Lieber Freund! Haben Sie ein Einsehn. Wir sind Offiziere. Draußen steht Mannschaft und will uns umbringen ...«

Der Hausmeister trat gemächlich auf die Straße, blickte sich um und berichtete, daß nichts zu sehn sei:

»Alsdann, meine Herren, machens keine Gspaß ... Ich fordere Sie auf ... denn ich muß jetzt zuspirrn ... bei die unruhigen Zeiten ...«

Steidler schwankte hoch. Er schien langsam zu sich zu kommen:

»Ich muß hierbleiben ... Sie können mich nicht auf die Straße werfen ... Die Mannschaften bringen mich sicher um ... Mein Name ist Steidler, Generalstabshauptmann ... Ich mache Sie verantwortlich ... Sie sind mein Mörder ...«

»Da kann man halt nix machen ... Also bitte, meine Herren ... Ich bin für das Haus verantwortlich ... Krawalle gibt's den ganzen Tag ... Jetzt muß ich zuspirrn ...«

Steidler preßte den Rücken an die Wand:

»In Uniform kann ich das Haus nicht verlassen ...«

Ferdinand mengte sich ein:

»Können S' vielleicht dem Herrn einen Zivilrock verschaffen?«

Der Hausbesorger holte voll Befriedigung zu einem Glaubensbekenntnis aus:

»An Zivil verschaffen, ich? ... Mein lieber Herr ... Ich war drei Jahr mit meiner halberten Lunge beim Militär ... Und da bin ich alle Tag bei die großen Herren bittlich geworden, daß sie mir an Zivil verschaffen ... Was glauben S' hat mir das g'holfen, mein lieber Herr? ... An Dreck!«

Ferdinand zückte einen Geldzettel:

»No, vielleicht wissen S'jemand andern hier im Haus.«

Der Mann steckte das Geld ein und bewahrte ein nachdenkliches Schweigen, um den Übergang zu schaffen. Dann zweifelte er: »Ob's gehn wird? ... Vielleicht der Herr Offizial ...«

Letzteres fragte er sich selbst. Ferdinand forschte dringlicher. Er bekam Auskunft:

»Der Herr Offizial Deierl im dritten Stock.«

Durch eine zweite Gabe ermuntert, erbot sich der Hausbesorger, die Herren zu dem Offizial im dritten Stock zu führen.

Deierl, ein grauer Junggeselle, besaß ein altösterreichisch-monarchistisches Beamtenherz, aber keine dementsprechend glanzvolle Garderobe. Immerhin fand er sich sofort bereit, dem gefährdeten Generalstabshauptmann auszuhelfen. Wenige Minuten später trug Steidler einen unglaubwürdigen Kaiserrock aus dem Jahre 1885 auf seinem eleganten Leib und dazu eine braune Reisekappe. Kragen und Krawatte bekam er nicht. Langsam löste er die Salonsporen von seinen Lackstiefeletten. Der Generalstabsoffizier, der mit der Hoffnung auf eine glänzend durchjuxte Nacht in Wien eingetroffen war, sah nun aus wie eine verkommene Vorstadtgestalt.

Hinter den beiden raschelte der Schlüssel im Torschloß.

»Es ist besser, wenn wir uns hier trennen. Gehn Sie auf die andere Seite«, sagte Ferdinand.

Steidler zog die schreckliche Reisekappe. Sein Gesicht war noch immer verschwollen und schmutzig. Seine Ohren schienen mehr wegzustehn als früher. Er schluckte mehrmals, als wolle er etwas sagen, wage es aber nicht. Sein Mund verzog sich weinerlich. Dann reichte er dem alten Mitschüler sehr zaghaft seine Hand.

Ferdinand schlug sie nicht aus.

In der Straße, in der Ferdinand wohnte, gab es ein kleines Kaffeehaus mit roten Plüschmöbeln, wo die Spießbürger der Gegend am Nachmittag ihren Schwarzen tranken und auf die Abendblätter warteten. Er selber war hier noch nie eingekehrt. Jetzt aber, eine Viertelstunde nach dem wüsten Erlebnis mit Steidler, trat er in die kleine Wirtschaft. Er hatte geglaubt, sein Haus, das noch einige Minuten fernab lag, nicht mehr erreichen zu können, denn Kopf und Beine versagten. Ihn quälte ein rasender Durst. Ganz zerbrochen fiel er auf einen Stuhl beim erstbesten Tisch. Kaum aber hatte er ein Glas Bier hinuntergestürzt, als sich große dicke Wurstfinger vor seine Augen schoben:

»Guck, guck ... Wer ist das?«

Ferdinand stieß die Hände fort. Koloman Spannweit warf sich auf das Plüschsofa. Sein krachendes Lachen schlug dem Erschöpften ins Gesicht:

»Da staunen Sie, was? ... Hab mir gleich gedacht, daß hier Ihr Stammlokal sein muß ... Warum? ... Sie wohnen ja um die Ecke ... No? ... Natürlich weiß ich das ... Alles weiß ich ... Vielleicht hab ich Ihnen sogar hier aufgelauert ...«

Er lachte neuerdings gewaltig, als wäre das ein unerträglich guter Witz. Ferdinand verkrampfte die Fäuste. Daß er in seiner Verfassung mit diesem ordinären Wanst sprechen mußte, das war eine der ausgepichtesten Teufeleien des Schicksals. Der Schweiß, der seinen ganzen Körper bedeckte, begann sich eisig bemerkbar zu machen. Seine Glieder schnapperten. Spannweit bemerkte nichts:

»Mir scheint, Sie glauben mir nicht, daß ich hier auf Sie gelauert hab ... Ja, warum soll man nicht den Wunsch haben, mit einem reizenden Menschen zu reden? ... Das sind nämlich Sie ... Nun, Sie müssen keine Angst haben ... Ich hab nicht auf Sie gelauert, sondern nebenan in der Redaktion vom ›Gerichtssaal‹ zu tun gehabt ... Eine Zigarre?«

Er hielt Ferdinand seine goldbeschlagene Tabatiere hin:

»Herr, das sind Partagas ... Überlegen Sie sich's ... So was kriegen Sie in ganz Mitteleuropa nur von mir ... Ach so, Sie sind Zigarettenraucher ... Was Sie für einen Durst haben ... Das dritte Bier ... Skaal ... So sagen wir nordischen Wikinger ... Die Sachsen sagen: Pröstchen ... Die Alemannen: G'sundheit ... Und westliche Kulturvölker sagen überhaupt nichts ... Hören Sie, ist Ihnen in letzter Zeit gar nichts aufgefallen ... im Säulensaal zum Beispiel?«

Ferdinand preßte die Lippen zusammen, um sein Zähneklappern nicht zu verraten. Er sandte einen angestrengten Frageblick aus, Spannweit verwunderte sich weiter:

»Also, Sie haben gar nicht bemerkt, daß ich schon eine Ewigkeit nicht mehr dort verkehr?«

»Ich komme auch nur sehr selten hin«, sagte Ferdinand wahrheitsgemäß.

»Recht haben Sie ... Ein hübscher junger Mann hat Beßres zu tun ... Schaun Sie, ich bin gewiß nicht hochmütig, aber ich hab doch schließlich eine Position zu wahren ... Früher hätten Sie den Säulensaal kennen sollen ... Wie ich noch mit den großen Politikern dort gesessen bin ... Täglich hab ich im dreizehner Jahr mit Trotzki Schach gespielt ... Aber heute? ... Herr Weiß, ich bitte Sie, alle Achtung, aber ... Ich bin ein guter Revolutionär  ... Beweis, meine Tätigkeit ... Wenn Sie nächstens zu mir kommen, werd ich Ihnen Briefe zeigen, die Jaurès an mich geschrieben hat, denn ich bin nicht von heut ... Aber ihr kennt die Verhältnisse ja gar nicht ... Man muß nach Wien gekommen sein wie ich, ohne Brot auf Hosen, um die Stadt zu verstehn ... Narren werden hier nichts ausrichten ... Unter den Sozialdemokraten sind doch ein paar große Männer ... Der alte Viktor Adler, da muß man eine Verbeugung machen bis zur Erd hinunter ... Recht haben Sie, wenn Sie nicht mehr im Säulensaal verkehren ... Um Sie wär's schad ... Was ist Ihnen denn?«

»Nichts! Es wird schon vorübergehn.«

Spannweit schenkte dem Zustand Ferdinands keine eingehendere Beachtung:

»Mir kommt vor, Sie haben sich nur verirrt ... Hab ich recht? ... Ich mach mir nämlich sehr oft Gedanken über Sie, jawohl, grad über Sie ... Bitte sehr, das ist nicht mein Verdienst, sondern Ihres ... In die Gesellschaft passen Sie nicht ... Ein feiner junger Mann ... Sie könnten in ganz andren Kreisen verkehren ... Gut, Sie haben kein Geld ... Aber schon deswegen muß man auf eine Idee kommen ... Schauen Sie, halten Sie sich nur an mich ... Ich werd Sie in die Hand nehmen ... Darauf geb ich Ihnen mein Wort ... Sie müssen nur ein bißl Vertrauen haben ... Wissen Sie was? Gehn wir nachtmahlen! ... Sie kriegen ein Papperl, wie Sie's seit dem Frieden noch nicht gegessen haben ...«

»Nein, ich kann nicht ... danke ...«

Koloman Spannweit stutzte und kniff die Augen zusammen:

»Also, ich buhle da um Sie ... Das ist von Ihnen nicht liebenswürdig ... Warum können Sie nicht?«

»Es geht heut nicht ...«

»Ach so? ... Das ist etwas andres ... Genügt mir ... Gratuliere ... Wenn Sie wieder frei sind, rufen Sie mich in meiner Wohnung an ... Ich möcht mich nämlich wirklich um Sie kümmern ... Was ich nur noch sagen wollte ... Jetzt hab ich's vergessen ... Es wird schon nicht so wichtig sein ...«

Er starrte geistesabwesend seine Zigarre an:

»Ja! ... Was habt ihr denn gestern im roten Militärkomitee ausgekocht? ... Ich höre von einer zwölfstündigen Sitzung ... Sind Beschlüsse gefaßt worden, wegen morgen?«

Ferdinand, der es länger nicht mehr ertrug, fuhr mit einem Ruck hoch:

»Herr Spannweit, ich muß jetzt gehn!«

»Mitten im Schönsten ... Grad, wenn ich Sie etwas frage?«

Erst jetzt fühlte Ferdinand, daß er aufs Eis geführt werden solle:

»Ich habe Fieber ... ich muß nach Haus!«

»Was Sie nicht sagen? ... Ausschaun tun Sie wie ein rosiger Knabe ... Hoffentlich sind Sie bis morgen gesund ... Was hat man Ihnen denn über mich erzählt?«

Ferdinand legte das Geld auf die Tischplatte:

»Gar nichts hat man mir erzählt.«

Spannweit richtete seinen mächtigen Leib mühsam auf. Sein Kopf mit den blauausrasierten Backen und der großen Nase glich einem spöttisch-erbitterten Caligula:

»Passen Sie auf! Alles, was man Ihnen von mir erzählt hat, ist eine kleine Falschmeldung. Sie aber, junger Mann, sind als ein Ganzer eine große Falschmeldung!«


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