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Viertes Kapitel.
Ferdinand tritt auf die Straße

Engländer hatte Ferdinand durch Unterbrechungen und Fragen immer weiter auf den Weg des Berichtens gelockt. Dieser glaubte anfangs, daß er nichts oder blutwenig werde zu erzählen haben. Nach und nach aber kam das Leben in seinem Gedächtnis ins Gedränge. Dennoch sprach er nur zaghaft und ohne Ordnung ins Dunkel, was vor Engländer noch kein Mensch zu hören bekommen hatte. Man mußte ihm durch Fragen immer wieder weiterhelfen. Er schien an einer Art Platzangst des selbständigen Redens zu leiden. Keine halbe Stunde war vergangen. Engländer stand auf und schaltete das Licht ein. Er gab damit zu erkennen, daß er vorderhand genug wisse. Dann durchstampfte er ein paarmal den Raum, indem er mit Bewußtsein den Bauch einzog und die Lippen verkniff. Ob ihm der zaghafte Lebensabriß einen Eindruck gemacht hatte, blieb unbemerkbar. Sein Gedankenwandel kam dadurch zum Abschluß, daß er sich ein zweites Stück von Ferdinands Striezel abschnitt und als einen Riesenbissen in den Mund stopfte.

»Und was ist denn mit Ihrer Barbara?« fragte er, als er wieder sprechen konnte. Ferdinand fuhr in seinen Rock und holte eine nicht wenig abgeschabte Brieftasche hervor. In den Schlupfwinkeln dieser Brieftasche grub er lange nach, aber nur zum Schein, denn er schwankte plötzlich, ob er Barbaras Brief vorzeigen solle. Bald aber hielt Engländer ein mit kindhaft schiefliegenden Buchstaben bedecktes Schreiben in der Hand. Es begann in fehlerhaftem Deutsch, schlug dann, weil es der Schreiberin bequemer war, ins Böhmische über und schloß wieder deutsch. Barbara klagte sich an, daß sie so lange nichts von sich habe hören lassen. Es hätten sich aber große Veränderungen abgespielt. Ihr Bruder, der Bergmann, sei gestorben, und Franta bei der Assentierung genommen worden, so daß er im Herbst wohl werde einrücken müssen. Sie schrieb wörtlich: »Vielleicht schicken sie ihn, wie das Gesetz lautet, nach Hause, vielleicht auch nicht«, womit sie auf die Bestimmung anspielte, die den einzigen Sohn einer Witwe vom Militärdienst befreit. »Die Schwägerin und ich werden zusehen müssen.« Sie habe sich entschlossen, nicht mehr in Dienst zu gehen, da sie in diesem Sommer vierundsechzig alt geworden sei. »Ich kann in der Nacht nicht mehr sehr gut schlafen und denke deshalb oft an Ihn, ob Er etwas braucht.« Sie schloß damit, daß ihr ein Gerücht zu Ohren gekommen sei, wonach ausgeweihte Priester nach Afrika geschickt würden, »um dort die Wilden zu bekehren«. Diese Möglichkeit erfüllte sie mit Angst und Sorge.

Engländer las den Brief zweimal. Als ginge von dem ländlich vorlinierten, beim Dorfgreisler erhältlichen Briefpapier ein Leuchten aus, verklärte sich sein Gesicht.

»Also am besten gefällt mir die Aufschrift: ›Junger Herr‹ und die Anrede in der dritten Person. Sehen Sie, darin liegt eine der uralten Schönheiten Österreichs, eine Würde und Freiheit, die der gutverdienende Liberalismus und Nationalismus längst schon vernichtet hat.«

Er wurde unvermittelt nervös:

»Gehen wir, gehen wir! Ich halte es hier nicht länger aus. Kommen Sie, bitte, mit mir!«

Ferdinand griff nach seinem Hut. Engländer aber befahl:

»Nein! Vorher packen Sie Ihre Sachen zusammen. Wir nehmen Ihren Koffer mit.«

Der Seminarist starrte entgeistert auf seinen Besuch. Dieser aber stellte eine überzeugende Erwägung an:

»Ich glaube, eine günstigere Zeit für Ihre Flucht als dieser Abend kommt nicht wieder. Sie sind allein. Man wird Sie, nehme ich an, erst morgen früh vermissen. Packen Sie schnell zusammen! Für alles andere werd ich schon sorgen.«

Ferdinand gehorchte. Seine Hände waren so erregt, daß Engländer ihm beim Verstauen seiner Habseligkeiten behilflich sein mußte. Er hatte keine Vorstellung von dem, was sich jetzt ereignen würde. Sein ganzes Wesen aber war hingegeben an den Rausch der Flucht, die gestern noch eine unerlaubt tolle Phantasie gewesen war. Er überließ sich völlig dem Willen Engländers, dem Willen eines, seiner Meinung nach, überragenden und lebenskundigen Mannes, der einzigen Autorität, die er kannte. Was hatte Ferdinand zu verlieren? Dieses Eisenbett hier, zwei magere Mahlzeiten täglich und die Aussicht auf einen kargen Beruf, für den er nicht das geringste Verständnis besaß. Was hatte er zu gewinnen? Die Welt! Und Engländer war sein Freund, der ihn nicht verlassen würde. Dieser wiederum war selber überrascht von dem plötzlichen Entschluß, der ihn da überkommen hatte, diesen jungen Menschen seinem Gefängnis zu entreißen. Es gab für Engländer nichts Schrecklicheres als die Vorstellung von Fesseln, von Unfreiheit und Gefangenschaft. Er dachte in diesen Minuten wohl an seine Verantwortung, aber der Sachverhalt lag so klar, daß er die Bedenken zurückwies. Dieser Ferdinand war keine Ministranten- und Küsterseele. In dieser Zucht würde er verkommen. Er mußte auf den »Umweg« gebracht werden, von dem er, Engländer, vorhin gesprochen hatte. Ohne Abfall gab es für den modernen Menschen keine Heimkehr in Gott. Dieses war ja das Entsetzliche an unserer Zeit, daß es kein selbstverständliches Leben in Gott gab, sondern nur ein laues und halbes Konvertitentum, das sehr oft aus trüben Quellen floß. Engländer verstand sich auf diese Quellen: Da war der geistige Hochmut vor allem, der sich dadurch adeln wollte, daß er die zeitgemäß naturwissenschaftliche Weltanschauung als untief und banal verwarf. Da waren ästhetenhafte Neigungen und snobistische Vorurteile, von denen sich Engländer aber auch bei strenger Selbstprüfung frei wußte. Der Gedanke an Gott war ihm wirklich das Lebenszentrum. Geistreich, wie er »leider« war (das »leider« bildete in diesem Zusammenhang eine beliebte Redewegung Engländers), pflegte er Gott und das Göttliche als ein harmonisches Ereignis zu definieren, ähnlich der Musik, »die ebenfalls weniger verstandesmäßig als erlebnishaft anschaubar sei«. Aus diesem Gleichnis ersieht man, daß Engländer auch ein Untertan der Musik war. Er hatte zu jener Jugend gehört, die keine Wagnervorstellung in der Hofoper versäumte. Die Musik aber war eines der ersten Opfer, das fallen mußte. Auch sie war, losgelöst von einem höheren Inhalt, dem Intellekte gleich zu einer der schlimmsten Verführungen geworden. Engländer betrat nun kein Theater mehr und rächte sich an seiner alten Liebe für Wagner dadurch, daß er ihm die Schuld am Untergang der Kunst und an der frechen Selbstvergottung der Künstler gab. Umsomehr aber zog er die Musik nicht als Tondichtung, sondern als Welterscheinung in seine Gleichnisse und Gedanken. Es gab für ihn eine Musikalität des Ohres, des Auges, des Denkens und des Glaubens. Sie war das Einheitserlebnis harmonisch-rhythmischer, zeiträumlicher Zusammenhänge und als solche ein Kind der Urmusikalität, der Theophanie, der Gottesschau. Hierin aber sah Engländer den einzigen und wahren Unterschied zwischen den Menschen, die scharfe Trennungslinie, welche die Seelenwelt durchschneidet. Musikalisch und unmusikalisch, was sehr wenig mit Klavierspielen zu tun hat und die letzten Gegensätze umschließt: gut und böse, wohlwollend und mißgünstig, anmutig und plump, all diese Widerspruchspaare ließen sich auf die eine Formel bringen.

Was hatte ihn schon bei der ersten Begegnung mit Ferdinand im Vorlesungssaal so sehr bewegt? Was erschütterte ihn jetzt, wenn er zusah, wie der Jüngling seine Armut in den altertümlichen Strohkoffer raffte? Dies war ein »musikalischer« Mensch. Engländer mußte Tränen unterdrücken, so reizend-weltunkundig fand er Ferdinands Bewegungen. Ihn wandelte jetzt ein schrecklicher Zweifel an, ob er nicht doch ein Unrecht begehe, ob er auch wirklich für dieses Kind werde sorgen können.

»Haben Sie Ihre Dokumente?« fragte er.

Ferdinand kramte Taufschein und Maturitätszeugnis hervor. Engländer forschte weiter:

»Wer ist Ihr Vormund? Der Mann Ihrer Tante, wie?«

»Nein! Ich habe seit Jahren von den beiden nichts gehört. Vielleicht leben sie nicht mehr.«

»Also, wer ist Ihr Vormund?«

Ferdinand mußte selber lachen:

»Mein Wort, mir fällt der Name jetzt nicht ein.«

»Haben Sie Forderungen an den Staat zu stellen? Besteht eine Hinterlassenschaft Ihres Vaters?«

»Ich glaube, nein.«

»Ich glaube, nein! Sehen Sie, wie recht ich habe, mein Lieber. Aus Ihnen wird nie ein intelligenter Mensch werden ...«

»Und jetzt?«

»Ganz einfach! Sie werden an den Internatsvorstand einen Brief schreiben, den ich Ihnen morgen diktieren will. Außerdem werde ich mich mit einem Juristen beraten. Ich glaube nicht, daß man Ihnen etwas anhaben kann. Sie wollen Medizin studieren, gut! Sie bekommen die Mittel dazu. Niemand wird Sie zurückholen.«

Ferdinand wunderte sich, wie leicht es war, zu fliehen. Der Käfig stand immer offen. Nur der Vogel war allzu gezähmt und verzagt, um davonzufliegen. Damit der Pförtner keinen Verdacht schöpfe, trug Engländer den Koffer die Treppe hinab. An der nächsten Straßenecke stellte er ihn hin und bemerkte:

»So! Jetzt sind Sie ein entlaufener Mönch.«

Ferdinand glaubte das erstemal auf den Straßen Wiens zu stehen. Er glaubte eine Luft zu atmen, die er nicht kannte, eine Luft voll Schärfe, Kühnheit, Wind, Abenteuer und Angst. Einen Augenblick lang fürchtete er, ihm könnte übel werden. Er hatte ein wollüstig schwaches Gefühl in den Knien. Noch war nichts geschehen, aber das Schicksal hielt ihn gepackt und veränderte alles, so daß es ihm neu erschien wie einem Knaben, der eine Ewigkeit im Bett zugebracht hat. Alfred Engländer winkte einen Fiaker herbei. Wie bewunderte er diese selbstherrliche Gebärde! Er klammerte sich an den Arm dieses Mannes fest, den er für so stark und lebensgewandt hielt. Jeder Schritt war jetzt Freiheit und Selbstentscheidung. Darum auch tat jeder Schritt so weh, als wären die Schuhe zu eng. Im Wagen predigte Engländer:

»Sie werden so bald wie möglich einen Brief an Ihre Barbara schreiben. Sie wird sich gewiß darüber kränken, daß sie Sie auch in Zukunft nur ›Junger Herr‹ nennen muß und daß der ›Hochwürdige Herr‹ zu Wasser geworden ist.«

»Oh, das ist ihr gar nicht wichtig«, meinte Ferdinand.

Der Wagen hielt vor einem Hause des Gesandtschaftsviertels. Engländer läutete und gab einem ehrwürdigen Manne einige Anweisungen. Der Strohkoffer wurde in Empfang genommen. Der Ehrwürdige verschwand mit einer Verbeugung vor dem Haussohn. Dieser deutete auf das Palais:

»Die Burg meiner Väter! Hier wird eine verzwickte Patristik gelehrt. Ich bin ein Arrestant des Geldes mit Bewährungsfrist.«

Er gab dem Kutscher ein Zeichen. Der Wagen fuhr los:

»Ich will Sie mit den Verhältnissen dieses Daches, unter dem Sie ein paar Tage zubringen werden, vertraut machen.« In seiner wortüberlegenen Sprechart, die mit ironischer Vorliebe druckreife und stilblumige Wendungen anwandte, erzählte er, daß seine Eltern schon ziemlich lange tot wären, daß ihm dafür aber zwei Brüder »blühen«, jeder einzelne ein Ausbund an »Unmusikalität«. Da sie nicht Geldmenschen aus erster, sondern nur aus zweiter Hand seien, besäßen sie nicht einmal »die Dämonie des Erwerbs. Sie sind lauwarme Sekundogenitur des Kapitals. Eine Einladung bei irgendeinem Fürsten schätzen sie höher als einen gelungenen Verkaufsabschluß. Mich hassen sie, ohne den Mut zu haben, an ihren Haß zu glauben. Sie verschmieren ihn mit Pietät, mit familiären und gesellschaftlichen Rücksichten. Solang ich Sozialist gewesen bin, haben sie mich für gefährlich gehalten, seitdem ich die Wahrheit zu erkennen beginne, halten sie mich für verrückt. Die Stärke ihrer Position mir gegenüber beruht auf meiner Erfolglosigkeit. Da ich nichts verdiene und nur von meiner Rente lebe, bin ich ein Schmarotzer. Da ich keine Talente besitze oder sie nicht zur Geltung bringe, bin ich ein Verlorener.«

Die bürgerliche Welt, fuhr er fort, anerkenne nur drei Formen der menschlichen Existenz: »Entweder stehe gesellschaftlich über ihr, oder lasse im Geld- und Genußwettlauf die Verdienerzunge aus dem Maul heraushängen wie sie, oder gib dich zu ihrem Hofnarren her. Könnte ich Feuilletons oder Couplets verfassen, würden mich meine Brüder mit Freuden herumreichen ... Erschrecken Sie nicht, mein Lieber, ich besitze Gott sei Dank eine eigene Wohnung. Meine Brüder und die mit Recht dazugehörigen Frauen werden Sie nicht belästigen.«

Der Kutscher, der sein Ziel nicht kannte, wandte sich zurück:

»Wohin, Herr Baron?«

»In den Prater«, entschied Engländer.

Freundschaft ist ausschließlich eine Tugend der Zwanzigjährigen. Ein Mann kann sich noch mit Sechzig tödlich in eine Frau verlieben, wirkliche Freundschaft schließt er nach dem dreißigsten Jahr kaum mehr. Die wunderbare Voraussetzung der Jugendfreundschaft ist die ideale Gleichheit, die alle Zwanzigjährigen miteinander verbindet. In welcher Lebenslage sie sich auch befinden, alle sind sie gleich arm, denn sie sind schlechthin nichts. So entfällt die trennende Gewalt des geselligen Lebens für sie, der Neid. Da sie alle arm und nichtig sind und noch nicht am Blute des Erfolges geleckt haben, gönnen sie den zukünftigen Erfolg einander von Herzen und sind bereit, sich gegenseitig auf den Weg zu helfen. Erficht ein junger Mensch einen Sieg, so hat er nicht für sich allein, sondern für seine ganze Generation gesiegt. Schon mit dreißig Jahren aber ist der Mann durch Erfolg verdorben oder durch Nichterfolg, was in einem tieferen Sinne dasselbe ist.

Engländer war zwar um sechs oder sieben Jahre älter als Ferdinand. Dennoch erlebten sie draußen im Wurstelprater eine wunderbare Stunde echter Jugendfreundschaft. Bei Engländer trat eine väterliche Empfindung hinzu und die Freude, heute nicht nur eine Befreiungstat auf dem Gewissen zu haben, sondern auch den Fremdenführer ins Leben spielen zu dürfen. Er nannte das Vergnügen, sich von der trubelnden Menge des Volkspraters treiben zu lassen, »im Leben baden«. Für Ferdinand war es so etwas wie ein erstes Bad. Merkwürdig, binnen wenigen Stunden war alles Bisherige fortgeschwemmt. Unabsehbar weit lag das Gestern zurück und sein ganzes Leben. Ferdinand hat das Glück, nicht nur eine ungewöhnliche Erinnerung zu besitzen, sondern auch ein ungewöhnliches Vergessen. Es war ihm selber unheimlich, wie die schnelle Entscheidung, die Flucht mit einem Schlage die ganze Vergangenheit unwirklich gemacht hatte. Nur sein Körper, an Reih' und Glied gewöhnt, an strenge Hausordnungen, an Klassenspaziergänge, bei denen man die Augen niederschlagen muß, nur der Körper konnte so schnell nicht vergessen und war ratlos dem farbigen Wirbel ausgeliefert. Ferdinands Gestalt in dem schwarzen Seminaristenrock schwankte unsicher. Manchmal lächelte er ein ängstliches Blindenlächeln. Engländer verfolgte seine Absicht. Er vermutete, daß festlicher Lärm und freudiges Farbengetümmel Heilmittel gegen Ferdinands Verschüchterung seien. Da er selber für die Sensation der Hochschaubahn schwärmte, löste er zu diesem Vergnügen Karten. Die jungen Leute sausten mehrere Male die wilden Kurven, furchtbaren Abstürze und schaurigen Tunnels dieses Unternehmens dahin, das die Lustgefühle der Todesgefahr den Leuten in harmlosen Dosen billig verabreicht. Diese rasende Bewegung, die das Zwerchfell zusammenkrampft, übte auf Ferdinand eine berauschende Wirkung aus. Beim dritten Mal schämte er sich nicht mehr und mischte seine Stimme unter die Schreie der Mädchen, die sich an ihre Begleiter preßten.

Nachher freilich, als sie dem Ausgang zuschritten, wurde es ihm schwarz vor den Augen, und er glaubte, er müsse umsinken. Wenige Stunden nur und diese Verwandlung! Es war zuviel für seine Kraft. Engländer erschrak und führte ihn rasch nach Hause. Das erstemal wieder seit seiner Kindheit schlief Ferdinand in einem Märchenbett.

In den folgenden Monaten sorgte Alfred Engländer auf das hingebungsvollste für seinen Schützling. Da er einem Konflikt mit den Brüdern, die sein Tun und Treiben ausspionierten, entgehen wollte, nahm er ein gutes Zimmer auf und bezahlte Kost und Quartier für ein halbes Jahr voraus. Er ließ Ferdinand bei seinem Schneider auf eigene Rechnung anständig ausstatten. Er lief auf die Universität und besorgte die Inskription. Zugleich auch schaffte er Lehrbücher an, ein anatomisches Besteck und was sonst noch für die Anfangsgründe des medizinischen Studiums notwendig ist. Auch eine Barschaft erhielt Ferdinand ausgefolgt, die freilich nicht sehr groß war, da Engländer selbst nie über große Summen verfügte. Das Testament seines Vaters beteiligte den geschäftsuntüchtigen, also mißratenen Sohn am Engländerschen Rieseneinkommen nur in Form zwar ansehnlicher, aber immerhin bemessener Monatsraten. Schon die Ausstattung Ferdinands hatte ihn gezwungen, Schulden aufzunehmen. Aus zwei Gewissensgründen, die ihm keine Ruhe ließen, tat er mehr als genug. Er hatte zu Ferdinands Flucht die Hand geboten. Sein Konvertitenherz war deswegen mehr bekümmert, als er sich's eingestand. Und dann, was noch wichtiger war. Er kannte sich selber allzugut. Nicht umsonst war er ein »Sohn des Reichtums«, und den Reichen war nach Christi Wort die »Seligkeit« verschlossen. Er legte die diesbezüglichen Stellen der Evangelien recht eigenwillig aus. »Gib all dein Gut den Armen«, hieß in seiner Auffassung nicht: Nähre und kleide die Bedürftigen – sondern: Befreie dich von der Unseligkeit des Materiellen. Den Fluch der Materie nannte er die Ungeduld, während Attribut der Seligkeit Ruhe und Geduld war. Ruhe bedeutete, nach seinem Glauben, Ewigkeitsbewußtsein der Seele, Unruhe aber und Ungeduld bedeutete Verwesungsgewißheit. Leider war er selber trotz seines religiösen Strebens voll Unruhe und Ungeduld über die Maßen. Der Impuls von gestern versiegte heute und wurde morgen schon unverständlich. Engländer traute selbst seiner reinen Freundschaftsempfindung für Ferdinand nicht. Vielleicht würde er sie übers Jahr kaum mehr begreifen. Schon deshalb mußte vorgesorgt werden. Eines beruhigte ihn, er hatte nichts anderes getan, als den Freiheitswunsch eines Gefangenen verwirklicht, den sein ganzes stummes Wesen ausatmete, seitdem er mit ihm bekannt geworden war. Als Ferdinand sein neues Zimmer bezog, sagte Engländer, als fiele ihm eine Last vom Herzen:

»So! Für ein Jahr, hoff ich, werden Sie zu leben haben. Hören Sie, ich bin nicht reich, sondern, wie ich schon gesagt habe, ein Arrestant des Geldes. Es wird gut sein, wenn Sie sich nach den Verdienstmöglichkeiten umsehen, die einem Studenten offenstehen. Es gibt Demonstratorstellen, Nachhilfeposten bei Mittelschülern und so weiter. Am Schwarzen Brett werden derartige Anträge veröffentlicht. Es wäre mir lieber, ich müßte Ihnen diesen Rat nicht geben. Andererseits aber werden Sie selber glücklich sein, etwas zu verdienen. Fürchten müssen Sie sich nicht. Solange ich nur kann, werd ich für Sie da sein ...« Diese letzte Behauptung erfüllte Engländer mit Mißgefühl, als hätte er eine aufgeblasene Phrase ausgesprochen. Um davon abzulenken, fragte er:

»Wann haben Sie denn die Barbara zum letzten Male gesehn?« Ferdinand erschrak. Er hatte im Drang der letzten Zeit ihrer gar nicht gedacht und auch den Brief noch nicht beantwortet:

»Wann? Es ist lang her. Im vorigen Sommer«, bekannte er. Engländer betrachtete unzufrieden die Wände der Stube:

»Das ist zu kahl hier«, behauptete er. Dabei aber nahm er mit ekelerfüllten Fingern einen Öldruck vom Nagel, der schuhplattelnde Tiroler darstellte. Als er schon in der Tür stand, um fortzugehn, drehte er sich noch einmal um:

»Damit ich's nicht vergesse. Wir wollen uns Du sagen.«

Am Abend erhielt Ferdinand eine große, gutgerahmte Reproduktion. Die strenge Pietà eines vlämischen Meisters. Die Madonna darauf war eine alte Frau.

Engländer hatte die Beständigkeitskraft seiner Freundschaft unterschätzt. Keine Ungeduld, kein neuer Impuls kam ihm in die Quere. Sie sahen einander täglich. Er war stolz auf sein Geschöpf. Immer wieder erfüllte ihn die Ruhe dieses Knaben, seine beschatteten Augen, die Grazie in seinen Bewegungen und die zart verpuppte Geistigkeit mit sonderbaren Vaterfreuden. Der wird durchkommen, urteilte er und war nicht nur stolz auf Ferdinand, sondern auch stolz auf sich selbst.

Aber noch am Ende desselbigen Jahres wurde Engländer und Ferdinand mit ihm das Opfer eines widrigen Schicksals. Es kam zu einigen scharfen Auftritten zwischen den feindlichen Brüdern. Die Lage des Müßiggängers gegenüber den »Arbeitstieren«, wie sich die Textilfabrikanten selber bezeichneten, wurde unhaltbar. Alfred ließ sich, maßlos wie er war, hinreißen und dehnte die Verdächtigungen bürgerlicher Ehrbarkeit auch auf die verhaßten Ehefrauen der Brüder aus. Nun kannte die Empörung und Rachsucht gegen den jüngsten Bruder keine Grenzen mehr, zumal sie durch Alfreds jähzornige Bosheit einen Anschein von Berechtigung gewonnen hatte. Routinierte Rechtsanwälte, in derartiger Forscherarbeit wohlbeschlagen, wurden angeworben, um die Nachlaßbestimmungen des alten Engländers bezüglich gewisser Klauseln neu zu untersuchen, auf deren ungünstige Ausdeutung um des Familienfriedens willen bisher verzichtet worden war. Die findigen Rechtsgelehrten hatten Erfolg. Sollte sich Alfred bis zu einem gewissen Zeitpunkt nicht zur aktiven Mitarbeit an der Firma entschlossen haben, so verlor er die Teilhaberschaft an den Fabriken, was im Sinne dieser nicht ganz klargefaßten Testamentsbestimmung als längst geschehen angenommen wurde. Da aber die Hauptmasse des Engländerschen Vermögens in Industrien steckte, verblieb dem Jüngsten nichts anderes als der Fruchtgenuß eines mäßigen Pflichtteils, der zum Unglück noch in unveräußerlichen Werten festlag. Mit einem Wort, Alfred Engländer war aus einem reichen Manne zu einem Kleinrentner geworden, der allmonatlich von der Bank zweihundert Kronen überwiesen bekam. Um der aufreizenden Fratze seiner Brüder nicht täglich begegnen zu müssen, entsagte er selbst seiner Wohnung in dem väterlichen Palais. Mit zweihundert Kronen hätte er, auch weniger verwöhnt, in der Residenz nicht leben können. Er übersiedelte deshalb in eine niederösterreichische Kleinstadt, nach Melk, wo er auch jenen immer mehr um sich greifenden fleischlichen Widerstandslosigkeiten besser zu begegnen hoffte. Von dort schrieb er lange bekümmerte Briefe an seinen Freund, denen er manchmal eine kleine Banknote beilegte, die er sich mühsam abgespart hatte.

Aber was half das? Ferdinands Elendszeit begann.


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