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Zweites Kapitel.
Chronik

(worin Einiges nachgetragen wird, was Ferdinand erzählte, und mehr noch davon, was er verschwieg oder selbst nicht wußte)

   

Im Septembermonat, der auf Ferdinands zehnten Geburtstag folgte, trat er in die Militärschule ein. Dieses große Ereignis fiel mit einem anderen, nicht minder entscheidenden zusammen. Tante Karolin zog ihre schützende Hand von dem Knaben und verheiratete sich zum zweitenmal. Mit ihren achtunddreißig Jahren machte sie eine glänzende Partie in Gestalt eines abgelebten, aber ritterlichen magyarischen Grafen, dem sie »auf die Puszta folgen wollte«, wie sie sich schwärmerisch ausdrückte.

Mama und ihre Schwester hatten jederzeit einer bestimmten, nicht gerade vorurteilsfreien nationalen Rangordnung gehuldigt. Über die Deutschen der Monarchie, zu denen man selbst gehörte, sprach man nicht viel. Sie waren ein wertvoll-tüchtiges, aber glanzloses Volk, dem anzugehören weder eine Schande noch eine Ehre bedeutete. Die Slawen verachtete man. Sie galten als Dienstbotennation, sie gehörten in die Küche, sie besaßen keine Gesellschaft und demzufolge keine höheren Manieren, sie sannen auf Abfall, in ihrem Herzen schlummerten die gefährlichsten Gegensätze der Sklavengesinnung: Weichmut und blutrünstiger Haß. Unter ihnen zu leben, glich einer Art von Verbannung. War man fern von den beiden Mittelpunkten der Doppelmonarchie ans slawische Land gefesselt, kam man sich wie ein alter Römer in barbarischen Provinzen vor. Onkel Bogdan natürlich hatte nicht als Slawe zu gelten. Er war ein edler Magyare mit einem kroatischen Namen. Überdies verlor jeder Offizier im tragenden Elemente der Armee seine nationale Belastung, wie ein Körper sein Gewicht im Wasser verliert. Die Blüte des heimischen Staates aber war das Ungarvolk, welches einerseits aus malerischen Bauern und Pferdehirten bestand und anderseits aus nicht weniger malerischen Magnaten. Diese Magnaten, tollkühne Reiter, waghalsige Herren des Lebens und der Liebe, Spieler, Tänzer, Krieger und Pokulierer, nahmen im Herzen der Schwestern einen hohen Rang ein. Schon in den Schulen verbreiteten die Lesebücher rührende Geschichten: Maria Theresia, die große Herrscherin, war zu den Ungarn geflüchtet, und die Einzig-Getreuen huldigten ihr, während sie, den Kronprinzen im Arm, auf dem Krönungshügel die vier historischen Schwertstreiche gegen die Weltrichtungen führte. Auch Kaiserin Elisabeth, das Ideal aller romantischen Frauen jener Zeit, schätzte von den Völkern ihres Reiches die Magyaren am höchsten und fühlte sich nur auf dem Landsitz von Gödöllö völlig daheim. Mamas Generation hatte schon vergessen, daß knapp vor einem Lebensalter dieselben Ungarn die rote Fahne der Revolution entfaltet hatten.

Tante Karolins Hochzeit und Abreise fand noch im September statt. Ferdinand war groß genug, um zu erkennen, wie sehr seine Schulinternierung ihr gelegen komme. Darüber täuschte ihn die überstürzte Liebenswürdigkeit nicht hinweg, die ihm Karolin in den letzten Tagen zuteil werden ließ. Der Wahrheit soll jedoch die Ehre gegeben werden. Nicht die Schuld der Tante war es allein, wenn während dieser vier Jahre sich zwischen ihr und dem Kinde keine wärmere Zuneigung herausbildete. Oft genug hatte sie den Versuch gemacht, Ferdinand näher zu kommen. Aber immer wieder zog sie sich nach solchen Stunden, in denen sie ihre Kinderliebe und ihren Unterhaltungseifer erfolglos verausgabt hatte, mit heimlichem Groll von dem Sohn ihrer Schwester zurück. Wahrlich, die Tote würde ihr dereinst nichts vorzuwerfen haben. Sie verhätschelte den Jungen ihrer Meinung nach wie einen Prinzen – hielt sie ihm doch einen eigenen Dienstboten –, sparte kein Geld und verschwendete auch noch Herzensgüte, all dies für Gottes Lohn. Irgendein verstocktes Etwas steckte in dem Ferdinand, eine maultierhafte Unüberwindbarkeit des Gefühls, die einzige Erbschaft wohl des bockbeinigen Obersten, den zu ihrem Unglück die arme Schwester geheiratet hatte, ohne auf eine bessere Partie zu warten. Sah sie aber den Buben in Begleitung Barbaras aus der Schule kommen, hörte sie sein plapperndes Berichten, das ihre Nähe sofort dämpfte, dann kleidete sie ihren Mißmut in ein völlig unzutreffendes Wort: Kalfakter! Was Ferdinand betraf, so wußte er ganz genau, daß es sehr wenig hübsch sei, wenn ihn in Tante Karolins Gesellschaft so oft eine merkwürdige Leere und Schläfrigkeit anwandelte. Mußte er ihr nicht dankbar sein, ihr, die ihn aufnahm, nährte, kleidete und im großen und ganzen freundlich behandelte? Hatte sie nicht – und dies sollte er ihr doch hoch anrechnen – Barbara behalten? Barbara selber wies immer wieder darauf hin, daß die gnädige Frau damit ein Übriges tue; es stehe ja in ihrem Belieben, ihr täglich zu kündigen. Ferdinand aber konnte sich nicht helfen. Bei Tische und auf Spaziergängen, niemals verließ ihn an Karolins Seite diese unbehagliche Schläfrigkeit, die nichts anderes war als eine kindliche Form der Ablehnung. (Deshalb kamen für ihn alljährlich die schönsten Zeiten dann, wenn die Tante in einen Badeort reiste und er allein mit Barbara in der Wohnung zurückblieb.) Noch heute kann ihn ein ähnlicher Schläfrigkeitszustand erfassen, wenn er mit Menschen zusammensein muß, die an verzehrendem Ehrgeiz oder Machtwillen leiden. Tante Karolin litt an dem gleichen Übel, und die Seele des Kindes, unwissend warum, erwiderte darauf.

Karolin stellte eine unruhige Mischung von scharfer Berechnung und verstiegener Romantik vor. Die Berechnung zeigte sich in einem abschätzigen Blick und in ihrer peinlich-ordentlichen Lebensführung, die in keiner Minute eine verbessernde Möglichkeit durchschlüpfen ließ. Die Romantik lag in einer leidenschaftlich abstrusen Überschätzung der menschlichen Klassenunterschiede. Das war kein gewöhnlicher Snobismus nach der Schnur. In ihrer Vorstellung bildeten die Stufen der Würden und Geltungen eine Skala von unendlich feinen Nuancen. Sie war in erster Ehe mit einem Zahnarzt verheiratet gewesen. Den Verzweiflungsschritt dieser Ehe hatte sie nach ihren eigenen Worten nur deshalb getan, weil einem häßlichen Mädchen keine Wahl übrigbleibt. Daß ihr Gatte gerade ein Zahnarzt und nichts anderes war, erfüllte sie, trotz der reichlichen Einnahmen, mit einem ständigen Erniedrigungsleiden. Denn der Umgang mit Zähnen hatte ihrer Meinung nach etwas Lächerliches und adelte keineswegs. Sie fühlte sich dadurch gedemütigt, daß ein Teil ihrer eigenen Wohnung von einem Warte- und einem Ordinationszimmer eingenommen wurde, in dem leidende Menschen saßen, die ihr Leiden verachteten, Menschen, die keinen besonderen Respekt vor der Hand besaßen, die ihnen half. Und ihr Mann war dabei kein hergelaufener Techniker, sondern ein ehrlich studierter medicinae universae doctor. Ein Zahnarzt aber ist und bleibt der Paria unter den Ärzten. Selbst im Wartezimmer eines Augen- oder Ohrenarztes sitzen die Patienten mit furchtsamer Feierlichkeit, ganz zu schweigen von den pathetischen Vorräumen der Internisten und Chirurgen, jener großen Männer, die den Vorzug haben, mit dem Tode auf Du und Du zu sein. Ach, der Adel der Spezialisten nimmt mit der Entfernung von der Möglichkeit eines letalen Kurausgangs merklich ab. Nur äußerst selten und dann durchaus wider die Weltordnung passiert es einem Zahnarzt, daß er einen Patienten begraben muß. Durch diese verhältnismäßige Harmlosigkeit seiner Kunst aber bleibt er fortgebannt von den tödlichen Höhen der Wissenschaft und rückt fast in die Nähe der Gewerbetreibenden. Es wäre keine größere Mesalliance gewesen, wenn Karolin den Besitzer einer Drogerie geheiratet hätte. So faßte sie in Wahrheit ihre Stellung auf. Sie machte den Beruf eines Dentisten – in ihrem Mund klang das wie Hühneraugenschneider oder Masseur – dafür verantwortlich, daß ihr die Aufnahme in die höhere Gesellschaft versagt blieb, die ihr als Tochter eines angesehenen Staatsbeamten zukam. Im Laufe von drei Jahren gelang es ihr, den Zahnarzt von seinem und ihrem verfehlten Leben zu überzeugen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seinerseits das Wartezimmer eines Internisten fleißig zu besuchen, woraufhin er ein halbes Jahr später das Zeitliche segnete.

Der gute Mann hinterließ ihr einiges Geld, das eine hinreichende Rente abwarf, wovon sie sehr leicht auch den alljährlichen Kurgebrauch in einem großen Badeort bestreiten konnte. Einmal dachte sie sogar daran, den kleinen Ferdinand dahin mitzunehmen. Sie bildete sich ein, es werde ausgezeichnet wirken, wenn sie, einen hübschen Knaben an der Hand, in der Brunnenhalle auf und ab wandelte. Zu Barbaras und Ferdinands Freude aber siegte ihr Geiz über diesen dekorativen Einfall. Sie reiste allein und lernte ihren ausgewundenen Grafen kennen. Wer aber meinen sollte, daß Karolin, dieweil sie in reiferem Alter einen ritterlichen Magyaren gewann, nun in Dankbarkeit vor ihrem Schicksal knien würde, der täuscht sich. Sie hegte die Überzeugung, daß sie jetzt zu ihrem wahren Wesen und zu ihrer ursprünglichen Bestimmung heimkehre. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, nahm sie befriedigt zur Kenntnis, es habe sich das Unschöne ihrer Erscheinung in die gewisse herbe Dürftigkeit verwandelt, die einer Gräfin nicht übel ansteht, falls sie mehr auf vornehme Sittenstrenge Gewicht legt als auf mondäne Damenhaftigkeit. Und dazu war sie fest entschlossen.

In der Wohnung standen halbgepackte Koffer und Kisten umher. Auch wurden schon einzelne Möbelstücke zum Transport gerichtet, die Teppiche gerollt und in Sackleinwand eingenäht, denn drei Tage nach Ferdinands Schulantritt sollte die Übersiedlung Karolins stattfinden. Unter dem Transportgut befanden sich auch einige Stücke aus der Einrichtung von Ferdinands verstorbenen Eltern, deren Nutzgebrauch ihr behördlich zugesprochen worden war. Die wertvolleren Dinge, wie jener Mignonflügel, auf dem Papa alltäglich dem Klavierspiel gefrönt hatte, mußten seinerzeit verkauft werden, denn nach des Obersten plötzlichem Tod fand man eine sehr verwickelte Lage vor. Mama hatte nämlich in übergroßem Liebesleichtsinn die Schulden des Rittmeisters Bogdan Veselovich mit ihrem Namen gedeckt, was die Gläubiger für eine Weile hinhielt. Nach ihrer Flucht aber stürzten sie sich, mit den Unterschriften seiner Gattin bewaffnet, auf den Obersten. Es handelte sich dabei um Summen, die sich sehen lassen konnten. Anstatt aber alles abzulehnen und die Mahner einfach hinauszuwerfen, nahm der verzweifelte Mann in der panischen Offiziersangst vor neuer Entehrung das Kreuz auf sich. Er girierte die Wechsel der Gläubiger und unterwarf sich somit der Verpflichtung, jene Schulden zu bezahlen, deren Höhe der Kaution entsprach, die bei Schließung jeglicher Offiziersehe unantastbar hinterlegt werden muß. Nach seinem Ableben setzte ein heftiger Aktenkampf zwischen Militärärar und Vormundschaftsbehörde ein, der mit dem Siege des Militärs endete. Als Opfer blieb Ferdinand auf der Strecke.

Barbara erkannte mit Schrecken, daß es nichts Ärmeres auf der Welt gebe als ihren Liebling, der jetzt noch um die letzten, wenn auch ziemlich wertlosen Einrichtungsgegenstände seiner Eltern kam. Sie nahm es traurig hin als ein Schicksal, denn wie hätte sie, die Magd, aufbegehren dürfen! Mit leidenschaftlicher Umsicht hingegen rüstete sie das Gepäck des Knaben. Auf einer langen Liste hatte sie in zwei schlaflosen Nächten alle Dinge verzeichnet, die zu besorgen sie für notwendig hielt. Sie zeigte die Liste vor. Tante Karolin aber fand, daß die Hälfte der geforderten Anschaffungen überflüssig sei. Barbaras Fürsorge wäre übertrieben. Sie, Karolin, empfinde gewiß mütterliche Liebe für den Neffen, aber man dürfe ihn nicht verwöhnen. Der Staat, der in Zukunft sein Vater sein werde, hege spartanische Ansichten über Knabenerziehung, und dem sei gut so. Da ging denn Barbara hin und besorgte für eigene Rechnung einen Teil des Überflüssigen.

Damit sich keine irrige Meinung einschleiche, muß noch bemerkt werden, daß der Graf, Ferdinands neuer Onkel, als Untertan der transleithanischen Reichshälfte nun die Vormundschaft über den Knaben nicht übernehmen konnte oder vielleicht auch nicht wollte. Es herrschten nämlich zwischen den beiden Staaten des Kaisertums gewisse zivilrechtliche Verzwicktheiten. Wie einem mittellosen Angeklagten vom Gericht ein Ex-officio-Verteidiger beigestellt wird, so war dem Knaben nach dem Tode seines Vaters ein Ex-officio-Vormund gegeben worden, irgendein gleichgültiger Herr, den er im Leben keine drei Male zu Gesicht bekommen hat. Dieser blieb ihm auch jetzt erhalten.

Verwunderlich genug war es, daß sich Ferdinand über die Schwere der bevorstehenden Lebensänderung und über die Härte des Abschieds nicht ganz klar zu sein schien. Erregt lief er in der kahlen Wohnung umher, und seine Erregung war, wenn auch nicht freudig, so doch erwartungsvoll. Barbara jedoch saß, da nun alles verpackt und verschnürt der Auflösung wartete, wortlos auf einem Koffer. Ferdinand sah ihr Gesicht nicht, das sie tief gesenkt hielt, er sah nur ihren geradelaufenden, angegrauten Scheitel, ein trauriges Bild, das sich ihm einprägte. Zur Stunde aber empfand er kein besonderes Leid. Wieviel stärker hatte ihn einst das Abschiedsgefühl auf dem Bahnhof der kleinen Wallfahrtsstadt gepackt, als er todessüchtig in den Schoß der Frau sank, die seine Mutter nicht war.

Tante Karolin, die ursprünglich Ferdinand selber in die Militärschule begleiten wollte, besann sich anders, blieb ihr doch für die eigenen Angelegenheiten kaum mehr Zeit genug. So nahm sie denn in ihrem aufbruchsnackten Heim Abschied von ihrem Neffen und schickte ihn allein mit der Kinderfrau in das Haus seines neuen Lebens. Aber auch dann, als Barbara im Schlafsaal der kleinsten Kadetten vor der eisernen Bettstelle kniete, seine Sachen auspackte und in den kleinen Schrank ordnete, auch dann noch überwog Neugier und eine prickelnde Scheu das Weh des Abschieds. Barbara beherrschte sich:

»So, mein Schatz, jetzt muß ich gehen.«

Ferdinand sah sie verständnislos an. Sie drückte ihm einen Zettel in die Hand:

»Heb Er das hier gut auf! Es ist meine neue Adresse. Von morgen an bin ich dort im Dienst.«

Und sie wiederholte mehrmals deutlich den Namen ihrer neuen Herrschaft, Straße und Hausnummer. Dann flüsterte sie schnell, als wäre es eine unerlaubte Zumutung:

»Komm Er zu mir, wenn Er etwas braucht, wenn Ihm etwas fehlt. Die Tante ist weg. Aber ich bin da.«

Ferdinand erkundigte sich in plötzlicher Eifersucht:

»Werden dort Kinder sein?«

Barbara erschrak, als wenn sie daran noch nicht gedacht hätte:

»Ja, ein Bub und ein Mädel ...«

Kaum aber hatte sie dieses Bekenntnis abgelegt, als sie, aufweinend, den Knaben an sich preßte:

»Nein, nur du, nur du ...«

Dies war der Abschied. Der Schlafsaal dehnte sich lang. Ferdinands Bett stand am unteren Ende, und Barbara hatte einen langen Weg zur Tür. Als sie sich umwandte, sah er ihr nicht mehr nach, sondern unterhielt sich mit einem anderen Zögling. Sie blieb mit einem tränenerstarrten Antlitz eine Minute lang gramvoll stehen. Dann heiterte sie sich auf. Gut wenigstens, daß der Bub nicht litt. Schon plauderte er lebhaft mit seinen Kameraden. Er wird sich bald zu Hause fühlen. Das tröstete sie.

Ferdinand besitzt die glückliche Fähigkeit, sich schnell in jede Lebenslage finden zu können. Unter dem äußeren Ungemach seiner Existenz hat er im Grunde niemals tief gelitten, ob es nun Kadettenschule, Alumnat, Kaserne, Krieg hieß, oder Obdachlosigkeit, Hauslehrerdienst und Hunger. Solange ihm ein paar Stunden des Tages lang Frieden und Beschaulichkeit gewährleistet sind, fühlt er sich ganz zufrieden. Verspräche man ihm ein eigenes Zimmer und ein paar Bücher, er ließe sich ruhig in die Hölle sperren. Dieser Stoizismus hat seinen Ursprung in zwei Tugenden, die Ferdinand in reichem Maße besitzt: Geduld und die Fähigkeit, ja die Sehnsucht, mit sich allein zu sein. Diese Tugend hat das Besitztum inneren Lebens zur Voraussetzung. Ihr Gegenteil ist Unternehmungsgeist und Aktivität, die zumeist auf den Mangel inneren Lebens gegründet ist, denn sie entspricht der Unfähigkeit, mit sich allein bleiben zu können.

Auch die Klasse, zu der Ferdinand nun gehörte, umspannte auf Knabenart diese Gegensätze. Es war übrigens eine recht gewöhnliche Klasse, aus dreißig Jungen bestehend, unter denen sich weder ein besonderes Talent noch eine stärkere Eigenart bemerkbar machte. Achtundzwanzig davon gehörten, ob sie nun besser oder schlechter vorwärtskamen, dem aktiven lebenstüchtigen Typus an, die beiden übrigen hatten es schwerer. Der zweite hieß Weber. Er schloß schon in den ersten Tagen mit Ferdinand Freundschaft, der er bis zum Ende Treue hielt. Sowohl die Lehrer – es waren durchwegs Offiziere – wie auch die Mitschüler hielten Ferdinand und Weber für recht unbrauchbare Leute, obgleich sie im Studienfortgang nicht einmal zu den Schlechtesten gehörten. Aber dies ist ja eine alte Geschichte, daß der Alltagsmensch jeden, der von seiner Linie abweicht, im Grunde für minderwertig ansieht. Die Schweigsamkeit Ferdinands, der verzagte Ton seiner Stimme, wenn er sprach, jenes Abseitsstehen, das ihm von der Natur auferlegt war, bot Anlaß genug für ein abschätziges Urteil. Erstaunlich war es, daß sich Weber einem schwächlichen Knaben, der an dem rohen Ton der andern Militärschüler nicht teilnahm, restlos unterwarf. Herrschertum und Unterwerfung, Despotenwut und Sklaverei, dies sind samt ihren grausamen Folgen die Hauptleidenschaften männlicher Jugendinternate. Mochten aber auch viele Kameraden Ferdinand verächtlich ansehen, weil er nicht »geweckt« war oder weil man wußte, daß er kein Zuhause besaß – keinem gelang es, ihn in Abhängigkeit zu bringen. Den üblichen Versuchen der Quälerei hielt er stand, denn er nannte eine ehrliche Kraft, Leiden zu ertragen, sein und überdies eine glattpolierte Unnahbarkeit, an der die gewöhnlichen Mengen von Schimpf und Spott wirkungslos herabflossen. Um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, bedurfte er stärkerer Teufeleien. Als die Burschen bemerkten, daß er gegen ihren Sadismus ziemlich gefeit war, halfen sie sich mit der Feststellung, er sei zu blöde, um ihre Frotzeleien überhaupt zu merken. Nach ein paar Wochen aber, da ihre Erbitterung über seine Fremdheit verraucht war, ließen sie ihn in Ruhe. Unter anderen Umständen wäre vielleicht alles seinen regelmäßigen Weg gegangen. Ferdinand gelang es immerhin, ohne besondere Mühe einen Vasallen und Freund zu finden, was seine Stellung kräftigte. Weber bewunderte ihn und war bereit, seine Überlegenheit in allen Dingen anzuerkennen. In den Pausen und Freistunden, am Abend vor dem Schlafengehen, immer steckten sie zusammen, und diese Stillen im Lande konnten dann, flüsternd und tuschelnd, mit ihrem schier unendlichen Gesprächsstoff kaum fertig werden. Schade, daß es sich nicht mehr feststellen läßt, worüber so heiß und eifrig geschwatzt wurde. Ferdinand, dessen Erinnerungskraft an die Kindheit so staunenswert stark ist, trägt von Weber nur mehr ein bläßliches Bild in sich. Einen langen Jungen sieht er, viel größer als sich selbst, um dessen spindeldürre Glieder die blaue Kadettenuniform mit den roten Aufschlägen täppisch schlottert. Das frühe Ende stand ihm ins Gesicht geschrieben. Von all dem Geflüster trägt Ferdinand nur einen Gegenstand mehr im Gedächtnis, und zwar den Schild des Achilles. In der zweiten Klasse, durch ein diesbezügliches Lesestück angeregt, faßten sie beide den Plan, aus Pappe, Stanniolpapier und mit Wasserfarben des Peliden Wehr rückzuerschaffen. Selbstverständlich mußte dieses poesievollen Planes Ausführung vor der höhnischen Mehrheit geheimgehalten werden, was manche Ungelegenheit bereitete. Ferdinand erinnert sich, daß Idee und Zeichnung von ihm stammten, während Weber mit seinen geschickten Schneiderhänden, dem kunstreichen Hephaistos gleich, den handwerklichen Teil übernahm. Ob aber aus dem Schild des Achilles etwas Rechtes geworden ist, das bleibt mit anderen Dingen im Dunkel der Zeiten versunken.

Klar jedoch steht Steidler vor Ferdinand, Steidler, der einzige wahrhafte Feind, der ihm im Leben begegnet ist. Wohlgemerkt, eine wirklich große Feindschaft finden, ist ebenso schwer wie eine wirklich große Liebe. Zum Begriff der reinen Feindschaft gehört es vor allem, daß sie nicht motiviert sei. Was aus Ursachen, aus Erniedrigungs-, Beleidigungs-, Rachegefühlen emporsteigt, kann noch nicht zu der reinsten Form der Feindschaft gerechnet werden. Diese muß aus dem Nichts hervorbrechen, aus den Abgründen tierhafter Antipathie, aus den mordtrunkenen Tiefen der Verneinung. Es gibt drei Stufen: Die Feindschaft der Überlegenheit, die Feindschaft der Unterlegenheit, dann erst kommt die absolute Feindschaft, die Feindschaft Steidlers gegen Ferdinand. Es begann damit, daß Steidler am zweiten Schultag in der Mittagspause durch den leeren Schlafsaal ging, um etwas aus seinem Schrank zu holen. Da man hier erst eine Nacht zugebracht hatte und einander noch nicht genau kannte, wußte Steidler wohl nicht, wer der Inhaber dieses oder jenes Bettes sei. Er kannte nur seine eigene Schlafstelle. Da sah er, daß auf einer der Matratzen ein Kadett sein hübsches Ledernecessaire vergessen hatte, was gewiß ein ordnungswidriger Umstand war. Aber nicht dies erregte den Ärger des Knaben. Etwas Unbestimmtes brachte ihn in Harnisch, vielleicht die Form des Gegenstandes, vielleicht eine Erinnerung, vielleicht nur Bosheit, die sich seiner bemächtigte. Er sah sich um, ob er allein im Saale sei, dann schleuderte er das Lederkästchen auf die Erde, so daß die Flasche mit dem Mundwasser zerbrach und die übrigen Bestandteile ringsumherrollten. Da in diesem Moment ein paar Kadetten, darunter auch Weber, eintraten, entfernte sich Steidler pfeifend, als wisse er von nichts. Das mißhandelte Ding war ein Abschiedsgeschenk Barbaras an Ferdinand.

Beim ersten Abteilen der Klassenkompagnie, die nach dem Körpermaß erfolgte, zeigte es sich, daß Steidler der längste Mann der Klassenkompagnie war. Kein Wunder, zählte er doch um einundeinhalbes Jahr mehr als die anderen Schüler. Vorher hatte er schon die unterste Klasse einer Realschule besucht, die er aber aus unbekannten Gründen verlassen mußte. Er war ein sehr hübscher Junge, unbeschadet dessen, daß er eine fast lächerlich lange Oberlippe und ein aufgeworfenes Näschen besaß. Das Haar trug er immer drei Millimeter kurz geschnitten. Obgleich er einen ziemlich trägen Schüler und von Anfang an das Haupt aller Missetäter vorstellte, wurden ihm die Lehrer-Offiziere, mochten sie ihn auch gebührend bestrafen, doch nicht gram. Sie verziehen ihm seine Faulheit, weil er sehr geistesgegenwärtig war und sich in den körperlichen Übungen durch Geschick und Mut auszeichnete. Trotz aller Einwände sah der Lehrkörper in ihm einen künftigen Prachtoffizier. So gelang es ihm, einen mittelmäßig guten Rang zu halten, wo ein anderer in die Unterwelt der Hoffnungslosen gerutscht wäre. Auch blieb er der einzige unter den Schülern, den das vernichtendste Schimpfwort einer Militärklasse nicht traf: »Zivilist!«

Der Haß Steidlers gegen Ferdinand entlud sich nicht in einer täglichen Folge kleiner Hecheleien und Gemeinheiten, er kam nur auf einigen Höhepunkten zum Ausbruch. Lange Wochen und Monate zogen vorüber, in denen die beiden zwar nicht viel miteinander sprachen, aber den üblichen Verkehr pflogen wie alle andern. Einmal hatte es sogar den Anschein, als versuche es Steidler, sich Ferdinand und Weber zu nähern. Sein Haß verriet neben jener abgründigen Wurzel noch eine zweite Seite, die man fast »politisch« nennen könnte. Wurde Ferdinand auch über die Achsel angesehen, er bildete doch mit Weber eine Partei. So winzig sie auch blieb, es war die Partei der Andersgearteten, der Träumerischen, der Beschaulichen, der Nichtbeteiligten, in denen sich vielleicht schon der hochmütige Keim des Geistes verbarg. Steidler hingegen war Anführer des grausamen Lebens, Held aller Lausbübereien, unternehmend bis zum Verbrecherischen, dennoch aber stets Vertreter der großen Partei, die ihm schmeichlerisch huldigte. Selbst der Klassenprimus war gezwungen, vor ihm zu kriechen. Er sah in Ferdinand den einzigen Widerpart, der nicht überwunden war und der, was ihn noch mehr erbitterte, gar keine Möglichkeit bot, ihn zu unterwerfen.

Die erste Entladung der Feindschaft war nichts als eine grenzenlos rohe Niedertracht. Sie spielte sich im Sommersemester des Anfangsjahres ab. Als die Klasse aus einem Lehrzimmer des zweiten Stockwerkes in den Exerzierhof hinabstieg und das Stiegenhaus vom Gepolter laut erschallte, drängte sich Steidler dicht an Ferdinand heran. Während er ruhig mit einem anderen sprach, packte er unversehens die Hand seines Gegenspielers und drehte sie schnell im Gelenk um. Aufschreiend und dann wimmernd fiel Ferdinand um. Die verstauchte Hand schwoll sofort an. Untersuchung und peinliches Verhör folgte. Der Angriff war so blitzschnell vor sich gegangen, daß sich Ferdinand selbst nicht ganz im klaren über Steidlers Roheit war. Er verriet ihn nicht. Der Frevler ging leer aus, da der Klassenkommandant an einen unglücklichen Zufall glaubte. Steidler ließ die Gelegenheit vorübergehen, sich offen zu seiner Grausamkeit zu bekennen. Moralischer Feigling, der er war, blieb er im Dunkel und pfiff noch frecher als vorher (pfeifen war streng verboten) den Fledermauswalzer, wenn er über die Gänge lief. Bezeichnend für den niedrigen Geist dieser Gemeinschaft war es, daß selbst diejenigen, die den wahren Hergang erkannten, Steidlers Feigheit für selbstverständlich hielten und Ferdinands Schweigen nicht hochachteten. Den Gipfel der Frechheit aber erklomm der Sünder mit dem Ausspruch, der Verletzte sei ein wehleidiges Weib und man müsse den Verkehr mit ihm abbrechen. An dem Tag dieser Affäre fehlte Weber. Wenige Monate Militärerziehung hatten genügt, und er mußte immer länger das Marodenzimmer hüten.

Eine andere, minder rohe, doch wahrhaft teuflische Freveltat Steidlers fällt in die Zeit, da er sich an Ferdinand merklich heranmachte und, hochfahrend zwar wie immer, dennoch unverkennbar sein Vertrauen suchte. Es muß vorausgeschickt werden, daß Ferdinand an einem wirklichen moralischen Mangel leidet. Empfindet er auch übermäßig die Qual, unrecht zu tun, so bringt er doch die sittliche Kraft nicht auf, sich zu empören, wenn ihm Unrecht geschieht. Damals tat ihm Major Krispin, der Mathematiklehrer, gewiß Unrecht, denn alle wußten, daß er ihm aufsässig sei. Wenn Ferdinand auch kein besonderer Mathematiker war, so verdienten andere das Halbjahrs-Nichtgenügend und die bedeutende Rangverschlechterung weit mehr. Während der Zensurverteilung sah man, daß Steidler leidenschaftlich auf Ferdinand einredete. Krispin, ein kalter, mechanischer Mensch, stand auf dem Katheder und schnallte seinen Säbel um. Dies war ein Zeichen für den rangältesten Kadetten, mit krähender Stimme »Habt acht!« zu kommandieren. Die Klasse fuhr starr empor.

»Will jemand noch etwas wissen?« fragte der Offizier. Ferdinand fühlte sich von erpresserischen Händen aus der Bank geschoben. Ratlos trat er vor die Reihe und nahm Stellung:

»Herr Major, ich melde gehorsamst, daß ich dem Herrn Major für seine gütige Strenge gehorsamst danke.«

Es waren genau die Worte, die Steidler vorher ihm wohl fünfmal eingetrichtert hatte. Warum sprach er sie aus? Weil er sich mangelnder mathematischer Kenntnisse schuldig glaubte? Oder war er hilflos einer Suggestion des Bösen erlegen? Noch heute bildet dieser Satz, den er, keine zwölf Jahre alt, bei der Zeugnisverteilung hervorgestoßen hatte, für Ferdinand ein ungelöstes Problem. Manchmal neigt er dazu, sich den guten Glauben zuzubilligen, manchmal ist er mit seinen damaligen Kameraden einig und hält sich für einen bodenlosen Dummkopf. Ja, die ganze Klasse wieherte, aller militärischen Mannszucht zum Trotz, nach der blamablen Danksagung schrill auf. Krispin witterte anfangs in dieser demütig-blöden Ansprache eine unerhörte Frechheit. Als er aber eine Weile lang Ferdinands helles und trauriges Gesicht betrachtet hatte, zog er den beredten Schnurrbart zu einem säuerlichen Lächeln zusammen und klirrte ab. Das Gejohle schäumte von neuem auf. Steidler aber ging im Triumph von einem zum andern:

»Dieses Rindvieh! Die Festrede ist von mir. Ich hab sie ihm eingeschwätzt ...«

Ferdinands Selbsterniedrigung hatte bei der Klasse eine Trunkenheit ausgelöst, die gar kein Ende nehmen wollte. Jetzt stand Steidler auf dem Katheder und schmückte die Szene parodistisch aus. Ferdinand aber saß, von seinen eigenen Worten betäubt, still in der Bank. Die Sache nahm einen dramatischen Verlauf, denn Weber beschloß, seinen Freund zu rächen. Er litt an einem ähnlichen langsamen Begreifen wie Ferdinand. Alles, was er tat und sagte, schien deshalb nachzuklappen und hatte eine ruckweise Art. Auch jetzt hätte niemand seine Absichten vermutet, als er ruhig aufstand und mit seinem langsam-wiegenden Gang zum Katheder trat. Steidler ließ sich nicht beirren. Weber aber ergriff vorsichtig ein Tintenfaß, das auf dem Tisch stand, und schleuderte es unversehens auf Steidler. Der Wurf war gut gezielt. Dem Feinde troff die Tinte vom Gesicht und verdarb seine Sonntagsmontur. Eine grobe, aber gelungene Rache, gegen die es keine Berufung gab, denn eine Anzeige hätte den Kläger mit ins Verderben gezogen. Steidler warf sich auf Weber, und im Nu war von allen Seiten eine rasende Schlacht entbrannt. Der Ansturm galt aber nicht nur den beiden Außenseitern. Die Wut und Erbitterung, die alle gegen alle während des Semesters in sich aufgestapelt hatten, kam zum Ausbruch. Einzelne Paare verbissen sich brüllend ineinander. Steidlers Anhang, eine feige Übermacht, riß Ferdinand und Weber zu Boden. Wer weiß, wie es den beiden ergangen wäre, hätte nicht Major Krispin seine scharfe Stimme wie eine Peitsche zwischen die Kämpfer sausen lassen. Er betrachtete von der weit aufgetanen Tür aus in strammer Stellung die Rauferei:

»Ruhe! Affenhorde! Ich werd euch alle über die Ferien einsperren!«

Und er fügte hinzu, was eine ständige Lieblingsfrage von ihm war:

»Bin ich hier in einer Judenschul'? So ein Sauhaufen! Kehrt euch, marsch hinaus!«

Alle entwischten lautlos-geschmeidig an dem ragenden Major vorbei, Steidler, indem er ängstlich hinter dem Rücken eines Vormanns seine Tintenschmach verbarg. Mit der Entfernung von dem Büttel wuchs der Lärm wieder. Die Kadetten donnerten in ihren Schlafsaal hinein. Jetzt aber kümmerte sich keiner um den anderen mehr. Die Semesterferien, drei Tage, waren bedroht, denn dem Krispin durfte man es zutrauen, daß er sein Versprechen, die ganze Klasse einzusperren, noch im letzten Augenblick wahrmachen werde. Jeder suchte seine Sachen zusammen, um so schnell und unauffällig wie möglich sich aus dem Hause zu schleichen. Eltern und Verwandte warteten schon auf die Buben. Nur Ferdinand blieb zurück.


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