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Neuntes Kapitel.
Eine Vision vom Papst

Nun war Ferdinand längst schon Leutnant.

Der arme Junge, der sich sein Lebtag immer selber die Schlafstätte aufgeräumt, Kleider und Stiefel geputzt hatte, besaß nun einen Diener, der fanatisch für ihn sorgte, Kaffee kochte, wusch und nähte. Josef Stepanek hieß der aufgeweckte Bursche, der sich diesen unverwöhnt-bescheidenen Herrn wohl zu schätzen wußte. Aber nicht nur einen Diener besaß jetzt der ehemalige Hungerstudent und Hauslehrer. Während des Stellungskrieges zumindest aß er an einer für seine Vorstellung üppigen Tafel. Er bekam täglich fünfundzwanzig gute Zigaretten verabfolgt (Egyptische dritter Sorte), Wein, Schnaps, Schokolade, wenn es der Nachschub wollte, und zu alledem noch die Leutnantsgage samt Feldzulage, die sich in seiner Brieftasche unberührt zu einem Kapital anhäufte.

Den Krieg hatte er an vielen Abschnitten der Ostfront und vier Wochen lang auch am Isonzo kennengelernt. War eine Katastrophe glücklich überstanden, schien ihm sein Los nicht unerträglich zu sein. Einmal wäre er fast in Gefangenschaft geraten. Das war bei den Kämpfen um die berühmte Worobiowkahöhe, wo die Russen die letzte gewaltige Anstrengung vor der Revolution machten, um die österreichische Armee zu vernichten. Ferdinand hatte sich, so unsinnig das klingen mag, an den Krieg gewöhnt. Aber dies ging auch anderen so, denn mit der Zeit verwandelte sich das ungeregelte Grauen der ersten Monate in ein gleichmäßiges Grauen, das manchem gar nicht mehr auffiel. Der eigentümlichen Dumpfheit seines Wesens gemäß, meinte Ferdinand fast, es gebe kein andersgestaltiges Leben jetzt in der Welt als dieses, und alles werde so weitergehen bis ans Ende der Tage. Seine Kameraden hielten ihn für einen Glückspilz, denn er war bis auf einige Kratzer und Streifschüsse niemals verwundet worden und aus ein paar ganz verfluchten Situationen unversehrt entkommen. Vielleicht hatte ihn Barbaras Gebet, wie einst in seiner Kindheit, vor dem Tode bewahrt. Alle zwei Wochen jahraus, jahrein schrieb er an seine alte Kinderfrau einen Brief oder eine Feldpostkarte, und pünktlich traf immer die Antwort ein. Hätte jemand diesen Briefwechsel gelesen, er wäre über die Trockenheit erstaunt gewesen, die sich darin kundgab. Ferdinand klagte niemals, und Barbara verhüllte ihre Klagen, um ihren Liebling nicht in Unruhe zu versetzen. Nur einmal hatte sie geschrieben, Franta sei nun auf seinem zweiten Urlaub zu Hause. Dieser Mitteilung aber war keineswegs der Wunsch beigefügt, der »junge Herr« möge sich dies zu Herzen nehmen.

Um die Wahrheit zu gestehen, Ferdinand empfand innere Widerstände gegen die Tatsache eines Urlaubs. Was für alle andern die süßeste Gnade Gottes bedeutete, dem stand er mit Angst und Zagen gegenüber. Urlaub? Barbara? Er hatte sie so viele Jahre nicht mehr gesehen. Sollte er als ein Entfremdeter, Entwachsener in jenem armen Anwesen plötzlich auftauchen und den Leuten dort zur Last fallen? Er wußte zwar wohl, daß diese Ausrede der Wahrheit nicht entspreche. Irgendeine Schwere hielt ihn zurück, der Müdigkeit eines Wanderers gleich, der ins Gras gesunken ist und nicht mehr die Kraft hat, weiterzugehen. Als aber jener Brief mit der Andeutung von Frantas Treue eintraf, entschloß er sich endlich, um Urlaub zu bitten. Dies fiel in die Zeit, die knapp vor seiner Beförderung zum Kadettaspiranten lag. Es war schon alles in Ordnung, die Marschroute aufgestellt, das Verpflegungsgeld ihm eingehändigt, der übernächste Tag zur Abreise bestimmt, als es ihm einfiel, er könnte in einer üppigen Ortschaft der Umgebung für Barbara ein Geschenk erwerben, einen Schinken etwa, wie man ihn von den pfiffigen Rechnungsunteroffizieren der Provianturen insgeheim kaufen konnte. Er machte sich also auf und marschierte nach dem Städtchen, wo das Divisionskommando untergebracht war. Dort wandte er sich an den erstbesten Bekannten und hielt eine halbe Stunde später den schweren wohlverpackten Schinken im Arm. Jetzt erst ergriff ihn ein würgender Glückszustand, eine wirblige Erregung. Nur mehr zwei Nächte im Unterstand, und drei oder vier Tage später wird er Barbara wiedersehen. Er verstand es nicht mehr, daß er diese Sehnsucht, die ihn jetzt außer sich brachte, so lange unterdrückt hatte. Er begann, die Augen auf den Boden heftend, über die löchrige Straße zu springen, um so bald wie möglich draußen in der Stellung einzutreffen. Vielleicht spürte er die Gefahr, die ihm von dieser Ortschaft hier drohte. Plötzlich hörte er ein wüstes Geschrei hinter seinem Rücken:

»Einjähriger! Halt! Bleiben Sie stehen, Sie idiotische Feldlaus, Sie nichtswürdige Amphibie, Sie!«

Ferdinand fuhr zusammen, machte scharf die Kehrtwendung und starrte mit dienstlicher Bewegungslosigkeit den Verfolger an. Es war ein Dragoneroberst, der den Einjährigen mit erbitterten Basiliskenaugen fraß:

»Das werden Sie mir büßen, Sie unverschämter Schimpanse! Wissen Sie, wer ich bin? Ich bin der Oberst Graf Sedwitz! Wiederholen Sie das sofort! So, jetzt wissen Sie, wer ich bin, Sie aussätzige Baumwanze! Warum haben Sie mir die Ehrenbezeigung nicht geleistet? Ich frage, warum haben Sie mich ignoriert und sind drei Schritt an mir ohne Gruß vorübergetorkelt wie ein paralytisches Känguruh?!«

»Herr Oberst, ich melde gehorsamst, daß ich den Herrn Oberst nicht bemerkt habe.«

»Was? Wagen Sie auf die Nichtachtung noch so eine Frechheit zu häufen?! Nicht bemerkt? Wer bin ich und wer sind Sie? Wie können Sie sich erdreisten, mich zu bemerken oder nicht zu bemerken, Sie verrotztes Nichts?! Wie heißen Sie?«

Wenn Ferdinand jetzt irgendeinen Namen und eine beliebige Kompagnie angegeben hätte, wäre die Sache vielleicht im Sande verlaufen. Er aber war so niedergedonnert, daß er die haargenaue Wahrheit sprach. Der Verfolger wußte sogleich den Namen des Regimentskommandanten. Er fauchte:

»Melden Sie sich sofort auf meinen Befehl beim Herrn Oberstleutnant! Ein Dienstzettel folgt nach, Sie Jammergestalt, Sie! Kehrt euch! Abfahren!«

Am nächsten Tag mußte der Verklagte zum Regimentsrapport antreten. Jener schläfrige Oberstleutnant, dessen Lieblingsthema der Urlaubsentzug als Disziplinarstrafe war, fühlte sich in seinem Element:

»Als intelligenten Menschen«, verkündete er, »kann ich Sie nicht anbinden lassen. Außerdem bin ich ein geschworener Feind körperlicher Züchtigungen. Was also soll ich mit Ihnen machen? Helfen Sie mir selbst! In welchen Monat fällt ihr rechtmäßiger Urlaub?«

»Morgen ist mein Urlaubsantritt.«

Die wasserblauen Augen des Oberstleutnants strahlten bei dieser erfreulichen Aussicht:

»Sehen Sie, sehen Sie, das trifft sich ja ausgezeichnet! Besser könnt's gar nicht kommen. Also diesen Urlaub schlagen Sie sich für die nächsten sechs Monate aus dem Kopf. Damit ist uns beiden geholfen. Sagen Sie mir nicht, ich soll eine andere Strafe ausfindig machen! Daheim in der Kaserne würde ich Sie auf vierzehn Tage einsperren. Aber kann man jemanden im Felde einsperren? Nein! No, sehen Sie! Als logisch gebildeter Mensch sind Sie derselben Meinung, Feldwebel! Nehmen Sie dem Freiwilligen die Marschroute ab!«

Als Ferdinand die Stätte dieses Urteilsspruches verließ, brach er in wütende Tränen aus. Prechtl schüttelte den Kopf:

»Unglücksmensch, warum haben Sie nur diesen Berserker übersehen? Sie sind wirklich einer der ungeschicktesten Opferknaben, die mir in meiner Praxis begegnet sind.«

Er schaute den Opferknaben traurig an, dachte eine Weile nach, ob sich etwas machen lasse, und sagte zuletzt resigniert:

»Der erste Urlaub! So ein blödes Pech ...«

Ferdinand überwand binnen einigen Stunden seinen Schmerz. Den Schinken sandte er durch einen Urlauber an Barbara. Als die sechs Monate um waren, hatte man der Ereignisse wegen gerade alle Urlaube eingestellt. Auch war Ferdinand in jenen Tagen zum Fähnrich aufgerückt und übernahm die Führung einer Halbkompagnie, weshalb er schwerer um eine Erholungsfrist bittlich werden konnte. So kam es, daß er während dieser Jahre nur kurze vierzehn Tage im Hinterland zubrachte, als er nämlich zu einem Schallmeßkurs nach Hajmáskér in Ungarn abkommandiert worden war. Damals stand er dicht vor dem Avancement zum Leutnant.

Hauptmann Prechtl wurde zweimal verwundet. Fast ein volles Jahr verblieb er in Heimatsverwendung. Als Major kehrte er, nunmehr Regimentskommandant, zur Truppe zurück. Dies geschah im Frühjahr des Jahres 1917, in den Wochen, die der blutigen Kerenskioffensive vorausgingen. Ferdinands Regiment stand jetzt wieder im Osten Galiziens, im Raume von Zbirow, nachdem es im Vorjahr an der italienischen Front drei volle Bataillone eingebüßt hatte. Major Prechtl feierte mit Ferdinand ein herzliches Wiedersehen:

»Servus, lieber Freund! Laß dich anschaun! Man kann nicht gerade sagen, daß du besonders gut aussiehst. Wann hast du die letzte Erholung gehabt?«

»Eigentlich, Herr Major ... noch gar keine ...«

»Was? Herrgott ... ich hab mir ja immer gedacht, daß in dir ein stiller Wahnsinniger stecken muß. Morgen also gehst du auf Urlaub!«

Ferdinand erschrak:

»Herr Major ... Aufrichtig ... mir wär's später lieber. Jetzt möcht ich ganz gern hierbleiben ...«

Prechtl schaute ihn entgeistert an. Ein Frontsoldat, der sich um den Urlaub herumdrückt, das war ihm noch nicht vorgekommen. Dann aber fiel ihm ein, daß der Sohn seines ehemaligen Kommandanten vielleicht niemanden habe, bei dem er die freie Zeit zubringen könne, für solche Fälle gab es schließlich einen Ausweg:

»Hierbleiben? Nein! Daraus wird nichts. Ich werde dich zum Doktor schicken, damit er dir ein Erholungsheim verordnet.«

»Herr Major, ich fühle mich gesund. Ich habe sicher keine Erholung nötig.«

»Soso? Was Sie nicht sagen!«

Der Major wechselte aus dem kommoden in den dienstlichen Ton hinüber:

»Herr Leutnant! Merken Sie auf! Morgen geht die fünfzehnte Kompagnie nach Złoczów auf Retablierung. Der Oberleutnant Rotgerber hat um Urlaub angesucht, den er hiermit bekommt. Sie übernehmen das Kompagniekommando! Fertig, Schluß! Suchen Sie sich in Złoczów ein angenehmes Zimmer und legen Sie sich gefälligst auf die faule Haut! Jede Widerrede werde ich als Gehorsamsverweigerung und Meuterei auffassen!«

Der Zufall wollte es, daß Ferdinand während der Retablierung ein prächtig hochgewölbtes Zimmer in einem alten Stift zugesprochen bekam. So glanzvoll hatte er noch niemals gewohnt. Jetzt erst begann er zu fühlen, wie müde ihn diese drei Kriegsjahre gemacht hatten. Ein paar Tage lang stand er gar nicht auf und genoß das gute, breite Bett mit den weichen Linnen. Sein Dienst bestand in nichts anderem als in der Fertigung von Verpflegslisten und in der lässigen Entgegennahme der alltäglichen Meldung, daß alles in Ordnung sei. Josef Stepanek, der Pfeifendeckel, überbot sich in Einfällen, seinem Herrn das Leben lebenswert zu machen. Sie hatten schwere Tage gemeinsam durchlitten. Josef setzte in seine Verführungskünste die Hoffnung, der Leutnant werde solch angenehme Verhältnisse nicht leicht mit dem Schützengraben vertauschen.

Eines Tages ging Ferdinand durch die schöne Lindenallee, die sich außerhalb der Stadt Złoczów erstreckt. Da hörte er scharfes Geschnarre, jene militärische Lautfolge, die ihn zwar nicht mehr vor Angst, aber vor Widerwillen erzittern ließ. Er sah einen langen strammen Artillerieoffizier, der einen dicklichen Kanonier beschimpfte. In dem Offizier erkannte Ferdinand sogleich jenen ehemaligen Fähnrich, der in der Weinstube »Zum Richtkreis« kriegswütige Reden gehalten und seine Zeche nicht bezahlt hatte. Jetzt spuckte der Stramme vor dem Dicken aus, ließ ihn verächtlich stehen und federte davon, wobei seine großen Sporenräder ein aufreizendes Geklirre verursachten. Der Beschimpfte rührte sich nicht und hielt noch immer den Kopf eingezogen.

Ferdinand fühlte ein ungewöhnliches Mitleid mit dieser Jammergestalt. Dann sah er schärfer hin, griff sich an den Kragen und fing zu laufen an:

»Engländer!« schrie er. »Engländer!«

Alfred Engländers dicke Backen wurden totengelb und begannen zu beben. Ferdinand umhalste ihn stürmisch. Schlaff aber lag der Freund in seinen Armen.

»Ach Engländer! Wie ist das nur möglich? Wie kommst du daher? Du in Uniform, Ärmster! An so etwas hatte ich wahrhaftig nicht gedacht! Komm, komm! Du wirst selbstverständlich bei mir wohnen!«

Der Kanonier sandte einen kurzen, bedeckten Blick aus:

»Wie befehlen Herr Leutnant, daß ich Herrn Leutnant nenne?« Ferdinand trat einen Schritt zurück. Er lachte zwar, aber mehr aus Entsetzen darüber, daß auch dieser große Geist, dem er so viel zu verdanken hatte, von der Vorgesetztenpsychose befallen war. Er faßte Engländer beim Arm und zog ihn mit sich. Die Welt war vergoldet, das Herz aufgetan. Vielleicht konnte er ein Tausendteil seiner Dankesschuld jenem edlen Menschen abtragen, der ihn aus seinem Loch ans Tageslicht gezogen hatte. Er fragte, wunderte sich und schwatzte immerzu, während Alfred Engländer, angstvoll schweigend, an seinem Arme weiter wankte.

Das erste, was in Ferdinands schönem Zimmer geschah, war, daß Engländer, von einem schweren Weinkrampf geschüttelt, zu Boden sank. Er gab keinen Laut von sich, aber mächtige Stöße rissen den korpulenten Menschen hin und her. Der ratlose Ferdinand kniete bei ihm nieder, ergriff seine Hände und streichelte sie. Es dauerte eine gute Weile, ehe sich Engländer so weit beruhigt hatte, um in langpausigen punktlosen Sätzen einiges über sein Schicksal zu berichten. Vor mehr als neun Monaten war er zur Ersatzbatterie eines Haubitzregiments eingezogen worden. Schon in den ersten Tagen zeigte sich seine völlige Untauglichkeit für den militärischen Dienst. Der Hohn aber, mit dem ihn seine Vorgesetzten verfolgten, steigerte diese Untauglichkeit ins Aberwitzige. Er selber könne sich sein lächerliches Versagen gar nicht erklären. Dümmere und selbst ungeschicktere als er hätten spielend die übliche Stufenleiter erklommen, während man ihn schon im Laufe der dritten Woche aus der Offiziersschule verbannt hatte. Aber auch unter der gewöhnlichen Mannschaft, gestand er, war der Verfolgung kein Ende gewesen. Als man ihn dann später in die Kanzlei steckte, beging er auch dort so schwere dienstliche Fehler, daß man ihn ebenfalls aus diesem staubigen Tempel verwies. Das Furchtbarste aber sei, daß sein grausames Schicksal nicht äußeren und offenen Widerständen entstamme, sondern einer inneren krankhaften Ohnmacht dem Soldatenwesen gegenüber. Er wisse genau, wie alles zu handhaben sei, dürfe aber nicht diesem Wissen gemäß handeln, denn eine dunkle Kraft zwinge ihn, sich wie ein Kretin zu benehmen. Seine Natur, der alleräußerste Gegensatz aller Kriegernatur, könne mit dem Militärischen nicht die leiseste Verbindung eingehen. So heiße denn sein einziger Gedanke bei Tag und Nacht: Selbstmord! »Vor etwa drei Monaten«, nun erzählte er schon gefaßter, »habe ich das große Glück gehabt, mir den Fuß zu brechen. Ich komme ins Rudolfinerhaus nach Wien, liege dort vier Wochen, humple weitere drei Wochen an Stöcken. Leider sehe ich, daß mein Fuß in unerbittlicher Geschwindigkeit heilt. Ich gebe aber das Hinken nicht auf, ein paar Ärzte begreifen mein Leid, und man behält mich wegen orthopädischer Behandlung noch im Spital. Das Glück macht mich übermütig. Es ist sehr widerwärtig, die Nacht mit zwanzig Leuten in einem Krankenzimmer zu verbringen. Ich komme darauf, daß die Torwache jedermann gegen eine kleine Bestechung am Abend entwischen läßt. Man muß nur die Kopftafel über dem Bette umdrehen, damit niemand Verdacht schöpft. Ich werde frecher und frecher. Keine Nacht schlafe ich mehr im Krankenhaus. Die Katastrophe aber, die ich dunkel vorausfühle, tritt pünktlich ein. Es sind noch keine drei Wochen her. Razzia des Militärkommandos in der Nacht! Man ist den Spitalsinsassen auf ihre Praktiken gekommen, auch auf die umgewendeten Kopftafeln. Die nächtliche Inspektion besichtigt die meinige ... usw. Am nächsten Tag neuerliche Untersuchung in Gegenwart eines hohen Offiziers. Ich werde mit einem Uriasbrief zur Ersatzbatterie geschickt: Strafweise als Einzelreisender ins Feld, lautet er. Vor einigen Tagen treffe ich draußen bei der Batterie ein. Ein Wehgeschrei erhebt sich über diesen berüchtigten Zuwachs. Das ist ja noch günstig. Man stellt mich sogleich mit bestem Dank dem Regimentskommando zurück. Auch dort behandelt man mich wie Unrat, der nicht schnell genug aus dem Weg geräumt werden kann. Ich erhalte einen Fußtritt und einen Dienstzettel: Der Reservekanonier Alfred Engländer – so etwas gibt es – wird der Reparaturwerkstätte des Regiments als Kanzleiordonnanz zugeteilt. Und nun bin ich hier in Złoczów, räume den Feuerwerkern das Zimmer auf, kehre den Hof, lasse mich von einem viehischen Oberleutnant anschnauzen und muß noch zufrieden sein, wenn man mir nicht befiehlt, die Latrinen zu reinigen ... Und so sitze ich nun auch bei dir, mein lieber Ferdl«, schloß er, ohne ein neues Weinen zurückwürgen zu können.

»Hast du Hunger?« Dies war die erste Frage, die Ferdinand an seinen Freund stellte. Er ahnte, was der verwöhnte Mann unter der Mannschaftskost gelitten haben mochte. Der vollkommen eingeschüchterte Engländer sah nur stumm zu Boden. Der Leutnant aber schickte seinen Burschen in die Offiziersmesse. Josef möge bringen, was sich zu dieser Stunde nur ergattern lasse. Eine Weile später stand eine treffliche Mahlzeit von einigen Gängen auf dem Tisch. Der Ausgehungerte konnte seine Gier nicht verbergen. Ferdinand entschloß sich, noch heute mit dem unsympathischen Offizier zu reden, um ihm klarzumachen, welch ein Mann zu seiner Ordonnanz verdammt sei. Der Oberleutnant war glücklicherweise gut gelaunt: »Willst du deinen hervorragenden Philosophen bei dir behalten? Gerne geschehen! Ich lege nicht das geringste Gewicht auf intellektuelle Ofenheizer. Schick mir ihn wieder, wann du magst ...«

Als Ferdinand mit dieser Glücksbotschaft heimkehrte, konnte sich der Gequälte nicht fassen. Doch auch sein Glück noch war verfinstert von Unheilsahnungen und spitzfindigen Einwürfen der Angst.

Wunderschöne Tage! Die Freunde wohnten, schliefen, speisten zusammen und machten alltäglich lange Spaziergänge. Manchmal ließ Ferdinand den kleinen Kutschierwagen anspannen, den die Kompagnie mit sich führte. Das Wonnegefühl, der Gebende zu sein, durchströmte sein Gemüt. Langsam erwachte auch in Engländer die geknickte Freiheit. Er begann nun wieder Reden zu halten und zu philosophieren. Ferdinand sah diesem Erwachen mit der Freude eines guten Arztes zu, der die Genesung seines Patienten beobachtet.

Auf einer der Spazierfahrten sprach Alfred Engländer vor sich hin:

»Wenn in einem Menschen der Mensch zertreten wird, so wird auch Gott in ihm zertreten. Gott stirbt. Es ist nicht wahr, daß Leiden und Prüfung den Glauben stärken. Im Gegenteil! In mir wenigstens ist schon seit neun Monaten Gott verschmachtet. Erst jetzt wieder beginne ich ihn leise zu spüren. Wie kann denn eine Menschheit, in der man die Menschheit und somit die Gottheit zertritt, an Gott glauben? Sie ist sein Massengrab!«

Nach einer Woche der Gemeinschaft etwa kehrte in Engländers Reden auch wieder der alte Witz heim. An einem berauschend warmen Morgen entschlossen sich die Freunde, den ganzen Tag im Freien zu verbringen. Da gab es in der Nähe der Stadt einen Hügel, der weder befestigt noch von Infanterie- oder Artilleriestellungen versehrt war. Die sogenannte dritte vorbereitete Linie lief hinter dem Bühl und tat ihm nichts an. Josef wurde beauftragt, einen Eßkorb in der Offiziersküche zusammenstellen zu lassen. Es gelang ihm, unglaubliche Mengen von kaltem Braten und Kuchen zu erbeuten, als müßte ein ganzer Divisionsstab damit verpflegt werden. Die Höhe selbst war mit alten väterlichen Linden bestanden, die gerade zu blühen begonnen hatten, den tiefen und edlen Duft ihrer Seele in die Welt sendend. Oben auf der Hügelkuppe hatte man die Empfindung, auf dem Gipfel eines hohen Berges zu stehen, denn so abgeschieden, so herausgehoben aus der kriegsbesudelten Umwelt glich die kleine Hochfläche einem antiken Weihtum. Selbst die Luft, obgleich sie keine hundert Meter über dem Tal stand, hatte hier die Kraft und Durchstrahltheit der Alpengipfelsphäre. Ferdinand und Alfred legten sich auf dem östlichen Hang ins Gras und beschäftigten sich mit Essen und Schlafen. Der Mittag war schon vorüber, als Ferdinand durch das merkwürdige Gehaben Engländers geweckt wurde. Dieser lief hin und her, hielt die Hand vor die Augen und lugte feindwärts in die Ferne:

»Was ist das dort?«

»Das sind unsere Gräben ...«

Ferdinand, der durch den langen Kriegsdienst ein guter Soldat geworden war und die Stellungskarte im Kopfe trug, begann zu erklären:

»Dort im Norden bis zur Linie etwa, die man senkrecht auf jenen gekappten Fabrikschlot legen kann, steht eine deutsche Division. Gleich an die Deutschen schließt ein gemischtes Regiment an. Die Stellung ist etwas zu schütter, sie läuft vor Zbirow vorbei bis zur zweiten Talwelle rechts. Dann kommt das Pilsner Regiment, Tschechen, gefährliche Jungen, die nicht zuverlässig sind. Ihr Abschnitt geht bis zu dem Ort Jósefowka. Auf der nächsten Hügelkette liegen zwei bosnische Regimenter. Die winzig dunklen Flecke dort vorne sind die maskierten Stände der Abschnittsartillerie. Um sie zu ahnen, muß man schon sehr gute Augen haben.« Die Stellungen, deren Plan Ferdinand vor Engländer entwickelte, lagen von dem Hügel mehr als acht Kilometer entfernt und waren überdies in Silberdunst gehüllt. Nichts ließ sich unterscheiden. Nur eine nebelhafte Ahnung des Krieges zeigte sich, nicht er selbst. Die Geschütze wechselten in trägen Zwischenräumen ein paar gleichgültige Schrapnells. Hie und da mischte auch ein Mörser seine Stentorstimme in das gelassene Kampfgespräch. Engländer gab sich nicht zufrieden:

»Weiter! Und auf der anderen Seite?«

»Die einzelnen russischen Regimenter kann ich dir im Augenblick nicht nennen. Früher standen uns die Divisionen der Armee Brussilow gegenüber. Aber seit der Revolution im März hat sich alles verändert. Der Volkstribun Kerenski soll jetzt selbst das Kommando über diese Truppen ergriffen haben ...«

»Aber, was ist dazwischen? Zwischen den Gräben, meine ich.«

»Wo? Ich verstehe dich nicht recht, Engländer! Zwischen den Gräben liegen die Hindernisfelder. Der Abstand ist unregelmäßig und schwankt zwischen zwei oder auch nur einem halben Kilometer ...«

»Nein, ich meine etwas anderes«, erklärte Engländer und hob ein Zeiss-Zweiglas ans Auge, den einzigen kriegerischen Gegenstand, den er ins Feld mitgebracht hatte.

»Ich sehe etwas anderes«, brummte er und ließ sich nach einer Weile niederfallen: »Ich habe da vorhin ganz merkwürdig geschlafen.« Nun begann er im Sitzen wieder und wieder den Horizont abzugucken.

»Was siehst du denn?« wunderte sich Ferdinand.

Erst nach einer guten Weile gab Engländer Antwort:

»Das müßte ja hier nicht gerade Złoczów, Zbirow und Jósefowka sein, nicht wahr? Es könnte ganz gut auch etwas anderes sein ...«

»Etwas anderes?«

»Ja, Südtirol zum Beispiel, die Isonzofront, oder die Piavestellung, oder Verdun! Halt, Verdun ist am besten. Ich nehme an, daß dort Verdun liegt ...«

»Was heißt das? Was willst du mit Verdun?«

»Verdun, das ist doch die blutigste Front, nicht wahr? Da bollert es ganz anders als dort unten. Nehmen wir also an: Verdun!«

Ferdinand, der bisher auf dem Rücken gelegen war, setzte sich auf, Engländer aber tastete neuerdings mit dem Feldstecher die Ferne ab:

»Vielleicht sind bei Verdun die Hindernisfelder schmäler ... Ja, ja, selbstverständlich! Manche Gräben sind keine fünfzig Schritte voneinander entfernt. Ich seh es ganz genau ...«

»Was siehst du?«

»Ich sehe ihn«, sagte Engländer sehr ruhig, indem er das Binokel sinken ließ, ohne seine Augen von der leeren Weite abzuwenden: »Ich sehe ihn. Er geht allein und an der Spitze. Gehen ist ein falsches Wort. Sein Gang gleicht einem Zwischending von gebrechlichem Wanken und Über-der-Erde-Schweben. Übrigens ist er barfuß. Alle sind barfuß ...« Ferdinand war ganz wirr und empfand eine unheimliche Angst um Engländers Verstand. Der aber redete so gleichmütig, als brächte er keinen Wahnsinn vor, sondern die gewöhnlichste Sache von der Welt:

»Er ist jetzt nicht der römische Cäsar, aber das rechtmäßige Oberhaupt des Erdkreises mehr denn je. Mitra, Atlas, Pfauenwedel, ja, selbst den Fischerring hat er zurückgelassen. Nur etwas Glänzendes sehe ich, den Krummstab, auf den er sich stützt, sein Szepter und seine Krücke zugleich. Er trägt ein weißes Sterbe- und Büßerkleid und hinter ihm die Tausende ebenso, genau wie die frommen Juden am Versöhnungstag, ebenso wie Jehoschua, der Christus, es getragen hat, der Gott, der zugleich ein frommer Jude war. Vor vielen Tagen sind sie aufgebrochen aus dem Vatikan, aus dem großen Schmollwinkel. War das eine Nacht, die dem Wundermorgen voranging! Sie saßen zusammen, er, die Kardinäle der Ämter, alle italienischen Kardinäle, doch auch einige, die aus Frankreich und Spanien herbeigereist waren. Viele Bischöfe und Prälaten dazu! Manche von ihnen waren von hoffärtigem Nationalismus und von giftiger Kriegsphrase aufgebläht zum Zerplatzen. Als aber der Heilige Geist, der nach mystischem Gesetz in den Konzilien wirkt, über ihn kam, da ging ihnen ihr Hochmut aus und sie erschauerten. Er aber verfluchte die Diplomaten und ihre Dossiers, die Noten der Minister, die lügnerischen Verlautbarungen der Staaten, das zynisch-vollgefressene Zwischenträgergesindel in den neutralen Ländern, als wären sie der heuchlerische Feigenbaum, der nimmermehr Frucht tragen soll. Und als er die Akten, die Schriftstücke all, die vor ihm auf dem Tische lagen, zerrissen und mit Füßen getreten hatte, begann er, schluchzend seinen Glanz abzutun. Da aber ging in sein zerrissenes Weltenherz Christus ein und erfüllte die alten Nerven Benedikts mit Jugendschmerz und Jugendstärke, so daß er zu dem wahren Stellvertreter emporwuchs. Über die anderen aber – mehr als die Hälfte bestand aus hartherzigen, erzgescheiten, erdverbissenen Rationalisten –, auch über sie ergoß sich mit unwiderstehlicher Gewalt, angesichts des verklärten Hirten, die Reinheit ihres Amtes und ihrer Sendung. Auch sie entäußerten sich völlig, und in ihre Herzen zogen die Apostel ein. Als die Sonne aufstieg, folgten sie dem Führer und traten auf den Platz des heiligen Petrus hinaus. Schnell verbreitete sich die Kunde dieses Ereignisses in der Stadt. Das Volk strömte herbei. Man sperrte die Mäuler auf. Die intelligenten Leute rissen Witze, und der Intelligenteste rief dringend die psychiatrische Klinik an. Unbekümmert aber schritt Benedikt und die Seinigen dem Orte entgegen, wo einst das nördliche Tor der Ewigen Stadt emporragte. Die erregte Menge folgte schreiend und drängend. Aus der Menge aber löste sich plötzlich ein alter Landpriester, ein Bauer mit morschen Zügen, weiter nichts. Und er fiel vor dem heiligen Wandel der apostolischen Fürsten auf die Knie und bat, sie möchten ihn mit sich nehmen. Und wirklich, zwei Kardinäle hoben den Alten auf und führten ihn vorwärts. Daraufhin kamen die Kleriker von allen Seiten, Pfarrer, Kapläne, Mönche, und schlossen sich zu Hunderten dem heiligen Zuge an. Das gleiche wiederholte sich in jedem Dorfe, jedem Markte, jeder Stadt. Die Behörden waren ratlos. Von der Front depechierten die Generale unaufhörlich, man möge, koste es was es wolle, den Zug aufhalten und in den Vatikan schleunigst zurückbefördern. Es sei zu befürchten, daß durch dieses Aufsehen die kriegerische Stimmung der Nation Schaden nehmen könne. Aber den Generalen halfen ihre bärbeißigen Telegramme nichts, denn gegen die Wahrheit und das Leben ist kein Kraut gewachsen. Zwar wurden Gendarmen ausgeschickt, Benedikt zu verhaften, aber sie knieten nur am Wegesrande nieder. Als man nach Mailand kam, war die Schar des Volkes auf fünftausend angewachsen. Trotz alles Hinterlandselends schleppten die Frauen überall riesige Milchschüsseln, Brotkörbe und Obstbutten heran. Weiter gegen Westen waren es schon siebentausend. Vor drei Tagen überschritt man die französische Grenze und jetzt ...«

Engländer sah auf seine Uhr:

»... um zwölf Uhr fünfunddreißig mitteleuropäischer Zeit sind sie dort unten angelangt, zwischen den Gräben, in den Hindernisfeldern von Verdun ...«

Er sprang auf, sah hinaus und beschrieb (nicht ohne leichten deklamatorischen Anklang) den Kampf, den er sah.

»Die Deutschen haben ihr Trommelfeuer eben beendet. Jetzt arbeiten schon die Maschinengewehre, Minenwerfer, Grabengeschütze auf beiden Seiten wie rasend. In irgendeinem der Abschnitte wird das Feuergefecht eingestellt. Mit einem wüsten Schrei, den ich bis hieher höre, beginnt der erste deutsche Sturmtrupp die Brustwehr zu ersteigen und gegen die feindliche Stellung anzurennen. In anderen Abschnitten auch setzt der Sturm an. Jetzt aber verwandelt sich das tierhafte Wut- und Angstgeheul des Angriffes in einen menschlichen, langhinrollenden Erstaunensruf. Auch die Franzosen sind aus den Gräben geklettert und schwingen wie von Sinnen ihre Gewehre, berauschten Männern gleich. Denn das weiße, barfüßige Heer Christi steht zwischen den Armeen des Satans. Immer schüchterner kläfft das Hundegebell des Feuers. Jetzt kein Schuß mehr! Selbst die tausend Batterien schweigen unter geheimnisvollem Befehl. Einige Generale und Generalstäbler stürzen sich, das erstemal in ihrem Leben, mitten in die vordersten Reihen, puffen und schlagen die Soldaten, damit sie den Krieg fortsetzen. Sie brüllen etwas vom Vaterland, was ich nicht verstehen kann. Aber kein Mensch kümmert sich um die rotgestreiften, schnarrenden Nußknacker ... Hörst du, wie die Millionen weinen? Alle weinen. Die Erde weint. Denn Christus ist gekommen und hat den Frieden gebracht ...« Und in diesem Augenblick erst verlor Engländer Besinnung und Redegewalt. Seine Augen traten vor, rund, stumpf wie Fischaugen. Er vollführte den keuchenden Tanz eines Besessenen und röhrte mit schrecklicher Stimme ins Tal hinab:

»Nicht Wilson, der öde Schulmeister, sondern Christus!«

Zwanzigmal vielleicht tobte er in die schlaffe Ruhe des fernen Stellungskrieges hinaus:

»Nicht Wilson, sondern Christus! Nicht Wilson, sondern Christus!«

Dann warf er sich bäuchlings auf die Erde und vergrub den Kopf im Gras. Stumm lag auch Ferdinand da. Einige Minuten mußten vergehen, ehe er etwas sagte:

»Dein Papstmärchen, Engländer, ist recht hübsch. Man könnte fast denken, daß ein Keim der Möglichkeit darin liege. Der Herr der Christenheit wirft alle Bande von sich und tritt zwischen die kämpfenden Heere. Nur die Art, wie er das tut, ist ein bissel, sagen wir, theatralisch. Übrigens ist das ganze natürlich ein vollkommener Blödsinn ... Warum auch? Warum sollte er so sehr gegen das Reglement verstoßen? Man kommt mit der Zeit zu unappetitlichen Gedanken, Engländer! Der Sternenhimmel über uns, so heißt es doch! Schau, ich beiße mir jetzt ein eingerissenes Stückchen Haut unterm Fingernagel ab, weiter nichts. Und in diesem mikroskopischen Nichts kreisen Millionen Atome. Und jedes Atom ist ein vollkommenes Planetensystem und kreist um einen Sonnenkern wie diese Erde hier. Auf einem der Planeten dieses Atoms, wahrscheinlich auf allen, wird Krieg geführt, und ein ähnlicher Kerl, wie ich, beißt sich während einer Pause den Neidnagel vom Finger, der wiederum ein unendlicher Kosmos für sich ist ... Also? ...«

Engländer hatte sich aufgesetzt und starrte Ferdinand mit bissigem Entzücken an:

»Oh, du süßer kleiner Intellektsanfänger mit deinem putzigen Makro- und Mikrokosmos. Kommt es denn auf solche kindische Bemessungen an? Ob wir zum Atom eines abgebissenen Neidnagels gehören oder eine eigene Weltfirma sind, wir leiden in allen Atomen, auf allen Sternen, und Christus, die Wahrheit und das Leben, erlöst uns da und dort ...«

Derartige Gespräche führten sie noch lange Zeit unter der Milde des Sommerhimmels fort. Oft ergrimmten sie gegeneinander, ebensooft aber versöhnten sie sich wieder. Engländer, der Sohn reicher Juden, verdammte den Intellekt und pries das unfaßbare Geheimnis der Erlösung, während Ferdinand, der entlaufene Zögling eines Priesterseminars, nicht minder leidenschaftlich die Verteidigung der Wissenschaft übernahm. Als aber Josef gegen vier Uhr mit dem Kaffeetopf erschien, schliefen die Kämpfer friedfertig im jugendlich duftenden Grase.

Das Dienststück jedoch, das Ferdinand bei der Heimkehr auf seinem Tisch fand, stellte einen merkwürdigen Nachklang zur Philosophie des Lindenhügels vor. Es war eine jener von höchster Stelle herablangenden Geheimweisungen, die ein kleiner Kompagniekommandant gar nicht verstehen kann und die nur durch Irrtum oder Postverwechslung in seine Hände gerät. Hier folgt sie.

 

»A. O. K. Zahl ...

Datum ...

An das Kmdo. der I. T. D.

Geheim!

Im Hinblick auf A. O. K. Nr. ... vom ..., die Behandlung eigener Überläufer betreffend, wird mit heutigem Tage angeordnet: Jeder Überläufer eines politisch unverläßlichen Truppenteils, der bei seinem Vorhaben abgefaßt werden kann oder in Gefangenschaft eigener Trupp en gerät, hat dem nächstgelegenen I. T. D.-Kommando überstellt zu werden, wo er laut A. O. K. Nr. ... vom ... im kurzen Wege standrechtlich abgefertigt wird. Die Bestimmungen des Dienstbuches V-II, bzgl. der Kriegsgefangenschaft sind außer Kraft gesetzt.

Unterschrift, Stempel.«

 

Ferdinand las den düsteren Wisch zweimal durch, wurde nicht ganz klar daraus und warf ihn fort.


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