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Siebentes Kapitel.
Die Trauer des Mannes

Am Nachmittag ging der Oberst mit seinem Sohn durch die Felder spazieren. Die dicke Windstille des späten August lauschte über der weiten Ebene. Lang schon war die Ernte eingeholt. Nur auf ein paar Äckern standen noch einige Schwarmlinien von Strohmandln, wo sie ein beliebtes Ziel für die kriegübende Infanterie bildeten. Es war sehr warm. Die Erde kräuselte einen körnigen Wohlgeruch empor, wie ein fertiges Gericht auf der Herdplatte. Papa ging langsam voraus. Das Kind, das um diese Zeit meist ziemlich müde war, sog mit schweren Sinnen die tausendfältigen Bilder des Tages in sich: Kohlweißlinge, Hummeln, Kornblumen, Wegraden, Bildstöcke, Vogelhochzeiten, Laubbewegung, Wassergräben ... Der Oberst zog im Vorübergehen dann und wann ein paar Halme aus den Garben und zerrieb zwischen kundigen Handflächen die Ähren. Er machte Ferdinand auf die verschiedenen Arten des Getreides aufmerksam:

»Was ist das? Hafer! Und das da? Korn! Dies Gerste!«

Wie gehörte doch Papa zu diesen Feldern! Er kam ja auch von »ganz unten«. Sein Vater hatte es mit vieler Mühe zum kleinen Verwalter gebracht. Dank einer gutsherrlichen Gepflogenheit wurde der Sohn des Verwalters zum Offizier ausgebildet. Die Voreltern aber waren gewiß bis zum Beginn zurück als Leibeigene im Lande gesessen. Vielleicht war eine tiefe Erinnerung an die Vorfahren der Grund, warum jetzt der Oberst, der dem Tage zu Ehren Paraderock und Tschako trug, seine Schritte zu der armseligen Chatte lenkte, wo er auf einem Streifzug ein verwahrlostes Häuslerpaar entdeckt hatte. Derartige Absonderlichkeiten ihres Gatten mißbilligte Mama aufs schärfste.

Die Autoren pflegen die Ehe als einen Kampf der Geschlechter darzustellen. Ist sie nicht weit öfter ein Klassenkampf? Mamas Familie gehörte zum »Beamtenadel«. Dieser ehrgeizigen Kaste waren die meisten Erfolgswege versperrt. Von unten wurde sie gehaßt, von oben nicht geachtet. Dazu kam, daß sie ihre Armut nicht eingestehen durfte und immerfort gezwungen war, aus nichts etwas zu machen. Dieser Zwang ist stets der Ursprung von Krankheiten des Selbstgefühls. Die Krankheit jener Kaste war ein inzüchtig-säuerlicher Dünkel. Leider kann Mama von solchem Dünkel nicht ganz freigesprochen werden. Im Klassenkampf ihrer Ehe hatte er sich als gut verwundende Waffe noch geschärft. Papa besaß keinen Ehrgeiz. Wenn er an die Niedrigkeit seiner Jugend dachte, so kam ihm alles Erreichte unverdient-großartig vor. Daß er sich so gerne beschied und das ruhelose Emporstreben des Bürgers nicht besaß, dies gerade reizte Mama. Aber man soll ihr nicht Unrecht tun. Der Dünkel und Ehrgeiz füllte sie nicht aus wie ihre Schwester Karolin. Sie hat später den Mut zu einem eigenen Schicksal bewiesen, etwas, das ihrer Kaste am auffälligsten fehlte.

Der Oberst nahm Ferdinand an der Hand und führte ihn in die Hütte. Ekelhafter Geruch schlug ihnen entgegen. Eine Stube, schwarz wie ein Ofenloch. Abgezehrtes Licht kroch durch eine Scharte. Den Eintritt hat Ferdinand nicht vergessen. Auch in Papas Stimme lag Ekel.

»Nun, wie geht's, Onkelchen?«

Etwas Körperähnliches bewegte sich auf einer Bettstatt. Ein winziges Gespenstergesicht und ein verfilzt heller Riesenbart schwankten. Ferdinand sah, daß dieser Körper nicht auf einem Laken lag, sondern auf hochangehäuftem stinkigem Laub.

»Warum laßt ihr ihn so liegen, warum macht ihr ihm kein anständiges Bett«, rief Papa ins Dunkel. Eine Hexe fuhr jählings aus dem Nichts. Drahtiges Weißhaar wehte. Eine schartige Stimme durchschnitt die widerwärtig körperliche Luft:

»Euer Gnaden, Herr Kommissär! Das ist das Beste für ihn. Ich kenne mich aus.«

Papa wich zur Tür zurück:

»Macht ihm ein anständiges Bett, sag' ich euch!«

Die Alte verteidigte sich:

»Blätter sind das Allerbeste, Euer Gnaden, Herr Kommissär! Erde ist das Allerbeste, ich kenne mich aus. Er hat's ja in den Hoden. Sie müßten das sehen ...«

Der Oberst ließ irgendwo zwei Silbermünzen liegen und zog Ferdinand schnell wieder ans Licht. Wie gut paßte doch der spukhafte Augenblick in der Keusche zu diesem schicksalsschweren achtzehnten August. Jetzt führte Papa Ferdinand an der Hand. Sie gingen durch eine Pappelallee. Der Sohn spürte die unermeßlich traurigen Gedanken seines Vaters. Und der Vater wiederum spürte, daß dieses kleine Kind ihn verstand. Er gab darum seinen Gedanken Worte und sprach zu dem Knaben, von dem er wußte, daß er diese Worte selbst nicht würde auffassen können. Wäre Ferdinand zwei Jahre älter gewesen, hätte sich der Oberst geschämt, und die Geständnisse wären nicht über seine Lippen gekommen. Nun aber sprach er gerade darum, weil Ferdinand noch ein so kleines Kind war. Er sprach, wie man jemandem einen versiegelten Brief mit dem Auftrag hinterläßt: Öffne ihn nach zehn Jahren! Er tat seine Worte wie Münzen in die Sparbüchse dieser kindhaften Leere. Wer weiß, vielleicht werden sie dereinst zu finden sein, wenn man die Sparbüchse schüttelt. Er sprach ferner wie ein Mann, der die günstige Gelegenheit zu wichtigen Eröffnungen wahrnehmen muß, weil sie vielleicht nicht wiederkehrt:

»Du bist noch ein kleiner Junge!« sagte er mit leisen, schnell verwischten Worten, die keinen Wert auf Verständnis legten, »aber immerhin fünf Jahre alt und im nächsten September schulpflichtig. Wir werden uns bald schon darüber schlüssig werden müssen, was aus dir werden soll. Ich bin sehr im Zweifel, ob ich dich zur militärischen Laufbahn verdammen darf. Bei mir ist das etwas anderes. Ich bin gewissermaßen nichts als Soldat. Wenn ich an meine Herkunft, an meine Armut denke, so habe ich schließlich das Höchste erreicht, was mir offen stand. Ich werde, wenn ich bis dahin noch lebe, als Generalmajor in den Ruhestand gehen und meine Pension in Graz oder in einer anderen Kleinstadt in müßige Bequemlichkeit umsetzen. Aus dir aber, mein Kind, wird niemals ein wirklicher Soldat werden. Dafür hab' ich schon mein Gefühl. Du bist ein sehr nervöser Junge, du bist weich und verletzlich, bald wirst du rot, bald blaß. Das ist nicht das Richtige. Wenn ich an meine Laufbahn zurückdenke, so war sie eine Kette ausgesuchter Erniedrigungen, ein dauernder Martertod meines Stolzes. Weißt du, was es bedeutet, niemals Herr über seine Entscheidungen zu sein, niemals frei, immer nur ein ausführendes Organ, über das irgendwelche Vorgesetzte verfügen, die nicht im mindesten pflichtbewußter und wissender sind. Nun, ich habe mich abgefunden, jetzt bin ich selbst ein hoher Vorgesetzter und kann sogar gestehen, daß ich noch immer ein bissel Freude am Spiel hab. Was hätte ich denn vom Leben anderes verlangen dürfen, ich, der Sohn des Verwalters, der Enkel eines Häuslers. Ja, in einer ähnlichen Höhle, wie du sie vorhin gesehen hast, ist mein Großvater verendet. Sterben wäre ein viel zu vornehmes Wort dafür. Ich hab' seinen Tod noch in mir, du nicht mehr, oder weit weniger, du mein Kind mit deinen Augen ... Ich halte dein Handerl, und deine Wärme kommt zu mir. Aber was wird aus dir werden? Es ist vielleicht sehr dumm von mir, daß ich mir über diese Frage Gedanken mache. Was geht mich die Welt nach meinem Tod an? Nichts werde ich von deinem Schicksal erleben. Denn du bist fünf Jahre alt und ich dreiundfünfzig. Was hat man davon, wenn man in meinem Alter Kinder bekommt? Vor zehn Jahren wäre alles noch anders gewesen. Ich alter Mensch hab' eine Zwanzigjährige geheiratet. Ja, ja, deine Mutter ist noch sehr jung. All das macht mir große Sorgen. Die Gage ist ja nicht schlecht. Achthundert Gulden alles in allem im Monat. Man müßte Ersparnisse machen können. Aber die Mama versteht es nicht, mit Geld richtig umzugehen. Ich sehe es ein, daß sie mit ihrer schönen Figur lieber bei der ersten Schneiderin der Stadt arbeiten läßt als bei den dunklen Quellen der anderen Offiziersdamen. Sie gleicht diesen knochigen Weibern Gott sei Dank in keiner Beziehung. Aber Gott weiß, wo all das Geld hinkommt. Nicht einen Kreuzer haben wir uns zurückgelegt. Wenn ich von Gott etwas für dich erbitten möchte, so wär's, daß er dir das Schuldgefühl erspart, das mich deiner Mama gegenüber schwach macht. Siehst du, das ist wieder diese verdammte Last der Vergangenheit. Fronlinge waren wir und zitterten, wenn wir dem Herrn das Zehnt nicht abliefern konnten. Nein, nicht einmal in dieser reichen Gegend hier. Unsere Familie lebt weiter im Westen, im Gebirgsland, fast an der Grenze. Leibeigene waren wir. Die Familie der Mama hat immer zu den Herren gehört. Sie behauptet es wenigstens. Wie soll man sich da befreien? Die Möglichkeit, wieder leibeigen zu werden, steckt tief in unsereinem ...«

Die Nachmittagshitze hatte ihren Höhepunkt erreicht. Das Licht war zu stechend feinem Staub geworden, der in alle Poren drang. Nichts rührte sich auf der schnurgeraden Straße. Kein Wesen begegnete den Spaziergängern, nicht einmal ein Schmetterling. Ferdinand scharrte mit schleppenden Füßen dahin. Papas Worte hörte er gar nicht mehr:

»Schlecht ist es um den österreichischen Offizier bestellt. Woanders, in Deutschland, in Frankreich, gilt der Offizier als Blüte der Nation. Wir haben keine Nation, wir gehören nirgends hin, wir sind die armen Waisenkinder des Staates, die blassen Kellerpflanzen der Kadettenschulen und Militärakademien. Siehst du, Kind, das hat auch mit dem peinlichen Verlegenheitsgefühl zu tun, mit der Angst, uneingeladen an den gedeckten Tisch zu treten. Ich weiß nicht, was ich darum gäbe, wenn dir das erspart bliebe. Die Mama hat übrigens eine feine Witterung für solche Dinge. Vielleicht steht sie wirklich höher?! Ach, sie steht schon höher, weil sie jung und ...«

Der Oberst, der all diese Dinge nicht mehr ausgesprochen, sondern nur gedacht hatte, nahm den schweren Tschako ab. Die runde Narbe glühte. Scharf stieß er hervor:

»Wenn etwas daran ist ... Die Sache wird sich nicht halten ...«

Dann ging er stumm weiter. Erst nach einer Weile schloß er seinen Monolog laut und verzweifelt ab:

»Wenn ich heute sterbe, stehst du ohne Heller da. Und was dann?«

Jetzt erst schien er sich der wirklichen Gegenwart des Kindes zu erinnern:

»Kannst du noch weiter, Bubi?«

Da Ferdinand nichts sagte, hob ihn Papa auf und trug ihn ein Stück Weges.

Der Himmel des Sommertages brannte immer dunkler.

»Kaiserwetter«, sagte der Oberst und machte einen weiten Schritt, als träte er aus einem schwarzen Tor ins Licht. Die ersten Häuser der Ortschaft kamen ihnen entgegen. Vom Hauptplatz her ertönten die »Dorfschwalben aus Österreich«.


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