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Siebentes Kapitel.
Das Grauen des Lebens

In den nächsten Tagen ging Ferdinand nicht aus. Er zwang sich mit aller Kraft, über den Büchern sitzenzubleiben, die er von seinen neuen Freunden entlehnt oder sich auf andere Weise verschafft hatte. Zwei Gruppen von Schriften waren es: Psychoanalytische Werke, die er von Gebhart geliehen bekam, der allerdings in dieser Richtung selbst keinen ausgetretenen Weg ging – und sozialistische Literatur. Eine kalte, quälende Lektüre zumeist, die seinem träumerischen Wesen Gewalt antat. Aber dies sein Wesen mußte er ja bekämpfen, um den Ereignissen gewachsen zu sein, die herannahten. Wie ein Schüler bereitete sich Ferdinand auf die Revolution vor. Es gelang ihm, für Stunden wenigstens, alles Schweifende in sich zu unterdrücken, all das, was er in seinem letzten Gespräch mit Engländer »das Alte« genannt hatte. Die Bücher zischten ihm ins Ohr, daß gerade dieses Alte, all seine ziellose Sehnsucht, all sein Dahindämmern, all sein Leben in Erinnerungen, daß es wertloses Zeug sei, lebensfeindlicher Plunder, der aus der Rumpelkammer des Bewußtseins geräumt werden müsse. Geringschätzige Fremdworte bohrten sich in seinen Geist: Infantilismus, Komplex, Verdrängung, Fixation. Als einziges Erlösungsziel winkte: Bewußtwerdung! Wer diesen schmerzhaft klaren Weg nicht gehen wollte, war ein Feigling, ein Schwachmatikus und nicht imstande, die Schäden seiner Kindheit zu überwinden.

Manchmal bäumte sich das »Alte« in Ferdinand auf: Das alles sind doch nur Worte, die man wegblasen kann – spürte er –, Worte, die nicht allein Erkenntnisse prägen wollen, sondern uns auch verletzen und entwerten. Doch auf der nächsten Seite schon sah er sich besiegt. Der Widerstand gegen diese Lehren, hieß es etwa, sei ein Symptom der Krankheit selbst. Die Seele des Kranken wehre sich gegen den bitteren Heilungsprozeß.

Ferdinand verwarf seine Zweifel und verbiß sich dann leidenschaftlich in die marxistischen Werke. Dennoch kamen ihm auch hier immer wieder eigene Gedanken in die Quere. Mußte es denn unbedingt wahr sein, daß der letzte Grund aller menschheitlichen Dinge immerdar die Ökonomie gewesen sei? War der Wechsel der Klassenherrschaft wirklich der einzige Schlüssel der Geschichte? Die Epoche der Sklaverei, die Epoche des Feudalismus, die Epoche des Bürgertums – diese Einteilung klang allzu glatt und schulmäßig sauber. Sie erinnerte ihn an seinen Gymnasialprofessor, der die erste Geschichtsstunde der Septima immer mit den gleichen Worten zu beginnen pflegte: »Wir kommen jetzt zur Neuzeit. Sie fängt am zwölften Oktober 1492 mit der Entdeckung Amerikas an.« Immer hatte es, jenseits der Produktionsweise, Herrscher und Beherrschte gegeben. Macht, Mord und Unrecht waren früher da als Viehzucht, Tauschhandel und Ackerbau. Hier lauerte eine willkürliche Ableitung, eine Verwechslung von Ursache und Folge. Seitdem es eine menschliche Gesellschaft gab, waren ihre Herrscher ungerecht, mordsüchtig, prasserisch und die Beherrschten elend und erbarmungswürdig. Das schien ein Naturgesetz zu sein. Aber für das Proletariat, für die herrschende Klasse der Zukunft – so lehrten einige der Schriften – gelte dieses Gesetz nicht. Nach einem Übergang des Kampfes und der Härte werde die vereinigte Arbeiterschaft der Welt die erlöste, die klassenlose Gesellschaft errichten. Dieses Dogma stand in den Büchern der kritisch-materialistischen Wissenschaft klar zu lesen, ohne daß die Autoren Zweifel zeigten oder zuließen. Warum aber sollte es so kommen? Warum wurde das Proletariat die Klasse der Erlösung genannt? Was hatte es geleistet, um so hoch über die Bourgeoisie erhoben zu werden? Bestand es denn überhaupt außerhalb seines Elends? Sein Wert, ja seine Existenz war das Leiden. Nur wegen seines Leidens mußte es geliebt und erlöst werden. Ohne die Verklärung dieses Leidens war es eine Masse grober unwissender Menschen, die bis auf einen geringen Bruchteil nur dem Roh-Körperlichen zugewandt war. Ferdinand dachte an Engländer. Nicht nur die Offiziere hatten ihn bis aufs Blut gequält, sondern auch die Chargen und Mannschaften, so daß von ihm nur mehr ein Wrack übriggeblieben war. Bedeutete es wirklich einen Fortschritt, wenn die Herrschaft der Offiziere von der Herrschaft des gemeinen Mannes abgelöst werden sollte? Offiziere und Mannschaft, beide waren wie die übrige Menschheit zum Großteil Pöbel. Der Mensch mußte abgeschafft werden. Der Wert der Unterdrückten lag im Leiden, der Unwert der Herrschenden in der Macht. Ließ sich das ändern? Neunundneunzig Hundertstel Geprügelte und ein Hundertstel Prügler und Prasser! War das ein ewiges Verhältnis?

Wiederum entkräfteten schon die nächsten Seiten Ferdinands Bedenken. Das Proletariat sei nichts Endgültiges, sondern nur die traurige Folge geschichtlicher Vergewaltigungen, ein Zwischenzustand, der überwunden werden müsse, damit der kommende höhere Mensch entstehe.

Ja, der kommende Mensch, das Morgen allein war wesentlich. Was hatten dagegen Übertreibungen und Irrtümer zu bedeuten? Die blutige Schweinerei, die Pestseuche dieser Zeit mußte ausgerottet werden! War ein Weltzustand erträglich, kraft dessen Millionen und Millionen in Fabriken und Schützengräben verkamen, damit eine Teufelsbande von Menschenschindern, Nichtstuern, Tachenierern, Schiebern und Fressern in Jubel und Rausch lebe? Sollten diese höllengesichtigen Zutreiber des Todes straflos entkommen? Ferdinand preßte die Hände gegen die Schläfen. Ach, nicht nur sie, jeder einzelne in diesen Tagen war träge und schuldbeladen, er selbst allen anderen voran. Arbeit und Hingabe blieb die einzige Lebensentschuldigung.

Mühselig vertiefte er sich weiter in das Theoriengewebe des »Mehrwertes«, der »Arbeitskraft« und »Arbeitszeit«, der »Produktionsmittel« und der »Akkumulation«. So schwer ihm die Sammlung fiel, er arbeitete, studierte, machte Auszüge und blieb bis in den Morgen hinein wach, als sei er gezwungen, binnen wenigen Tagen das Wissen von Jahrzehnten nachzuholen.

Die Folge war ein heilloser Unlust-, ja Unglückszustand, der ihn niederdrückte. Das »Alte« in ihm rächte sich, seine Seele (ein Wort, das er jetzt nur in beschränktem Sinn anerkannte), das ahnende Wissen, das unter dem neuen Denkformalismus litt. Überdies begannen seine Augen zu versagen. Einmal warf er alles hin und lief in seiner qualvollen Gemütsverfassung auf die Straße. Ihr schmutziger Anblick schien den gottlosen Ursprung der Welt höhnisch zu bestätigen, wie ihn der Nihilismus dieser modernen Wissenschaften in jedem Satze fühlen ließ. Da fiel ihn ein absonderliches, ja ein scheußliches Erlebnis an.

Ein trüber Nachmittag. Es regnete leicht. Zeitungsverkäufer rannten mit einer Extraausgabe über den Fahrweg. In den letzten Tagen des alten Reiches hatten die Menschen ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Kriegsereignissen wieder verloren. Alle kauften und lasen, denn sie fühlten mit unverkennbarer Selbstvernichtungslust in den Zügen, daß nun das Ende gekommen war. Die Italiener hatten an der Front zwischen Brenta und Piave den Angriff eröffnet. Eine englische Division gewann auf der Insel Papadopoli gegen die österreichische Dammstellung Raum. Der Heeresbericht, der aufrichtiger klang als in früheren Tagen, gab offen schwere Einbußen zu. Jeder Leser fragte sich nach alter Gewohnheit: Was verbirgt diese überraschende Aufrichtigkeit? Was geht wirklich vor? Nach ein paar Minuten war die ganze Straße mit einem weißen Herbst weggeworfener Blätter übersät. Unachtsam stampften die Leute über die letzten Kampfesberichte einer uralten und mächtigen Armee hin. Das viele Papier in Regenpfützen und Straßenschmutz bot einen ekelhaften Anblick. Die Luft war erfüllt von Gerüchen der Armut, von der Ausdünstung muffiger Gewänder. Die Menschen hatten häßliche Bewegungen, sie schlurften und schwankten. Es sah aus, als würden sie bei jedem zweiten Schritt, von ungenügender aber dafür aufblähender Nahrung geplagt, das Gesäß in schamloser Weise vorstülpen.

Ferdinand blieb stehn und blickte den Menschen nach.

Ein Nebel zerriß in ihm. Er stieß plötzlich an unaussprechliche Grenzen der Erkenntnis. Einem schrecklichen Schwindelanfall glich die unverwortbare Ein-Sicht: Das Grauen des Lebens! Er durchschaute das Innere der menschlichen Leiber, die vor ihm dahintrabten. Er sah den giftigen Kot in jedem Menschenbauch. Wozu alle Arbeit, aller Geist? Betrug und Mogelei! Nichts wird sich ändern, da sich die leibliche Konstitution nicht ändern kann. Welch eine Erniedrigung, Mensch zu sein!

Und viel später noch, als dieses unbeschreibliche Erlebnis sich schon verflüchtigt hatte, wiederholte er krankhaft:

»Drecksäcke sind wir, giftige Drecksäcke!«

Vor der Tür des Cafés machte er kehrt und ging nach Hause. In der Dämmerung seines Zimmers saß jemand. Ferdinand erkannte die Frau nicht gleich, die auf dem erhöhten Kopfende des Diwans hockte und das Gesicht zum Fenster gewandt hielt: Angelika. Sie empfing ihn, ohne sich zu rühren:

»Ich warte schon eine halbe Stunde auf dich.«

Bisher hatten die Säulensaal-Leute Ferdinand nur selten in seiner Wohnung aufgesucht. Er wunderte sich:

»Und ich wollte eben ins Café gehn. Ein Zufall, daß ich zurückgekommen bin.«

»Gebhart hat mich zu dir geschickt«, sagte Angelika. »Was treibst du eigentlich? Wir haben dich schon mehr als eine Woche nicht gesehn.«

Ferdinand zögerte:

»Ich ... ich hab zu tun gehabt ...«

»Du bist ein komischer Mensch! Was hast du zu tun zu haben? Was hat man überhaupt zu tun zu haben? Du bist ein falscher Kerl mit lauter Repressalien. Heißt das eigentlich Repressalien? Ich glaub, es heißt ganz anders. Aber das ist mir äußerst putten. Du weißt ja eh', was ich mein ...«

»Das weiß ich zwar nicht ...«

Angelika schnitt ihm die Rede ab:

»Ich hab natürlich hier spioniert, das kannst du dir denken. Also erstens, das Zimmer da paßt sehr gut zu dir, es ist genau so hinterhältig-anständig wie du. Weißt du, was jemand im Café von dir gesagt hat, ein Jud natürlich? Er schaut aus wie ein frommes Waserl, ist aber g'hauter als der Spannweit ... Zweitens! Ich hab selbstverständlich in deinen Sachen gekramt. Liebesbriefe sind nicht zu finden. Darüber haben wir auch schon unsre Meinung. Aber du hast uns gemein beschwindelt. Du schreibst natürlich ... philosophische Werke ...«

Ferdinand wehrte sich energisch:

»Das ist nicht wahr. Ich hab mir nur einige Auszüge aus Büchern gemacht.«

Angelika ging höhnisch zum Schreibtisch und schwenkte ein paar Blätter:

»Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Das sind Aphorismen! Ich hab genug Praxis, um Auszüge von Aphorismen zu unterscheiden ...«

Sie ließ sich nicht von der Meinung abbringen, daß Ferdinand ein heimlicher Schriftsteller sei und sich nur aus Arroganz als Laie hinstelle. Nach einer Weile setzte sie sich neben ihn:

»Warum läßt du dich eigentlich nie von Gebhart analysieren? Du hättest es sehr nötig. Aber ich glaub, du fürchtest dich. Weißt du übrigens, was Gebhart von dir sagt? Er sagt, du bist der beziehungsloseste Mensch, den er kennt. Nur einer ist noch beziehungsloser, und das bin ich ...«

»Das kann vielleicht stimmen«, sagte Ferdinand und stand auf. Angelika sah vom Sofa zu ihm hinauf:

»Bei mir sind wir draufgekommen, warum es so ist. Ich hab halt eine toll geschädigte Kindheit hinter mir. Vielleicht ist es bei dir ähnlich. Ich kann nicht lieben, und du kannst nicht lieben. Wir gehören also zusammen, sagt Gebhart.«

Das schmutziggraue Licht des Zimmers wurde immer trüber. Als hellblonder Fleck hob sich einzig das Gesicht des genialen Dienstmädchens ab. Niemals war es Ferdinand platter und reizloser vorgekommen. Er fühlte einen tiefen Haß gegen dieses Weib und seine zudringliche Überheblichkeit. In seinen Gliedern prickelte eine dumpfe Lust. Er wußte nicht, ob es der Wunsch war, Angelika zu schlagen oder zu umarmen. In den letzten Tagen hatte er von seinem übermüdeten Gehirn zuviel gefordert. Jetzt überwältigte ihn der Drang, all die schweren Dinge wegzuwerfen und irgendwohin abzugleiten, wo alles gleichgültig war. In dieser Minute seines Lebens war Ferdinand von einer kitzelnden Sehnsucht nach Niedrigkeit erfüllt. Angelika war indessen in eine ihrer Schimpftiraden gegen Hedda ausgebrochen. Ferdinand sah starr auf ihren Mund. Er hätte sie am liebsten gebeten: Hör nicht auf! Jedes gemeine Wort, das ihre hübsche Frauenstimme ausstieß, bereitete ihm eine merkwürdige Wollust.

Da es immer dunkler wurde, stellte sich Angelika ans Fenster. Ferdinand trat neben sie:

»Ein Dreck liegt heut draußen«, sagte sie, und Ferdinand wiederholte:

»Ja, ein furchtbarer Dreck liegt heut draußen.«

»Ich hab eigentlich gar nichts gegen den Dreck«, fuhr sie fort. »Als Mädel war das mein Hauptvergnügen, mit nackten Füßen im Dreck herumzupatschen ... Du mußt nämlich wissen, ich bin erstens vom Lande und zweitens von niedriger Herkunft ... Mein Vater war Holzarbeiter ... Als ich zwölf Jahre alt war, hat er mich das erstemal gebraucht ... Von der Mutter wurde ich darum halbtot geprügelt ... Meine Biographie kann man nur aus diesen Sachen verstehn, sagt Gebhart ... Im Dreck herumpatschen ist ein sehr angenehmes Gefühl ... Hast du schon einmal ein Moorbad genommen? ... Was sagst du? Ich bin im zweiten Kriegsjahr in Franzensbad gewesen ... Ich war sehr krank damals ... Mein Freund, ein alter Jud, der beste Mensch, den ich je gekannt hab, hat mich nach Franzensbad geschickt ... Wenn man so im dicken Moor einsinkt, das kannst du dir gar nicht vorstellen, was das für ein Gefühl ist ... Und der Geruch dazu ... Also angenehm bis zum Selbstmord ist das ...«

Sie hatte sich ganz dicht an Ferdinand angedrängt. Er packte sie. Anfangs vermied er es (der Haß in ihm war noch nicht erstorben), ihren Mund zu berühren. Dann aber erschien ihm Angelika immer schöner und er küßte sie. Schon klang ihr Name wie Glockenton in seinem Ohr. Was als Wollust des Schmutzes begonnen hatte, klärte sich in zärtliche Dankbarkeit.

Als sie ihn verließ, sprach Angelika die dunklen Worte:

»Ich hab gehofft, daß du so ein Schwein bist wie wir alle. Aber du hast mich schwer enttäuscht.«

   

Die Wirtsfrau legte wie alltäglich um halb sieben Uhr eine Abendzeitung auf Ferdinands Tisch. Nervös griff er nach dem Blatt. Er hatte aber gar nicht die Absicht, darin genau zu lesen. Da fiel sein Blick auf eine längere Notiz in unscheinbarem Schriftgrad, die unter den Nachrichten vom Tage stand. Ehe er noch den Titel in sich aufgenommen hatte, wußte er alles, wußte, daß diese Zeilen Alfred Engländers Schicksal umschlossen. ›Ein Wahnsinniger im erzbischöflichen Palais‹, lautete die Aufschrift, und darunter in Anführungszeichen:

»Der Bischof aller christusgläubigen Juden.«

Ferdinand mußte die ersten Sätze zwei- und dreimal lesen, ehe er sie voll begriff:

»Vorgestern ereignete sich im erzbischöflichen Palais auf dem Stephansplatz ein aufregender Vorfall. Gegen acht Uhr abends erschien ein Mann von etwa dreißig Jahren und verlangte, zu seiner Eminenz, dem Kardinal-Fürsterzbischof geführt zu werden. Der Pförtner suchte ihn mit der Begründung abzuweisen, daß zu dieser Stunde keine Besuche mehr empfangen würden. Der Mann, der, wie es dem Pförtner schien, Priesterkleidung trug, gab nicht nach und behauptete, eine unaufschiebbar wichtige Botschaft dem Erzbischof überbringen zu müssen. Es gelang ihm, bis in die weihbischöfliche Kanzlei vorzudringen, wo noch einige Funktionäre an der Arbeit saßen. Dort wiederholte er in entschiedener Weise seinen Wunsch, sogleich von Seiner Eminenz empfangen zu werden. Auf die Frage, in welcher Angelegenheit er zu so ungewöhnlicher Stunde vorsprechen wolle, verweigerte er zuerst die Antwort, erklärte aber später in großer Erregung, er sei der Bischof aller christusgläubigen Juden. Es gebe derer viele Hunderttausende, und sie hätten ihn entsendet – seinen Namen könne er freilich noch nicht preisgeben –, um mit dem Kardinal über ihre Aufnahme in die christkatholische Kirche zu verhandeln. Ein Ereignis von unermeßlicher Bedeutung sei im Anzug, über das ein großes Kirchenkonzil werde entscheiden müssen, denn die christusgläubigen Juden bestünden auf Erfüllung gewisser Bedingungen und theologischer Vorbehalte. Das Einigungswerk dürfe aber angesichts der allgemeinen Zeitlage keinen Augenblick Aufschub erleiden. Deshalb werde er nicht von der Stelle weichen, ehe er vom Erzbischof angehört worden sei, der den Ruhm einer geschichtlichen Tat solchen Ranges unmöglich zurückweisen könne. Die Funktionäre merkten sofort, daß man es mit einem Wahnsinnigen zu tun habe. Einer von ihnen beging jedoch die Unvorsichtigkeit, den Aufgeregten damit zu beschwichtigen, daß eine so wichtige Sache doch noch bis morgen werde warten können. Der Bedauernswerte verfiel daraufhin in Verzweiflung, die sich bis zu einem Tobsuchtsanfall steigerte. Er stürzte einen Schreibtisch um, zertrümmerte die Scheiben eines Glasschrankes und begann mit Tintenfässern zu werfen, wodurch einer der Herren, Msgr. O. K., eine leichte Verletzung oberhalb des Auges davontrug. Nur mit Mühe konnte man den Tobsüchtigen überwältigen. Die rasch herbeigerufene Sicherheitswache überstellte ihn noch im Laufe der Nacht der psychiatrischen Klinik des Allgemeinen Krankenhauses. Wie wir ermitteln konnten, gehört der Unglückliche einer angesehenen Wiener Familie von Textilindustriellen an. Er wurde vor einigen Monaten wegen seines Geisteszustands aus dem Militärdienst entlassen.«

Die letzten Zeilen las Ferdinand schon auf der Straße. Er fuhr ins Allgemeine Krankenhaus.

Der Patient sei gestern auf den »Steinhof« gebracht worden. Da es spät geworden war und keine Elektrische mehr verkehrte, machte Ferdinand den endlosen Weg zu Fuß. Die Irrenanstalt Steinhof liegt weit außerhalb der Stadt auf einem Hügel.

»Jetzt ist es elf Uhr«, hieß es mürrisch, »und wir haben fünftausend Kranke.«

Hartnäckigkeit erzwang, daß der schläfrige Diensthabende vorwurfsvoll einen Folianten auf den Tisch warf:

»Engländer, Engländer Alfred ... hier ... heute von seinen Angehörigen abgeholt ... zwecks Überführung in eine Privatanstalt ...«

»Wohin?«

»Das ist uns unbekannt.«

Ferdinand bat um Erlaubnis, die Familie des Kranken telephonisch anrufen zu dürfen. Eine unsympathische Stimme schnarrte aus der Muschel:

»Wir sind bis auf weiteres nicht in der Lage, Ihnen den Aufenthaltsort Alfreds bekanntzugeben.«


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