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Dreizehntes Kapitel.
Das Museum der Wallfahrtskirche

Die bekannte Wallfahrtskirche erhebt sich auf einem Berg, zu dem zwei Wege emporführen. Der eine heißt Kalvarienweg und ist eine ziemlich breite Straße, die in gelinden Serpentinen ansteigt. An den Wegbiegungen stehen vierzehn kleine Kapellen zum Gedächtnis der vierzehn Leidensstationen Christi. Der andere Aufstieg drängt in schnurgerader Linie vom Marktplatz der kleinen Stadt zur Gipfelterrasse empor. Er besteht aus einer steilen Riesentreppe von dreihundertsechsundneunzig überaus hohen schwererklimmbaren Stufen, die in zwölf jeweils dreiunddreißigstufige Unterabteilungen zerfallen. Dies ist der Bußweg. Die Andächtigen, die Wallfahrergruppen und Pilgerzüge wählen je nach Maß ihrer Frömmigkeit und ihres Sühnbedürfnisses einen oder den anderen Weg.

Die Stadt selbst lebt vom Bergbau und von einem wundertätigen Muttergottesbild. Beides, der Bergbau und das heilige Bild, stammen aus uralter Zeit. In den Schächten der Umgebung wurde das reinste Silber gefördert, und die Könige des Landes, die mehrmals auch römisch-deutsche Kaiser waren, ließen in dem Städtchen ihre Münzen schlagen. Der Ertrag an Feinsilber ist heute nicht ganz so reich wie einst, dafür wird in den sechzehn kilometertiefen Stollen der Bergwerke um so mehr Blei zutage gebracht. Die Stadt und Landschaft beherbergt viele Tausende von Bergarbeitern, und eine Montanhochschule sorgt für den Nachwuchs an Ingenieuren und Werkleitern.

Was die Muttergottes anbelangt, so gibt es eine lange Budenzeile, wo sich Laden an Laden reiht, in denen überall das gleiche feilgeboten wird: Gebetbücher, gemalte Kerzen, Heiligenbilder, gerahmte Segenssprüche, Amulette, Kruzifixe aller Größen, Rosenkränze, Ansichtskarten, Briefbeschwerer, Medaillons, Anhänger, Tabakspfeifen, Schmuckstücke, mit der Abbildung des Wallfahrtstempels geziert. Im allgemeinen machen die Gebetbüchelkrämer gute Geschäfte, und die fromme Bijouterie für Bauern und kleine Leute findet glänzenden Absatz. An Festtagen herrscht in dieser Budenzeile, in der ganzen Stadt und auf den beiden Bergwegen ein wildgedrängtes Leben. Die vielen Pilgerzüge mit ihren Priestern, Fahnen, Musikkapellen geraten durcheinander. Völkerwanderungen von Neugierigen in regellosen Horden steigern die Verwirrung. Kinder erheben gellendes Wehgeschrei. Aufgeklärte Störenfriede und tätige Freidenker veranstalten boshafte Stockungen. Von einer Seite ertönt hundertstimmig:

»Komm heiliger Geist, o dritte Person,
Von einer Natur mit Vater und Sohn!
Der du von seiner Sündenlast
So manches Herz befreiet hast!«

Ein anderer Chorschwall fährt in diese Strophe und trübt sie:

»Laß uns wie am Tage wandeln,
Nicht in Fraß und Trunkenheit,
Nicht in Fleischbegierde handeln,
Weit verbannt sei Zank und Streit!«

Es kann aber geschehen, daß in die Vermischung der heiligen Sänge plötzlich ein Spottlied plärrt. Diese Stadt ist ja eine Arbeiterstadt und wird es immer mehr. An den Wallfahrtstagen gerade werden politische Versammlungen abgehalten und den Massen populärwissenschaftliche Vorträge dargeboten. Kein Wunder, daß sich der Wissensstolz in höhnischen Liedern entlädt, die dem abergläubisch engstirnigen Bauernpack die Wallfahrt versalzen wollen. Keiner Warnung, keiner Drohung, keiner amtlichen Eingabe des bischöflichen Ordinariats war es bisher gelungen, den Unfug abzustellen. Aber was tut's, es bildete ja nur einen kaum wahrnehmbaren Schatten auf der breiten Flut der zu Gott emporwallenden Herzen.

An einem der schönen Sommerfeiertage, kurz nach Papas Tod, wurden auch Barbara und Ferdinand auf dem Kalvarienwege von der großen Menschenflutung zur Kirche emporgetragen. Wie sie hierherkamen, ist schnell erzählt.

Barbara war in einem Dorf in nächster Nähe dieser Wallfahrtsstadt zu Hause. Als Tante Karolin, vom Begräbnis heimkehrend, den Hausstand sogleich mit umsichtiger Genauigkeit aufzulösen begann und die Übersiedlung in ihre Wohnung für das Monatsende verfügte, hatte Barbara eine Unterredung erbeten, bei der Ferdinand nicht anwesend sein durfte. Zu seiner großen Freude aber konnte sie ihm nachher mitteilen, daß sie von der Tante die Erlaubnis erwirkt habe, ihn für mehrere Tage in ihre Heimat mitnehmen zu dürfen. Das Verlassen der alten Umgebung, das Einrücken in fremde Verhältnisse, wie schwer fällt es einem empfindsamen Kind! Barbara spürte das genau und hatte deshalb den Plan dieses heilsamen Landausfluges gefaßt. Tante Karolin war aus guten Gründen damit einverstanden. In der Woche, da sie mit der Verlassenschaftsbehörde verhandeln mußte und ihr ein Kampf um die Möbel des verstorbenen Schwagers bevorstand, brauchte sie keine unerwünschten Zeugen. Die beiden bekamen sogar noch ein Reisegeld auf den Weg.

Sie gingen nicht in der geschlossenen Ordnung der Wallfahrtsscharen mit, sondern trollten unter den müßigen Schlachtenbummlern Gottes. Rechter Hand von Ferdinand schritt ein mächtiger Kerl mit einem farbigen Band über der Brust einer Prozession voran. Zwei Fahnenträger, die, bleich vor Anstrengung, große Banner hielten, umgaben ihn. Mit einer ebenso unüberwindlichen wie wurstigen Stimme sang der Vorbeter die Ausrufungen der Litanei, nach jedem Abschnitt auf den Respons der Menge wartend:

»Herr, erbarme dich unser!
Christus, erhöre uns!
Gott Vater vom Himmel!«

      »Erbarme dich unser!«

»Gott Sohn, Erlöser der Welt,
Gott heiliger Geist,«

      »Erbarme dich unser!«

»Heilige Dreifaltigkeit, ein einiger Gott,
Herz Jesu, des Sohnes des ewigen Vaters,
Herz Jesu, im Schoße der jungfräulichen Mutter
Vom heiligen Geist gebildet,«

      »Erbarme dich unser!«

Als Barbara und ihr Knabe durch eine Stockung gezwungen wurden, hinter diesem Zuge zurückzubleiben, platzte auf einmal neben ihnen eine Blechmusik los. Es war eine der Dorfbanden, die heute ihre atemschnappenden Choräle in den großen Sommerchor des Feiertags flochten. Die gelben zerbeulten Instrumente erzeugten einen unsicheren und ängstlichen Klang, besonders die dumpfig prustenden Bässe, die unter der Verantwortung, den Halt des Tongebildes abgeben zu müssen, allzu eifrig einherseufzten.

Die Flöten und Klarinetten benahmen sich weit frecher. Wenn sie ihre langen Triller vollführten, zwangen sie den Blick, diesen starken Vogelklängen nachzuschauen. Unwillkürlich sah man empor. Und wirklich, ganze Vogelstämme und -nationen hatten sich eingefunden, die, der katholischen Menge ähnlich, das Gotteshaus mit erregten Huldigungen umzogen. Der wolkenlose Himmel war nicht wie sonst aus einem einzigen Stoff gewölbt, sondern ein undurchdringlich flammendes Laubdach, aus unzählig kristallgelben Blättern zusammengeschuppt. An einzelnen Stellen der Serpentine bot sich die weite Ebene offen dem Rundblick dar. Noch stand zum großen Teil die Ernte. Das irdisch verwandelte Sonnengold der fruchtbaren Weizenwüsten rollte in langen Wellenstrichen an das Gestade des Horizonts. In der Ferne verriet eine schmale baumumharschte Narbe den Lauf des Flusses. Von unten glotzte die Stadt greisenhaft harthörig empor. Sie hatte mit dem gehörnten Turmkopf in ihrer Mitte etwas Gleichmütig-Hockendes wie ein Rind. Um sie war wie Weide ein farbloser Ring des Landes leergerupft. In diesem Ring reckten sich ein paar Fabrikschlote hoch, die im Licht zu schwanken schienen. Unfreundlich brütete der kahl-fiskale Bau der Montanschule innerhalb der Bannmeile.

Ferdinand ging in einem freudigen Zustand von Überwachheit die wirrbewegte Straße dahin. Jede Einzelheit des Lebens schien vergrößert und von einem winkenden Sinn erfüllt, der sich verständlich machen wollte; der dürftigste Laut gehörte einer Geheimsprache an. Die Wipfel der Ebereschen bewegten ihre unreifen eiergelben Beerenbüschel. Aus der Tiefe drang plötzlich ein befehlshaberischer Ruf empor, der ohne Herkunft war. Auf dem Gemäuer, das die Straße umsäumte, wuchs fettblättriger Steinwurz. Kleine Weinbergschnecken saßen in den Ritzen, Ferdinand sah sie deutlich. Brummlaute der sich entfernenden Posaunen! Plärrende Fetzen der Litanei! Das leise und doch mächtige Gedröhne der luftdurchschneidenden Insekten, die ganz nah an den Ohren vorüberläuteten! Auch sie sangen feiertäglich heute. Und dann das Traben und Knirschen der tausend Menschenfüße auf dem Kies des Kalvarienweges! Gott hatte der Menschheit eine zweifache Stimme gegeben: die bewußte, plappernde, eifernde, keifende, lachende, buhlende des Mundes, und die zweite, unbewußte, erdzugekehrte, dunkle Stimme des Schrittes, der wie einem Tiere nur ein geringes Maß von Ausdruck vergönnt ist. Die geordneten Schritte der Wallfahrer und die ungeordneten der Spaziergänger, auch sie vereinigten sich zu vielstimmigen Chören und Litaneien.

Barbara hatte den Knaben oft wegen seines schleppenden Ganges zurechtweisen müssen. Heute war das nicht nötig. Ferdinand fühlte sich von der Menge leibhaftig getragen. Er war so frisch und befand sich trotz des langen Weges so wohl, als hätte er seine eigenen Beine nicht brauchen müssen. Freilich, Barbara führte ihn an der Hand. Sie war ja hier daheim. Aus ihrem Wesen drang das frische Wohlbefinden in seinen Körper, so daß er, das Stadtkind, sich hier nicht fremd fühlte, sondern dieser Menge zugehörig. Ferdinand nahm teil an Barbaras Heimat. Die Hand der Ziehmutter verband ihn diesem Gedränge von Bauern, unter denen noch viele die altertümliche Tracht mit großen Hüten und silbernen Knöpfen an den Jacken trugen. Wenig kümmerte er sich darum, daß er die Sprache, die rings um ihn gesprochen wurde, nur unvollkommen verstand. (Der Oberst hatte angeordnet, daß die Kinderfrau mit Ferdinand ausschließlich deutsch spreche.) Noch ahnte der Sohn des österreichischen Offiziers nicht, wie ausgesucht heimatlos er in der Welt stand, daß ihm verwehrt blieb, wessen sich jeder Landstreicher rühmen darf: Heimat und Volkszugehörigkeit. Nun und hier lieh Barbaras Hand ihm diese Güter, und mehr als sie.

Sie gingen in die Kirche ein und tauchten in den kühlen Raum der Gottheit, der sich seltsam von allen irdischen Räumen unterscheidet wie ein sternenfremdes Element, das ein wenig dem Wasser ähnelt und ein wenig dem Waldesdunkel, aber nicht ganz, sondern nur ein klein wenig. Wie Dunkel umschläfert es den Sinn, wie Wasser umschlüpft es den Leib, mag vor dem Tor auch hundstägig die Sonne brennen. Man könnte meinen, bei der Kirchenweihe habe ein Engel eine kleine Glasphiole voll Himmel zerschlagen, damit ihr Inhalt die Wölbungen fortan erfülle.

Einige tausend Menschen durchwogten die Propsteikirche. Dennoch war es kühl, und man spürte ihren Atem nicht. Niemand konnte daran denken, hier seines eigenen Weges zu gehen. Auch Barbara und Ferdinand überließen sich der allgemeinen Brandung. Sie wurden zu der Kapelle gespült, wo zwei Märtyrer in Glassärgen zur Schau gestellt waren. Mit eigentümlicher Feinheit ertrugen die Leichname den Blick der Neugierigen. Weiße Atlasseide, wie sie zu Brautkleidern verwendet wird, umspannte straff Totenkopf und Skelett, das mit emporgezogenen Knien kaum die Größe eines sechsjährigen Kindes erreichte. Eine von großen Edelsteinen funkelnde Dornenkrone saß auf dem Haupte und ein nicht minder geschmückter Brokatüberwurf umfaltete den Körperrest. Der von weißglänzender Seide umstraffte Schädel, der mit seinen ekstatisch-regungslosen Augenschatten durchaus einem Asketengesichte glich, die Märtyrerkrone mit den Edelsteinen, diese schöngestellte Vereinigung grauenhafter Widersprüche gab Zeugnis von der zarten Furchtbarkeit und vom Herrschertum des religiösen Leidens sowie vom Adel der Heiligenverwesung.

Kaum hatten Ferdinand und Barbara einen Blick auf die Dulder werfen können, als sie schon wieder vorwärts geschoben wurden. Sie sahen die riesige, aus Silber getriebene Weltkugel, deren Äquator die Schlange umringelte. Dann standen sie endlich vor dem Wunderbild der Muttergottes, das ringsum von einem Gitter eingefaßt war. Die kleine Figur der Madonna verschwand im Unbestimmten, denn sie erhob sich auf dem Kapitell einer hohen Säule, die sie aller menschlichen Nähe entrückte. War sie unwillig, zu hören, so durften die Fluten des Gebetes kaum ihre Füße netzen. An der Säule gischtete ein weißer Berg empor. Es war eine Schneewächte von Wachs, aus tausend Opferkerzen und Opfergliedern zusammengeschmolzen. Zwei Sakristane lockerten mit dem Spaten diesen frommen Opferschnee, um für neue Gaben Platz zu schaffen.

Aber auch hier war keines Bleibens. Schon fanden sich die beiden auf der Treppe, die zur Schatzkammer der Kirche emporführt. Ein Kuppelsaal mit vielen Schaukästen, in denen sich wertlose und kostbare Weihgeschenke aneinanderreihten. Prunkvolle Meßgewänder, märchenhafte Perlenschnüre adeliger Herrinnen, daneben Eheringe und billiger Allerweltsschmuck kärglicher Kleinbürgersfrauen. Die jenseitserfüllte Demokratie des Glaubens machte zwischen irdischen Werten keinen Unterschied. Die Opfergaben waren nicht in materielle Klassen geteilt. In der Mitte des Saales herrschte eine Bildtafel der Madonna, die ein König des dreizehnten Jahrhunderts auf all seinen Feldzügen mitgeführt und nach einem Siege hierhergebracht hatte. Mit näselnder Stimme und in memoriert-geschraubten Wortfolgen, die geschichtlichen Jahreszahlen gemütlich herunterleiernd, gab ein trinkgeldsüchtiger Kirchendiener von diesem und anderen Ereignissen Bericht.

Ein unabsehbar langer Gang tat sich auf. Das Kalkweiß der Mauern war fast nirgends zu sehen, denn bis zur Wölbung hinan hingen dichtgedrängt Bilder und Trophäen. Hier hatte ein Mädchen seinen goldblonden Zopf der Göttin geopfert; fest und üppig hing er, mit himmelblauer Masche gebunden, hinter Glas und Rahmen. Barbara las das Datum der Devotion: »Am dritten August 1850, im achtzehnten Jahre meines Lebens.« Sie rechnete dem Knaben vor: »Wenn diese Frau noch lebt, ist sie jetzt Sechsundsechzig Jahre alt. Sie hat sicher ganz weiße Haare, denn selbst ich bin schon grau. Schau her, ihr Zopf ist blond geblieben ...« Ferdinand zweifelte nicht daran, daß dies ein Wunder sei. Eine Abteilung dieser Danksagungsgalerie war grauenhaften Gegenständen gewidmet. In regellosem Durcheinander waren Krücken, Prothesen, orthopädische Schuhe, Schienen, Mieder und solcher Leidensdinge mehr an die Wand gehängt oder gestellt. Krankenstühle sogar standen in den tiefen Fensternischen. Ein Museum des bresthaften Menschenleibes.

»Alle sind sie gesund geworden und haben diese Sachen dann hierhergebracht«, sagte Barbara. Und Ferdinand sah, wie die Lahmen ihre Krücken fortwarfen, wie sie lachten, die Arme reckten und kindlich umhersprangen. Einen Augenblick lang dachte er an den unwiderruflichen Tod seiner Eltern. Vielleicht hätte ihnen diese Muttergottes helfen können. Er drückte erregt Barbaras Hand. Unter der Himmelsmutter stellte er sich nicht viel anderes vor als eine jüngere und schöngekleidete Barbara, eine Barbara aller Menschen, die über den Wolken wohnte. Alle Bilder hier verkündeten ihre fleißige Fürsorge und zeigten, daß der Mensch nicht verloren war. Eine Frau streckte ein schreckhaft aufgequollenes Bein aus dem Bett. Eine andere lag schon im Sterben. Dort entwickelte eine steife Lokomotive drohenden Riesenqualm, gewillt, das ahnungslos auf den Schienen spielende Kind zu zermalmen. All diese Siechen und Gefährdeten rettete die Muttergottes mit einem lächelnden Wink.

Es war die erste Bildersammlung, die Ferdinand in seinem Leben sah. Die Maler hatten grellfarbige Flächen mit unbeholfenem Pinsel hingestrichen und ihre Figuren in geheimnisvoll altfränkische Gewänder gesteckt, die es nicht mehr gab. Furchtbar leuchtete das Blut der Wunden, abscheulich starrten die Verzerrungen der Glieder, die Blässe der schmerzhaften Gesichter strömte Schrecken aus. Die Wirklichkeit auf diesen Bildern war nicht allein durch das Ungeschick der Maler so kraß verzerrt. Die finsteren Mächte des Hinterhaltes, die all diese Schreckensszenen entfesselt hatten, schienen an diese ihre Darstellung ohnmächtig gebunden und schnitten Grimassen. Wie sich doch die Gefahren aufbäumten, die rings den Menschen umlauern! Mit rotgeöffnetem Höllenrachen sprang der tollwutkranke Wolfshund den Wandersmann an, der vom Neubau abstürzende Stein hielt sich in furchtbarer Schwebe über dem Haupte des Hinzumordenden, jene Lokomotive brauste, aus allen Nüstern drachenhaft dampfend, ewig auf ihrem Fleck. Stichflammen des Grauens und der Gnade schossen aus diesen Gemälden. Die Bauern und Kleinbürger aber, die zur Stunde die Galerie bevölkerten, fühlten sich mehr vom Grauen angezogen, denn sie standen gerade vor jenen Bildern im dichten Haufen, wo der ekelhafte Panoptikumsanblick zerfressener Glieder oder greller Gefahren den Gedanken an die Rettung fast völlig verdrängt.

Von solchen Erlebnissen war Ferdinand sehr erschöpft, als sie sich nun einer schmalen Wendeltreppe zuwandten, um den Glockenturm zu besteigen. Oben in der Stube, wo die weltberühmte Glocke hing, trat Barbara auf die Erkerstufe der Turmluke. Sie hob den Knaben empor, damit auch er das Land sehe. Viele Minuten verblieben sie stumm. Dann machte die Frau eine unbestimmte Bewegung mit der freien Hand in die Landschaft hinaus. Es gelang ihr nicht, den Ort, den sie meinte, genau zu zeigen, denn das Kind war ja schon ziemlich groß und schwer. So blieb ihre Gebärde zwischen Himmel und Erde hängen. Sie sagte ins Leere hinaus: »Dort bin ich zu Hause.« Ferdinand aber umhalste sie mit seinen Armen. Ein schläfrig-süßer Wohllaut des Gefühls durchströmte ihn bei ihren Worten. Das Stimmentausend des Doms warf seine Blasen durch die Falltür der Glockenstube. Ferdinand roch den leisen Weichselholzduft von Barbaras Scheitel. Er war bei ihr zu Hause.


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