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Fünfzehntes Kapitel.
Die Neige des Tages

Die Stube des Bergmanns!

Es ist nicht allzu lange her, daß der Schiffsarzt in seiner Kabine mehrere Nächte hintereinander ein und denselben Raum im Traumbild sah. Es war ein ziemlich großer dämmriger Saal, der dem Präparatenzimmer eines medizinischen Instituts glich. Eine Projektionsleinwand im Hintergrund, auf der rauchig schwache Bilder zerflossen, sprach für dieselbe Bedeutung. Nicht so die innerlich erleuchteten Kristalldrusen, die von der Platte schwerer Eichenkasten herniederschimmerten. Der Anblick dieser Kasten und Kristalle bewirkte in dem Träumer jedesmal eine merkwürdige Lähmung.

Halberwacht setzte er sich dann im Bette auf und dachte an die alte Heimat, während sein schwarzer Mantel an der Kabinentür, vom Meeresatem in Gang gesetzt, wie ein Uhrpendel die Sekunden einer außermenschlichen Zeit zählte. Ohne recht zu wissen warum, dachte er an die alte Heimat.

O Land der Mitte, Zweivölkerland, Dreivölkerland, Böhmerland! O Land des Blutes, das sich dreifach durchdringt und das dreifach vergossen wird in unaufhörlichen Opferungen seit tausend Jahren! Deiner Stämme Zahl, Deutsche, Slawen, Hebräer, umarmt einander in inbrünstiger Feindschaft. Aber vielleicht sieht Gott nur die Umarmung und nicht die Feindschaft! Land der unendlich ruhenden Saatfelder, Land der gierigen Industrien, Land grobschlächtiger Leiber, Land der entschwebenden Geister! Viele deiner Kinder sendest du aus, damit sie dein vergessen. Dann aber schickst du ihnen eifersüchtig über die fremden Meere Träume nach, die ihre Glieder in mystischer Lähmung erstarren lassen!

Damals freilich war die Stube des Bergmanns keineswegs in Dämmerung gehüllt. Die riesige Sonne jenes Tages stieß ihre scharfen Lichtklingen durch die niedrigen Fenster des bäuerlichen Raumes. Auf dem Kasten standen wohl zwei große Drusen von Eisenblüte und Bleierzkristall, aber sie schimmerten nicht. Alles andere hatte der Traum hinzugefälscht, den feiertäglich gedeckten Tisch in der Mitte des großen Zimmers aber vergessen. Man erwartete ja Gäste. Nicht nur Barbara und der Sohn des Obersten, auch der älteste Bruder der Kinderfrau und des Bergmannes war angesagt. Als hochwürdiger Herr und Pfarrer in einem Marktflecken bildete er den Stolz der Familie.

Da die Schwägerin in aller Frühe über Land gegangen war, um einen Wöchnerinnenbesuch abzustatten, und nicht vor dem Mittagessen zurückerwartet wurde, hatte Barbara die Zubereitung des Festmahles übernommen. Vielleicht war das Verschwinden der Bergmannsfrau eine Abdankung vor Barbaras Kochkunst, die von den Brüdern stets hochgepriesen wurde. Das Mittagsmahl war demnach eine willkommene Freude für alle. Es wäre ungerecht, ihm nicht ein paar Worte zu widmen.

Knapp gerechnet bringt der Mensch täglich eine Stunde mit dem Essen hin. Dies macht in einem mäßig langen Leben von sechzig Jahren nicht weniger als einundzwanzigtausendneunhundert Stunden aus. Übersetzt man es in eine faßliche Zahl, so sind es neunhundertzwölf Tage und Nächte oder zweieinhalb volle Jahre unseres Lebens, die wir einzig und allein dieser Tätigkeit widmen. Ein guter Statistiker könnte errechnen, daß unsere Tragödien, unsere seelischen Kämpfe, unsere geistigen Stürme, unsere philosophischen und künstlerischen Erlebnisse eine weit geringere Weile in Anspruch nehmen. Wieviel aber reden die Menschen und ihre Bücher von diesen großartigen Dingen, deren Besitz adelt, während sie die wichtigste und ausdauerndste Beschäftigung ihres Daseins mit hochmütigem Schweigen übergehen. Dies ist eine zimperliche Heuchelei und gouvernantenhafte Prüderie, welche die Alten nicht kannten, da sie das Mahl zu einem rechtmäßigen Mittelpunkt ihrer Tage und Werke setzten.

Barbara und die Schwägerin trugen die Speisen auf. Zuerst kam eine starke dunkelbraune Suppe, die den Saft eines großen Stückes Rindfleisch in sich aufgenommen hatte und die Würze so manchen grünen Gemüses. Zudem schwamm in dieser Suppe noch eine hübsche Portion Leberreis. Dann folgte – was sich an Sonntagen auch auf armen Tischen hierzulande findet ein zarter magerer Schweinsbraten mit brauner Kruste. Kartoffeln und süßsaures Kraut vervollständigten den Gang. Dazu trank man frisch abgezapftes Bier, das Franta aus dem Wirtshaus geholt hatte. Nun aber brachte Barbara auf einer großen Schüssel die Speise herein, die sie ihrem Pflegekind als besondere Huldigung zugedacht hatte. Es waren je drei Kirschen in dünnen Teig gewickelt und gesotten. Darüber wurden Streuzucker, geriebener Topfen und zerlassene Butter geschüttet. Der blaurote Fruchtsaft vermischte sich mit den übrigen Zutaten zu einem höchst schmackhaften Sud, den Ferdinand leidenschaftlich liebte.

Alles in allem ein ziemlich grobes und landläufiges Mahl. Aber der Schiffsarzt, der in seinem Leben oft gehungert hat und jetzt alltäglich vor den internationalen Gleichgültigkeiten endloser Diners sitzt, würde alle feineren Tafelgenüsse dafür hergeben, servierte man ihm Barbaras Speisenfolge. Wie alle andern Kindheitserlebnisse, so ist auch das erste Erlebnis des Wohlgeschmacks richtunggebend. Es ist ein wichtiges Element der Heimatliebe und bestimmt die Sympathien mit, die der Mensch für Völker und Länder hegt.

Beim Essen wurden in trägen Pausen Gespräche geführt, wie sie gewiß an den meisten Sonntagstischen dieser Gegend üblich waren. Nicht nur der Bergmann, auch der Pfarrer hatten ihren Rock abgelegt und stützten ihre wuchtigen Arme in den weißen Hemdärmeln schwer auf den Tisch, während sie von weither ihre Suppe löffelten und schlürften. Der Bergmann sprach wenig, gleichsam um seinem gelehrten und höherstehenden Bruder mit unbeholfenen Worten nicht im Wege zu sein. Es muß aber gesagt werden, daß der alte Arbeiter ein viel wissenderes und feineres Antlitz besaß als der Geistliche, von dessen stupsnäsig rotem Bauerngesicht der Schweiß herunterrann. Dieser sagte übrigens genau dasselbe, was auch der Bergmann gesagt hätte, würde er mehr gesprochen haben: Etwa, daß die Ernteaussichten zufriedenstellend seien, aber man dennoch einen zweitägigen Regen brauchen könne, daß sich der neue Kreistierarzt in Milin als Nichtskönner entpuppt habe, daß an allem Unglück die Politik Schuld trage und die Reichsratsabgeordneten in Wien nur deshalb Obstruktion trieben, um die Sitzungsdauer hinauszuschieben und ihre Diäten in den Vergnügungslokalen der Weltstadt anzubringen. Trotz dieser leicht pessimistischen Betrachtungen, die das Mahl würzten, war man auf der Hut, sich zu erregen und darüber die Essensfreude zu vergessen. Nur einmal ereiferte sich der Pfarrer stärker, wobei er sogar auf den Tisch schlug. Er kam nämlich auf den großen Skandal zu sprechen, in dessen Mittelpunkt eine Spar- und Vorschußkassa der Hauptstadt prangte, die in Konkurs gegangen war. Durch den Diebstahl eines Direktors und die Hehlerei mehrerer Politiker, die ihm Schmiere standen, waren Tausende von armen Leuten um ihren Sparpfennig gekommen. Auch der Pfarrer hatte dabei hundert Gulden verloren. Er erklärte das gesamte Bankwesen der Welt für eine staatlich geschützte Diebsverschwörung und gelobte, in Zukunft seine Ersparnisse, wie alle wahrhaft gescheiten Leute, in den Strumpf zu stecken. Barbara und ihre Verwandten stimmten eifrig zu. Der Bergmann war durch die Anwesenheit seines Bruders und des Oberstensohnes sichtlich versteift. Seine Frau redete den Schwager mit »Hochwürden« an, was sie aber, sooft es nur ging, vermied. Zu Ferdinand sagte sie: »Junger Herr!« Barbara, die wieder einmal zu Hause auf dem Grunde ihrer Eltern war, strahlte von innen und bemühte sich, ihren Pflegebefohlenen mit heimisch mütterlicher Liebe zu umgeben. Es gehörte durchaus zum Bilde dieses ländlichen Tisches, daß die Männer nur selten das Wort an die Frauen richteten, und die Frauen ihrerseits, unbekümmert um die Männer, angelegentlich miteinander flüsterten. Ferdinand ahnte nicht, daß er und seine Zukunft der Gegenstand dieses eifrigen Getuschels war. Er hatte die genierte Beklemmung schnell überwunden, die ihn in einer fremden Runde immer überfiel. Durch das Flußbad wundersam erweckt, durch den langen Weg sehr hungrig, saß er neben Franta und ließ sich seine Lieblingsspeise schmecken. Die Bewunderung für den neuen und ersten Freund war so rasch gewachsen, daß er alle Dummheiten und Ungezogenheiten des Burschen sogleich nachahmte. Zupfte Franta am Tischtuch, jonglierte er mit dem Besteck, schlenkerte er aufdringlich mit den Beinen, so vollführte Ferdinand unverzüglich die gleichen Taten. Nur die wildbettelnde Gebärde Frantas, mit der er seiner Mutter den leeren Teller zur Füllung hinbot, vermochte der Gast nicht nachzuäffen.

Nach Tisch ging der Pfarrer mit den beiden Jungen in den kleinen Garten. Sorgenvoll inspizierte er die Rosenstöcke vor dem Haus, die sein Geschenk waren. Mit der Gärtnerschere schnitt er die abgeblühten Reste ab und entfernte die welken Zweige. Die Sonne wütete mit unverminderter Kraft. Über das leere Bauerngesicht des Geistlichen lief immer dichter der Schweiß. Er hielt bei seiner Arbeit die Augen halbgeschlossen. Ferdinand und Franta standen ihm zur Seite. Er wußte selber nicht, wie er zu dem recht verworrenen Einfall kam, einen Knaben, der noch nicht einmal die Volksschule besucht hatte, in die lateinische Deklination einzuführen. Vielleicht wollte er dem kleinen aber hochgestellten Gaste des brüderlichen Hauses eine Ehre zuteil werden lassen. Vielleicht auch wollte er damit betonen, daß sie beide, er und Ferdinand, nicht ganz zu dieser Umgebung gehörten, sondern Mitglieder einer höheren sozialen Schicht vorstellten:

»Die Rose heißt auf lateinisch rosa«, lehrte er, »rosa, rosae, rosae, rosam, rosa, rosā! Sprich das schön nach!«

Und voll freudiger Zuvorkommenheit gab Ferdinand, zuerst mit einigen Schnitzern und dann richtig, dieses Lied wieder:

»Rosa, rosae, rosae, rosam, rosa, rosā.«

Von diesem lateinischen Spiel, in das noch ein paar andere Vokabeln einbezogen wurden, die sich ringsum anboten, blieb Franta, der Prolet, ausgeschlossen. Aber er fand sich damit ab.

Dann ging der Pfarrer schlafen, und die Knaben entwischten wieder. Auf einer frischgemähten Wiese brachte Franta seinem Gaste die Anfangsgründe des Fußballspiels bei. Als Ball diente ein abgefallener halbreifer Apfel. Ferdinand faßte sogleich Leidenschaft für diese Betätigung, die ihn im Leben nicht mehr verlassen sollte. Das heißt, er ist nicht etwa ein guter Fußballspieler geworden oder auch nur ein Enthusiast der Sportstribünen. Aber noch heute, wenn er seines Weges geht, und vor ihm liegt ein größerer Stein, wird er ihn gewiß eine ganze Strecke lang weiterstoßen und dabei die Erinnerung jener Freistunden in den Füßen haben, da er mit andern halbwüchsigen Kameraden sich an dieses Spiel verlor. (Das »Goal« war durch zwei Haufen markiert, die aus den Röcken und Kappen der Spieler bestanden.)

Es wurde kühler, und die Buben legten sich müde nebeneinander auf die Wiese hin. Ferdinands ausgestreckter Körper fühlte mit seiner ganzen Fläche die Erde. Dieser erneuerte Kinderkörper, der heute zum erstenmal das Wesen des Wassers gekostet hatte, er kostete jetzt zum erstenmal das Wesen der Erde. Mit tausend nervösen Saugnäpfen, mit winzigen grasverhüllten Lippen prickelte und sog sie an dem hingegebenen Leibe. Ferdinands Rücken spürte ihre Lust, ihn wie alles andere zu schlucken, gierig alles Oberirdische sich einzuverleiben. Sie atmete wie ein ruhiges unendliches Tier. Ihr Atem roch nach Heu. Ferdinand rückte dicht an Franta heran. Da kam auch über den größeren Jungen Zärtlichkeit:

»No, und was wird weiter mit dir werden, Mensch?« fragte er in abgebrühtester Erwachsenheit. Ferdinand erfaßte den Sinn dieser Worte nicht voll. Aber er stammelte bekümmert:

»Ich weiß nicht ...«

Franta richtete sich halb auf:

»Und ich sage dir, was brauchst du fortzufahren? Hast ja dort eh' niemanden!«

»Ich muß aber in die Schule gehen«, erklärte Ferdinand.

»Warum mußt du dort in die Schule gehen? Kannst auch hier in die Schule gehen. Der Lehrer, gut, der ist oft besoffen. Herr Vondrak heißt er. Aber der deine dort, wird er besser sein als der Herr Vondrak? Ich sag dir, bleib bei uns! Wir werden schon zuschauen ...«

Diese holprige Einladung grub sich in Ferdinands Sinn ein.

Man ging früh schlafen, kaum daß es dunkel geworden war. Die Schwägerin hatte für Barbara und Ferdinand die Mansardenkammer hergerichtet. Dem Kinde war das Bett zugedacht, Barbara sollte auf dem alten Wachstuchsofa schlafen. Sie trug zwei kleine Kränze aus Wiesenblumen in das Dachzimmer, die sie am Nachmittag geflochten hatte. Dieser uralten Mädchensitte aus verschollener Zeit erinnerte sie sich immer, wenn sie nach Hause kam. Jetzt legte sie die kunstvoll gewundenen Kränze in zwei tiefe Suppenteller voll Wasser. Ferdinand aber hatte bemerkt, daß sich draußen auf der kleinen Holztreppe einige Blumen losgelöst hatten und herabgefallen waren. Es störte ihn, die vereinsamten aus dem Zusammenhang des Lebens gefallenen Blüten in der Finsternis welken zu wissen. Er machte Barbara auf diese Unordnung aufmerksam. Sie ging mit dem Licht hinaus, suchte die verlorenen Blumen auf der Treppe zusammen und legte sie einzeln zu den Kränzen ins Wasser. Diese Nichtigkeit befriedigte Ferdinand auf eigentümliche Weise. Als Barbara die Kerze ausgeblasen hatte, wagte er sich mit seinem Anliegen hervor:

»Sag du ... könnten wir denn nicht hierbleiben ... immer ...?«

Ungläubig staunte die Antwort ins Dunkel:

»Was will Er? Was sagt Er?«

»Ich kann auch hier in die Schule gehen ... Der Lehrer, gut, der ist oft besoffen ... Herr Vondrak heißt er ... Aber wird der meine dort besser sein ...?«

Entschiedene Ablehnung kam herüber:

»Das ist keine Schule für Ihn. Aus Ihm soll etwas anderes werden, etwas Großes, wie es Sein Papa war.«

Ferdinand wehrte sich weinerlich-trotzig:

»Aber ich will ja gar nichts Großes werden, ich will lieber hierbleiben ...«

Daraufhin schien Barbara über diesen Wunsch ernsthaft nachzudenken und lange Für und Wider zu erwägen, ehe sie ihn endgültig verwarf:

»Was denn? Hierbleiben? Hier gehört Er nicht her. Er gehört zur Herrschaft!«

Ferdinand wußte auf dieses Argument nichts mehr zu erwidern. So traurig es war, ihm blieb nichts anderes übrig als zu schweigen und einzuschlafen.


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