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Sechstes Kapitel.
Champagner

Wenngleich man noch nicht einmal das erste Viertel des Krieges überstanden hatte, so herrschte doch in der Menge, die mit den Marschkompagnien zum Bahnhof zog, eine galgenhumorige Wut und eine höhnische Erbitterung. In dieser Stadt und in diesem Lande zumindest war es so. Die begleitende Menge selber zerfiel in zwei Ströme, in einen äußeren, der aus Gaffern und Mitläufern bestand, und in einen inneren, den die verzweifelten Angehörigen der Krieger bildeten. Die Gesichter der Mütter, Väter, Frauen waren in einer eigentümlichen Weise blutleer und abgespannt. Alle schienen sie übernächtig zu sein, aber nicht nur von einer, sondern von vielen Nächten her. Manche unter ihnen waren ja auch schon knapp nach Mitternacht aufgebrochen, um mit den ersten Personenzügen oder auf Bauernwagen zurecht zum Abschied zu kommen. Dann hatten sie noch viele Stunden lang vor der Kaserne warten müssen und von ferne die kriegerischen Ansprachen, Feldmesse und Kaiserhymne überdauert. Nun scharrten sie neben der Truppe einher, deren schlecht ausgerichtete Glieder wie in Schlaftrunkenheit vorwärtsschwankten. Auffällig war es, daß in diesen letzten Minuten zwischen den Scheidenden kaum ein Wort fiel. Die Soldaten bemühten sich, mürrische Gesichter zu schneiden, als sei ihnen die Anwesenheit der trostlosen Verwandten eine unerwünschte Belästigung. Auch die Familie von Ronald Weiß war vollzählig ausgerückt. Sie erwies sich als recht vielköpfige Sippe: Vater, Mutter, eine Schwester und zwei jüngere Brüder. (Der älteste Bruder stand schon seit Kriegsbeginn in Serbien. Seit drei Wochen hatte die Familie nichts mehr von ihm gehört, was auf die Stimmung des heutigen Abschiedstages mit Zentnerlasten drückte.) Die Fünf stolperten regellos durcheinander, denn jeder wollte seinen Anteil an Ronald haben. Die Mutter hielt sich noch am meisten abseits. Sie war mit einem stummen, gleichmäßigen Weinen beschäftigt, das sie wie eine unaufschiebbare Arbeit den Ihren entzog. Der Vater, ein kleiner dürftiger Mann mit einem beweglichen Spitzbärtchen, zeigte in rührender Zudringlichkeit das Bestreben, seinem Sohn den Rucksack zu entreißen, um ihn wenigstens bis zum Bahnhof selber zu schleppen. Es war ein sinnloses Beginnen, das die Geschwister zwang, durch ähnliche Versuche ihrerseits die Wirrung zu mehren. Die Offiziere ließen alles geschehen und machten sich unsichtbar. Der Kampf um den Rucksack ergab wenigstens auf dem Flügel, wo Weiß marschierte, Heiterkeitsstoff und Gelächter. Als der Bahnhof in Sicht kam, verfiel Ronald plötzlich in eine falsche Ausgelassenheit und begann zu plappern und alberne Witze zu erzählen. Da der Alte schwerhörig war, mußte er schreien: »Vater! Weißt du, was der Unterschied zwischen einem General und einem Kriegsberichterstatter ist, wie? Nein!? Ich weiß ihn auch nicht. Aber ich weiß das Gemeinsame. Beide sieht man nie in der Feuerlinie.« – »Weißt du, wohin sich der Armeekommandant begibt, wie? Nein!? Auf den Kriegszuschauplatz.« Die letzten hundert Schritte folgte ein schlechter Witz dem andern, während die stumme Tränenarbeit der Mutter in ein erschrockenes Winseln überging.

Vor dem Bahnhof geschah etwas Unvermutetes. Jäh erscholl das Kommando: »Einzeln abfallen!« Und zwischen einem Spalier von Feldgendarmen mußten die Kompagnien im Gänsemarsch sich durch das nur halbgeöffnete Portal zwängen. Kaum aber war der letzte Mann im Tor verschwunden, als auch der andere Flügel zufiel. Die Gendarmen machten Front gegen die Menge der Verwandten und Mitläufer, die in ein Wehgeheul ausbrach. Auch durch die Mannschaft ging ein Ruck. Die Köpfe senkten sich. Jeder spürte, daß er jetzt erst in der Falle des Krieges gefangen war. Die Bahnhöfe spielten die Rolle von Fußangeln. Man ließ den Leuten aber keine Zeit zum Klarwerden. Nun stürzten sich die Offiziere, die während des Marsches unsichtbar geblieben waren, mit scharfen Rufen auf die Abteilungen. Wie um die Truppe und sich selbst zu betäuben, und Angst einjagend, die eigene Angst zu überwinden, ergingen sie sich in verwirrenden Befehlen und Schimpfreden. Ohne daß jemand auch nur ein ungehorsames Blinzeln gewagt hätte, glich der ganze Raum doch einem Schiff, dessen meuternde Matrosen eben entwaffnet worden sind. Neue Erlässe, strenge Repressalien vielleicht, die keiner hier verstand, waren in Kraft getreten. Wenig Zivilisten befanden sich auf den Bahnsteigen und finsterentschlossene Bewachungsmannschaft hütete drohend die Ausgänge. Es gehört zu den Erfahrungen des Krieges, daß derartige Mannschaft, die einen »Hinterlandsschwindel« erwischt hatte, besonders scharf gegen die weniger glücklichen Kameraden vorging, da sie durch solche Schärfe ihre Heimatsstellung zu festigen glaubte. Unter den vielen schmutziggrauen Uniformen und den unrasierten Männergesichtern, die sich von der Tuchfarbe wenig unterschieden, regten sich nur drei weiße Flecke. Dies waren die Damen des »Labedienstes«, wobei die Bezeichnung Damen eine wohlwollende Übertreibung vorstellt. Die wirklichen Damen nämlich hatten sich nach den ersten Wochen des patriotischen Überschwanges von dieser Liebespflicht zurückgezogen. Drei verbrauchte weibliche Erscheinungen, hohlwangig und mit eingesunkenen Augen, waren als abgeblühter Rest jenes ehemaligen Labesegens und patriotischen Liebestriebs zurückgeblieben. Sie händigten den Soldaten kleine Schächtelchen mit Zuckerwerk aus, wie man sie gegen einen Groscheneinwurf von Stollwerckautomaten beziehen kann.

Von allen Seiten kreischten jetzt die Chargen den Befehl »Vergatterung« durcheinander. Die verbellte Herde stellte sich in zwei langen Reihen an und starrte auf den leeren Riesenzug, der sie aufnehmen und viele von ihnen in den Tod führen sollte. Die Kompagniezüge wurden abgeteilt und in Abstand gesetzt. Die Leutnants machten dem Hauptmann Prechtl, der die Front abschritt, schallend die Meldung. Hinter Prechtl stolzierte ein dicker Feldwebel, der die Standesliste mit der gemeldeten Mannschaftszahl verglich. Plötzlich flüsterte er dem Hauptmann etwas zu, der unruhig wurde und die anderen Herren zu sich beschied. Zwei Infanteristen fehlten. Der Vorgesetzten bemächtigte sich eine peinliche Verlegenheit. Prechtl bekam einen blutroten Kopf. Die Abteilungen wurden namentlich ausgezählt mit dem Erfolg, daß man jetzt wußte, wie die Deserteure hießen. Zwei Minuten später schon meldeten Telegraph und Telephon die beiden Namen an alle Militärpolizei- und Gendarmerieposten des Landes. Der Hauptmann stellte mit den Rotten, zu denen die Ausreißer zählten, ein kurzes Verhör an. Sie seien während des Marsches zum Bahnhof aus der Reihe getreten, um Zigaretten zu kaufen. Mehr wußte niemand. Hauptmann Prechtl verkündete darauf diesen Verbrechern und allen, die sie nachahmen würden, einen schnellen, aber gründlichen Tod durch Erhängen oder Erschießen. Seine Stimme zitterte. Er ließ durchblicken, daß er alle für mitschuldig halte und es bedaure, mit solch »schurkischem Menschenmaterial« gegen den Feind ziehen zu müssen. Strammgespannt standen während dieser Worte die Kompagnien da, als wollte jede Sehne zerspringen. Dennoch konnte manche Miene den schiefgezogenen Ausdruck eines verbissenen Triumphes nicht verhehlen. Dies hatte mit politischen Gefühlen nichts zu tun. Befriedigter Sklavenstolz bewunderte die Kühnheit von Mitsklaven, die ihre Ketten zerbrochen hatten.

Nach dieser Szene vollzog sich die Einwaggonierung schnell und klaglos. Ferdinand bestieg einen der Wagen, auf dem neben der Aufschrift »40 Mann oder 6 Pferde« noch einige patriotische Kernsprüche in Kreide prangten. Weiß behauptete, daß diese kriegerischen Sentenzen nicht von Soldatenhand stammten, sondern allmorgendlich von Amts wegen auf den Wagenwänden immer erneuert würden. Obgleich beide verschiedenen Kompagnien angehörten, kletterten Ferdinand und Weiß in denselben Waggon, um die Reise ins Feld gemeinsam zu erleben. Der Journalist bemühte sich, gleichmütig und witzig zu bleiben, und Ferdinand – der sich im Gegensatz zu all den Abschiedskranken wundersam frei fühlte – unterstützte ihn durch vorsichtige Gespräche bei dieser Anstrengung. Einige unverwundbare Gemüter begannen zu singen. Die andern blieben ablehnend stumm. Bald erstickte der Gesang wie eine Flamme, die zu wenig Luft hat. Als sich dann endlich der Zug in Bewegung setzte und sechshundert Menschen ihre dreiviertelgewisse Todesfahrt antraten, herrschte einen Augenblick lang tiefes Schweigen. Jeder sah vor sich hin oder wühlte in seinem Rucksack. Nach einigen Minuten der Fahrt sagte Ronald Weiß zu Ferdinand:

»So, Gott sei Dank! Jetzt sind meine Leute schon ein paar Kilometer weit fort. Und morgen hundert Meilen, und übermorgen noch mehr. Und wenn wir auf einem andern Stern ausgeladen werden, so würde ich überhaupt nichts mehr von ihnen wissen. Es ist erstklassig eingerichtet, daß unsere Sentimentalität mit der Entfernung abnimmt ...«

Ferdinand bewegte mehrmals stumm die Lippen, ehe er eine ganz verwirrte Empfindung zum Ausdruck brachte:

»So fährt man auch von sich selber fort ... immer weiter ... glaubst du nicht?«

Weiß starrte ihn zornig an:

»Weißt du, ich bin froh, daß mir jetzt wenigstens im Magen besser ist ... Tiefsinnige Probleme werden uneröffnet zurückgestellt ... Hast du einen Rum in der Feldflasche? Her damit!«

Nach zwei Stunden etwa war die Gemütsverfassung dieser Menschenladung völlig ausgewechselt. Alles schrie, lachte und juchzte durcheinander. Als reise hier nicht eine Kriegstruppe ins tödliche Trommelfeuer, sondern eine ungezügelte Horde von Bauernbengeln zu einem Jahrmarkt, so durchtobte die Fröhlichkeit der Jugend die rollenden Räume. Die Leute hatten den beim Abmarsch gefaßten Alkohol längst vertilgt. Nun sangen, brüllten und rauften sie in ihrem Kotter und schlugen mit Lederriemen nach einander. Auf der Türschwelle des Waggons, den man wegen Licht und Luft geöffnet hatte, saßen zwei Burschen und ließen die Beine hinunterbaumeln. Von jeder Mitteltür der zwanzig Wagen baumelten Beine hinunter. Die meisten Leute spielten Karten: Mariage, Einundzwanzig, Sechsundsechzig und wie alle die Spiele heißen, die in Schenken und Kantinen beliebt sind. Hundert Hände schlugen die fettigen Blätter auf die vielfältigsten Unterlagen. Auch im Offizierswagen wurde im ähnlich befreiten Seelenzustand Tarock gespielt. Ferdinand war der einzige Einjährig-Freiwillige in seinem Waggon. Ronald Weiß hatte auf Befehl bei seiner eigenen Kompagnie Platz nehmen müssen. Man durfte einander zwar besuchen, aber seinen Standort auf die Dauer nicht wechseln. Als einer der Beinbaumler in den Innenraum zurücktrat, setzte sich Ferdinand an dessen Platz. Nun sah er auf die Landschaft hinaus, über der das leise Gruneln des Frühmärzen lag, wiewohl der Schnee noch nicht überall fortgeschmolzen war. Die Erde schien unendlich gleichgültig oder machte sich nichts wissen. Aber nicht nur sie, auch der Mensch. Waren etwa die Straßen, die an der Seite des Zuges rannten, waren die Ortschaften, waren die Häuser mit den Gaffern in ihren Fenstern, waren sie erregt über das Geschehen in der Welt? Vielleicht blieb dieses Geschehen viel unwichtiger als man glaubte. So weit und frei dehnte sich das Land. Komisch nur, daß ein Wort, ein Befehl, eine schriftliche Verfügung die Macht hatte, die Menschen mit unwiderstehlichem Zwang in enge Löcher und Gräben zu pferchen, wo doch soviel Erdraum vor ihnen lag? Entsprach das alles einer tiefen Notwendigkeit oder war es nur eine Geisteskrankheit, an die man sich gewöhnt hatte? Warum gehorchte man ihr dann? Aus Angst, die auch nur eine Erscheinungsform dieser Geisteskrankheit bildete? Vielleicht waren die beiden Deserteure die einzig Gesunden, die zum vernunftgemäßen Handeln den wahren Mut besaßen. Ferdinand malte sich aus, wie die frechen Gesellen sich jetzt höhnisch in einem verlassenen Weiler oder auf einem einsamen Gehöft, vielleicht auch mitten im Forst verbargen und, allen Nachstellungen der Gendarmerie trotzend, Tage einer gotthaften Freiheit verlebten. Unermeßlich ist die Erde, und die Menschen sind Feiglinge, die zwar gleichgültig in den Tod gehen (wie zum Beispiel er selbst), aber das wirkliche, losgelöste Leben nicht wagen. Was hatte er in den letzten Jahren alles ertragen müssen, um ein warmes Essen in den Magen zu bekommen? Jene Mutigen aber pfiffen auf solche Dinge. Sie wühlten nicht wie Hunde im Kot nach Speiseresten. Sie führten, fern von allen Städten und Menschen der Erde verbunden, ein großartiges Jägerleben. So wähnte wenigstens Ferdinand in diesen Minuten der Schwärmerei.

Es war eigentlich lächerlich, daß sie alle nicht wußten, wohin die Fahrt ging. Es konnte immer noch alles Mögliche sein: Rußland, Galizien, Balkan. Vielleicht auch schwenkte man in der Nacht ab und beförderte sie heimlich an die italienische Grenze, wo schon der neue Feind lauerte. Gut! Das Heer mußte sich vor Verrat schützen. Aber erniedrigend war's doch, ein Mensch auf dieser unermeßlichen Erde zu sein und wie eine Viehladung ins Jenseits verschoben zu werden.

Fuhr man in eine Station ein, steigerte sich jeweils die lustige Tollheit des Kanonenfutters. Einige, die Geld besaßen, spendierten Bier und Schnaps. Weiß, Ferdinand, Wellemin und andere beteiligten sich an der allgemeinen Freigebigkeit. In diesem Stadium der Fahrt teilte man alles mit allen. Würste, Bauernselchfleisch, Rum und Schokolade wanderten im Tauschwege von einem zum andern. Dieser rasch um sich greifende Kommunismus erfloß aus dem Gefühl: Wozu aufheben? Was wissen wir von Morgen? So war's denn auch ein ziemlich wahrer Kommunismus, der mehr in der Entäußerung als in der Aneignung bestand.

Als Ferdinand auf einer der Haltestellen sich entlang des Zuges Bewegung machte, winkte ihn Hauptmann Prechtl heran. Er war ein schon älterer Offizier mit einem sehr offenen Gesicht. Schon während der Ausbildungszeit hatte er dem Freiwilligen öfters Zeichen einer Sympathie gegeben, die aber nicht deutlich wurde und es nicht einmal zu einer persönlicheren Ansprache kommen ließ. Jetzt aber reichte er ihm die Hand:

»Sie, Einjähriger! Es ist mir lieb und ich hab mich dafür verwandt, daß Sie draußen meinem Bataillon zugeteilt werden ... Ich habe nämlich als junger Fähnrich mein erstes Jahr unter Ihrem Herrn Papa gedient, und ich achte sein Andenken sehr hoch ... No, wie gesagt, damit Sie das wissen ...« Und weil er nichts weiter zu sagen fand: »Halten Sie sich weiter brav. Ich werd schon auf Sie aufpassen.«

Nur wer jemals die Preisgegebenheit und das Nichtigkeitsbewußtsein eines Soldaten niedrigen Grades selbst erlebt hat, kann es nachfühlen, daß die wohlwollende Ansprache eines Höheren auf die Seele wirkt wie Regen auf verdorrtes Gras. Alle Geschöpfe der Sklaverei bedürfen der Ermunterung. Sagt man zu einem bissigen Köter mehrmals mit weicher Stimme »Du braver Hund«, so weiß er sich vor heulender Erschütterung nicht zu fassen, springt zärtlich am Lobesspender empor und vergeht vor Dankbarkeit. Der Soldat aber, der »Brav« geheißen wird, strafft seinen Körper unnatürlich gerade, als sei er entschlossen, in alle Ewigkeit stramm zu stehen, um sich des Lobes würdig zu erweisen. Auch Ferdinands Lebensmut war jetzt wundersam gestärkt. Der Hauptmann Prechtl also bildete ein Bindeglied zwischen ihm und seinem Vater, der zwanzig Jahre nach seinem Tode für den Sohn noch wirken durfte. Er gehörte jetzt nicht mehr zu den Niedrigen und Namenlosen. Eine stürmische Liebe für Prechtl ergriff ihn, wodurch auf einmal der ganze Krieg ein anderes Gesicht bekam. Ferdinand holte die Bilder des Vaters aus sich hervor. Der Oberst wäre heute sicherlich, daran zweifelte er nicht, ein Leuchtend-Großer, ein angebeteter Feldherr dieses Krieges. Auch General Hindenburg, der Sieger von Masuren, war ja in hohem Alter aus einem Pensionistenwinkel hervorgeholt worden. Ferdinand fühlte sich im Zuge seiner Phantasien durch seinen Vater mit allen großen Heerführern sonderbar verwandt. Was verstanden denn die andern alle vom Krieg? Und er, der vor einer Stunde noch von der Weite dieser Erde und von der gotthaften Freiheit der Deserteure geträumt hatte, war jetzt willens, sich aktivieren zu lassen und in die Fußstapfen Papas und der großen Feldherren zu treten. Diese innere Wandlung hatte das freundliche Wort eines kleinen, schon recht überalterten Hauptmannes vermocht.

Die Nacht kam und stürzte die Seelen, die das Leben ausgelassen feierten, erbarmungslos von der Höhe hinab. Es war winterlich kalt geworden. Trostlos hing eine schmähliche Funzel von Lampe an ihrem Nagel. Wie sollten vierzig Mann auf Bänken und Boden einen hinreichenden Schlafplatz erwischen? Die Klugen hatten sich schon beizeiten hingelegt und die Fläche in Beschlag genommen. Die andern aber konnten sich nicht rühren und ächzten in verkrampften Stellungen. Zuerst stiegen vereinzelte Schimpfworte auf, die sich bald zu einem dichten Gemurre steigerten. Flüche gegen die Transportart, gegen die Offiziere in ihrem beneidenswerten Waggon zweiter Klasse, gegen den Krieg, der schon viel zu lange dauerte, wurden laut, oft aber auch nur gemeine und schmutzige Worte, die irgend jemand ohne Zusammenhang ausstieß, um seine Wut loszuwerden. Zugsführer Kläsner, der Rangälteste hier, der schon zum zweitenmal ins Feld ging, fuhr mit höhnischen Worten in die allgemeine Unzufriedenheit. Sie würden sich alle, wenn sie erst im Grabendreck einquartiert wären, nach diesem Viehwaggon zurücksehnen. Solch hoffnungsvolle Aussicht beruhigte niemanden. Zugleich mit dem Gestank, der in solchem Pferch nur natürlich war, verbreitete sich eine andere Macht: Haß! Nicht nur der gewöhnliche Haß der Sklaven gegen die Peiniger, sondern der verzehrende Haß von Sklaven untereinander. Dieselben, die am Nachmittag ihre Güter brüderlich miteinander geteilt hatten, waren plötzlich in Eigentumsfanatiker verwandelt. Böse hüteten sie ihre Rucksäcke, die nur die karge Fassung und wahrlich keinerlei Schätze bargen. Haß verwirrte den müden Sinn. Jeder Nachbar wurde im Halbtraum zum Dieb und Feind. In einem Winkel erhob sich ein schallender Streit, der gefährlich auszuarten drohte. Ein Infanterist schrie, jemand habe ihm seine Zigaretten aus der Manteltasche gestohlen. Dadurch fühlte sich ein anderer beleidigt und ging mit beiden Fäusten auf den Ruhestörer los, der das Bajonett zog. Die Chargen, darunter auch Ferdinand, mußten sich zwischen die Rasenden werfen, mit sofortiger Anzeige und der schweren Strafe des Anbindens drohen, um ein Unglück zu verhüten. Endlich gelang es. Die beiden Hähne legten sich wieder hin. Der eine zischte, als könne er sich anders nicht beruhigen, mit blödsinniger Hartnäckigkeit schweinische Worte in die Luft.

Die unbesiegliche Langsamkeit der Nacht überwand auch den Haß. Das Fluchen und Lästern ging in Räuspern und Seufzen über und endete, wenn auch nicht im Schlaf, so doch in Apathie. Nur wenn der Zug über eine Weiche hüpfte, stehen blieb oder krachend verschoben wurde, wogte das Murren wieder auf, und ein paar inbrünstige Unflätigkeiten flogen über die Köpfe.

Ferdinand, wie er es immer in aller Lebensunbill hielt, machte sich klein, zog sich zusammen, womit er die Kampfesweise jener Tiere nachahmte, die dem Feinde die kleinste Angriffsfläche bieten. Er schlief nicht, sondern ein schwerer Halbschlummer ringelte sich wie eine schwarze dicke Schlange um die abgeblendete Lampe seines Bewußtseins. Dennoch, als am andern Morgen die Sonne in urweltlicher Röte aufging, fühlte er sich frisch und beisammen. Er stieg über Leiber, die lebensunwillig zusammenzuckten, setzte sich auf die Türschwelle und ließ die Beine herabhängen wie gestern.

Veränderte Landschaft: flach, kahl, steppenhaft, östlich. Dies mußte Galizien sein. Wenigstens wußte er nun, wohin es ging. Diese weite Erde zeigte die vernichtende Gewalt der Einsamkeit ganz anders als das böhmische Land. Hier war es schon schwerer, Deserteur zu sein und den Kampf mit ihr aufzunehmen. Fast bildete es, angesichts dieser leeren Steppe, dieser grundlosen Karrenwege, eine behagliche Vorstellung, an eine Menschenherde gefesselt zu sein und die Eßschale mit Konservenkaffee zu erwarten. Die Fahrküchen im Proviantwagen rauchten schon. Ferdinand dachte heute nicht mehr an die tapferen Flüchtlinge, und er dachte auch nicht mehr daran, sich aktivieren zu lassen. Seine Gedanken begannen sich zum erstenmal deutlich mit der Front zu befassen, der man immer näher kam. Er benützte die Zeit, um einen Brief an Barbara und eine Karte an Engländer zu schreiben.

Während dieses Tages wollte sich die gewaltige Lustigkeit der gestrigen Nachmittagsstunden nicht wieder einstellen. Es ging zwar durchaus nicht unheiter her, scharfe Späße trafen ihr Ziel, Witze wurden gewechselt, dennoch hatte das Ganze eine verdrießliche, ja boshafte Farbe. Eine bestimmte Gruppe von Leuten spielte sich immer frecher auf und gewann die Oberhand. Es waren das jene Männer, die nach ausgeheilter Verwundung oder Krankheit beim Kader gewartet hatten, um neuerdings ins Feuer geschickt zu werden. Sie führten das große Wort, und ihr Bestreben ging dahin, die ängstlichen Neulinge zur Verzweiflung zu bringen. Der riesenhafte Zugsführer Kläsner tat sich besonders hervor. Er hatte den dicken Einjährigen Wellemin, dem man den Wohlstand anmerkte und deshalb doppelt gerne eins aufpfefferte, zur Zielscheibe erwählt:

»Also, mein Kinderl, das ist gar nicht so gemütlich, wie Sie glauben. Jetzt sitzen S' noch großartig in unserer ersten Klass'. Aber auf einmal, vielleicht schon in der nächsten Stund', da macht's einen Ruck, so! Zugsweise aussteigen! Und eh' Sie sich noch schneuzen können: Schwarmlinie! Deckung suchen! Die Russen haben uns eingesehen. Und schon! Granatlage: Eins, zwei! Sie können bis sechs zählen ...« Und er ahmte naturgetreu das Heulen des Granatenflugs nach: »Neben Ihnen schlagt's ein und Sie kriegen Erd' zu fressen. Aber eh' Sie noch wissen, wie Ihre Frau Mama heißt, stehen ein paar Wolkerln in der Luft, tschutz, tschutz. Schrapnells, mein Goldner! Spüren Sie schon, wie es Ihnen hinten warm wird? Also, die Sprengstücke, das ist weiter gar nichts, die reißen einem höchstens Händ' und Fuß' ab, aber wenn Sie eine Hülse erwischt, nicht größer als eine Bierflasche, da können S' von Glück sagen; die haut Sie so umeinand' und versteckt Sie so tief, daß man mit Ihnen keine Scherereien mehr hat ...«

Wellemin machte das angestrengte Gesicht eines Menschen, dem Kopfschmerzen das Zuhören erschweren. Die Stimme blieb ihm fast aus, als er fragte:

»Sagen Sie, Herr Zugsführer, ist das immer so, daß man beim Aussteigen gleich beschossen wird?«

»Immer, mein Engel, immer. Was, meine Herren«, wandte er sich an die Kriegserfahrenen, »unser Generalstab hat das extra so eingerichtet, damit man sich sofort ans Feuer gewöhnt.«

Nun begannen die Eingeweihten sich mit einem Schwall aufgeblasener Frontgeschichten zu überbieten. Neben den gewöhnlichen Bramarbastaten, die wie anekdotische Fabriksware anmuteten, kehrte ein anderes Motiv immer wieder: Rache an verhaßten Offizieren! Während eines Patrouillenganges, eines Sturmangriffs oder bei einer anderen Gelegenheit wird solch ein Schreier und Menschenschinder abgeknallt wie ein räudiger Hund. Ein Schuß in den Kopf, ein paar Kolbenhiebe, und wenn sich das Vieh noch rührt, wird es ausgetreten wie eine Zigarette. »Aber«, hieß es dann weiter, »die Herrschaften wissen das sehr genau, und deshalb sieht man immer seltener einen Aktiven in den vordersten Gräben. Kommt dann so eine Bestie, ist sie zuckersüß und behandelt euch wie junge Mädchen. Denn draußen, Burschen, da gibt's nichts ...«

Zu dieser Zeit machten die Militärbehörden den Versuch, in den einzelnen Truppenteilen die Völker, soweit dies möglich war, zu mischen. So auch waren diese beiden Marschkompagnien aus verschiedenen Ergänzungsbezirken zusammengesetzt und bestanden aus Deutschen und Tschechen. Man muß aber sagen, daß die Deutschen den anderen, was den Haß gegen die Offiziere betrifft, nicht viel nachgaben. Zugsführer Kläsner zum Beispiel war ja ein Deutscher aus Gmünd. Diese Reden hatten aber noch eine Nebenabsicht. Sie sollten Wellemin und Ferdinand, den künftigen Reserveoffizieren, beizeiten den Standpunkt klarmachen.

Ferdinand saß längst wieder auf seinem Lieblingsplatz. Bei Kläsners Schilderung vorhin war es auch ihm kalt und heiß geworden. An dem leichten Übelkeitsgefühl im Zwerchfell erkannte er, wie er sich fürchten werde. Weiß, der alle Augenblicke im Stabswagen umherschnüffelte und stets überraschende Neuigkeiten brachte, war zu Ferdinand mit der diskreten Botschaft gekommen, daß man heute in einer großen Etappenstadt übernachten werde, und daß ihr Schicksal ihnen noch einmal Gelegenheit biete, den Rausch des Lebens zu kosten. Und wirklich, um sieben Uhr abends blieb der Zug in einer bedeutenden Bahnhofshalle stehen, und der Befehl pflanzte sich fort: »Alles heraus!«

Die Kompagnien wurden in Baracken untergebracht, die innerhalb eines schönen weiten Parks aufgestellt waren. Es gab keine Strohsäcke und Kavaletts, sondern nur große, ein wenig nach unten geneigte Schlaftische, die für je vier Mann Platz boten. Niemand aber wollte schlafen. Die Augen der Männer knisterten von Abenteuerlust. Man hatte erwartet, noch heute im Schmutz eines Schützengrabens zu landen, nun aber sah man sich in eine ziemlich große Stadt versetzt, wo Bogenlampen brannten, wo bunte Lokale ihr verheißungsvolles Licht auf die bewegte Straße warfen, wo elegante Weiber augenwerfend dahinstrichen, Wagen rollten und ein süffiges Leben herrschte wie nirgends mehr im Hinterland. Zwar konnte man beim Durchmarsch mitten auf der Hauptstraße zerschossene Häuser und Kirchenruinen sehen; dies aber steigerte nur die Lebenslust der Leute. Gerade die Zerstörung bot einen besonderen Reiz, denn sie bewies, daß sich hier in nächster Nachbarschaft des Krieges die Ordnung des Lebens gelockert hatte, daß alles Gottverbotene hier erlaubt war und daß durch die traurigen Lücken der Straße eine lüsterne Anarchie überall eindrang. Ein starker Mann kann einmal auch imstande sein, sich mit einem verwüsteten Weibe abzugeben, in deren schamloser Hingabe er auf einen neuen und unheimlichen Grund des Genusses zu stoßen hofft. Einem derartigen Weibe glich diese Stadt, deren faule Lüsternheit dem Kriege zu Diensten stand.

Hauptmann Prechtl fühlte genau, daß es nicht ratsam wäre, heute eine scharfe Disziplin walten zu lassen. Eine Schar von Feldgendarmen wäre nötig gewesen, die Baracken zu bewachen. So entschloß er sich klugerweise, jeder schädigenden Verletzung der Manneszucht zuvorzukommen und alle drohenden Anstände im Keim zu ersticken. Wer es erbat, erhielt von ihm das Ausgangsrecht mit der Warnung freilich, er würde jeden, der um sechs Uhr morgens nicht blitzblank dastünde, unerbittlich anbinden lassen. Auch Ronald Weiß ersuchte im Namen aller anderen Einjährigen um Überzeit-Erlaubnis für die ganze Nacht, die ihm nebst einigen Vermahnungen gewährt wurde.

Ferdinand, Ronald, Wellemin machten sich sogleich auf den Weg. Weiß, der große Forschungsreisende, der sich der Kenntnis jedes europäischen Winkels rühmte, behauptete auch in dieser Stadt zu Hause zu sein. Vor Jahren habe er hier zwei lustige Nächte zugebracht, als er im Auftrage einer Zeitung das Land bereiste, um über die bodenständige Salz- und Petroleumgewinnung eine Reihe volkswirtschaftlicher Stimmungsbilder zu schreiben. Er nannte aus dem Gedächtnis den Namen des örtlichen Hauptcafés sowie den ungewöhnlichen Titel eines ansprechenden Weinlokals, das wegen der Friedenskundschaft vormals hier garnisonierender Artillerieoffiziere ›Zum Richtkreis‹ hieß. Und wirklich, es stellte sich heraus, daß Weiß kein leerer Geschichtenerfinder, sondern ein gewissenhafter Chronist war. Denn sehr bald wurde die Aufschrift des Cafés Habsburg sichtbar und nicht weit davon die Lichterreihe des Richtkreises.

Im Kaffeehaus entstand bei Ronalds Eintritt ein Hallo. Wahrhaftig, unabsehbarer Bekanntheit mußte sich der Journalist erfreuen, daß er hier in einer Etappenstadt begrüßt wurde wie daheim. Es gab übrigens eine Erklärung dafür. In dem Frontabschnitt, hinter dem diese Stadt lag, standen heimische Divisionen. Nicht ohne sich durch einen schnellen Blick davon zu überzeugen, daß Ferdinand seine Beliebtheit gebührend bemerkte, ging Weiß von Tisch zu Tisch, wo seine Bekannten saßen, zum größten Teil Reserveoffiziere. Er benahm sich im Sinne militärischer Ehrerbietung sehr frei und frech. Die Kappe nahm er nicht ab, schob sie weit ins Genick zurück, spitzte den Mund zum Pfeifen und vergrub die Hände in den Hosentaschen, wobei das Bajonett am Überschwung nach vorne rutschte. Er setzte die Miene eines verwegenen Apachen auf, was er immer dann tat, wenn er sich beobachtet fühlte, und schlenderte herausfordernd durch das Café, ohne daß man seiner Haltung eine Gezwungenheit anmerken konnte. In dem Lokal befanden sich auch ein paar höhere Offiziere. Aber sie wollten keinen Anstand machen und übersahen deshalb hinter ihren großen Zeitungen das herausfordernde Benehmen dieses kleinen vorlauten Korporals. Weiß ließ seine Stimme nach allen Seiten hin erschallen, wo er nur ein »Servus« oder ein »Heil« anbringen konnte. Ruhig duzte er die bekannten Reserveoffiziere und klopfte sie brüderlich auf die Schulter, obgleich sie, ihrem soldatisch-zivilistischen Zwitterwesen gemäß, sich besorgt umsahen, ob niemand diese Vertraulichkeit eines Untergebenen ihnen gegenüber mit scheelen Augen ansehe. Ronalds schnelle Blicke aber und seine schnelle Zunge schufen sich überall Raum:

»Servus, Franzl! Wie geht's dir, Jaro? Ich soll dir was ausrichten. Von wem? Das kann ich dir nur unter vier Augen sagen. Einen Krieg führt's ihr da, meine Herren! Höchste Zeit, daß ich nachschauen komm! Wie? Ich hab schon längst den Verdacht, daß der ganze Krieg ein Schwindel ist. Ich werd ihm draufkommen. Schön sitzt es sich da im Café Habsburg, und das Hinterland gibt Gold für Eisen ...« In diesem Ton ging es weiter, bis Weiß den süßen Trank seines Ruhmes und seiner Witzigkeit ausgekostet hatte. Während dessen standen Ferdinand und Wellemin ziemlich verlegen an der Tür.

Endlich kam Ronald mit zwei Herren, die sich ihm angeschlossen hatten, und entschied, daß man sich zum ›Richtkreis‹ begeben werde. Die zwei Neuen waren: Ein langer Artilleriefähnrich, der mit ungestörter Sorgfalt minutenlang seine Mantelfalten richtete, ehe er mit kurzer sporenklirrender Verbeugung den Raum verließ; und dann ein brünetter, schmächtiger Oberarzt, der Ronald Weiß immer nur als »Herr Redakteur« ansprach.

Im ›Richtkreis‹ spielte sich eine ähnliche Szene wie im Café Habsburg ab. Ronald hatte sogleich alte Freunde gefunden. Gott weiß warum er den krummbeinigen und grinsenden Oberkellner »Don Diego« titulierte und ihn als echten »Spanier aus der Sierra von Podbaba« vorstellte. Die andere Bekanntschaft hieß Mila und warf sich ihm mit dem Ausruf »Jesusmaria, Ronny« in die Arme. Mila aber war nicht die einzige Frauensperson an diesem Ort. Sie teilte ihr animierendes Amt mit Vilma und Bronislava, genannt Slava. Letztere war ein Riesenweib, mindestens einen Meter fünfundachtzig hoch, durch welches Übermaß sie das Interesse des kleinen dicken Wellemin gewann. Vilma war ein Stöpsel – und da sich das Gesetz von der Anziehungskraft der Gegensätze hier vollinhaltlich bewahrheitete – fand sie sogleich die Gunst des langen Artilleriefähnrichs. Man hatte in einem abgesonderten Raum zwei Tische zusammengeschoben. Es war eine der typischen Örtlichkeiten, wie sie in den Knotenpunkten zehn bis zwanzig Kilometer hinter der Front überall zu finden waren. Eine papierene, giftig-grelle Pracht verhüllte nur ungenügend die Moderfeuchte entmörtelter Mauern, die bedenkliche Risse aufwiesen. An bloßen Schnüren herabhängende Glühbirnen waren von zerknitterten Kinderlampions umkleidet. Die Sitzgelegenheiten bestanden aus strohgeflochtenen Stühlen und einem breiten Sofa, auf dem ein guter Teppich lag. Diesem schönen Beutestück des Krieges konnte ein scharfer Blick anmerken, daß es sein Eroberer in Ermangelung anderen Kleingeldes hier hatte zurücklassen müssen. Statt eines Pianos oder Grammophons stand ein gewaltiges Orchestrion im Zimmereck. Die Mädchen verlangten immer wieder einen »Sechser« zum Einwurf, worauf aus dem Bauch des Unholds eine niederschmetternde Musik fuhr, die jedes Gespräch zerdrosch, aber auch dem Tanze nicht förderlich war. Gleich zu Beginn hatte jemand ein paar Schnapslagen bestellt. Ferdinand, der schon zwei Nächte nicht recht geschlafen hatte und eine starke Übermüdungssucht nach Alkohol empfand, stürzte rasch nacheinander drei Gläser Kontuszowka hinunter.

Niemand konnte verhindern, daß sich sogleich ein Kriegsgespräch entspann. Die Zeit war in die Phase der ersten Enttäuschungen getreten. Im Herbst, wenn die Blätter fallen, so hatte der deutsche Kaiser prophezeit, werde der Krieg zu Ende sein. Und nun begann schon ein neues Frühjahr. Weiß malte ein ziemlich düsteres Bild von der Lage. Neue Feinde rüsteten sich. Die Kriegspartei in Italien gewann die Oberhand. Der Journalist ließ erkennen, daß er in das geheimnisvolle Gewebe der Dinge tiefer eingeweiht war als andere. Er schien auf seinen Pessimismus merklich stolz zu sein. Sehr früh schon begannen sich die Kassandranaturen, die »Schwarzseher«, als eine Aristokratie zu fühlen, die sich von der zuversichtlichen Torheit der Herde schmerzlich abhob. Der Oberarzt unterstützte ihn mit dumpfem Schwermutston und bekräftigte alle Augenblicke Ronalds Rede:

»Hört, hört! So ist es, Herr Redakteur!«

Der Fähnrich hatte zwei große, krebsrote Tatzen vor sich liegen, die er ingrimmig betrachtete, als litte er mit ihnen an der Sehnsucht, jemandem eine Ohrfeige versetzen zu dürfen. Sein Kinn sprang weit vor, und seine Augen glitzerten unruhig. Er gehörte zu jenen verdrießlichen Menschen, deren Nerven Tag und Nacht von irgendeiner unbekannten Erbitterung beben. Solche Leute stehen unter der unabänderlichen Qual des Verneinungszwanges, der einer tiefeingewurzelten Gekränktheit entspringt. Sie sind schwer erträglich. Der Fähnrich hörte eine Weile mit tückisch irrenden Augen stumm dem Gespräche zu, doch so, daß man merken konnte, er lasse die alten Weiber zuerst ihren Unsinn schwatzen, um dann mit der ganzen Wahrheit aus dem Hinterhalt hervorzubrechen. Das tat er denn auch und schrie:

»Das ist alles ein Scheißdreck, meine Herren! Haben Sie den Armeebefehl Seiner Majestät, des Kaisers, gelesen?«

Er fuhr klirrend auf, nahm Stellung und schnarrte:

»Schmerzerfüllt verordne ich, daß das k. u. k. Infanterieregiment Nr. 28 wegen Feigheit und Hochverrat vor dem Feinde ausgestoßen werde aus meinem Heere. Die Fahne ist dem Regiment abzunehmen und dem Heeresmuseum einzuverleiben. Die Geschichte des Regiments, das vergiftet in seiner Moral von Hause aus ins Feld gezogen ist, hat mit heutigem Tage aufgehört.«

Der Fähnrich setzte sich. Er hatte so feierlich gesprochen, als sei er eigens dazu beauftragt, die Ausstoßung immer wieder zu verkünden. Der Abfall des Prager Hausregimentes und der kaiserliche Armeebefehl, der ihn offen zugab, hatte wie ein Schlag auf das Selbstbewußtsein der Monarchie gewirkt. Es war die erste Todesmahnung. Viele glaubten nach diesem Ereignis, daß ein strenges Strafgericht und die unerbittliche Verfolgung der hochverräterischen Bestrebungen allein das Reich retten würden. Auch der Fähnrich verfiel aus dem feierlichen in den wütenden Ton:

»Das ist es, Herrschaften, ich hab's auswendig gelernt, das ist es. Viel zu schlapp sind unsere Leute. Wir sollten von den Reichsdeutschen lernen, Himmel Herrgott. Ich war am Duklapaß Batterieaufklärer, und hab's selber gesehn. Mit Musik, meine Herren, sind sie hinübergelaufen. Mit Musik, ich habe die Meldung selber weitergegeben. Ein Riesenloch, sag ich Ihnen. Wir haben achtzig Prozent Verluste gehabt. Damals bin ich zur großen Silbernen eingegeben worden. In den nächsten Tagen muß ich sie bekommen. Meine Herren, es gibt nur eines«, schrie er, »hängen, schießen, foltern, morden das Gesindel!«

»Kann ein radikales Vorgehen wirklich helfen?« erlaubte sich der Oberarzt zu bemerken. Der Fähnrich schmetterte seine roten Hände auf den Tisch:

»Mir scheint, du bist auch so einer. Da gibt's nichts. Hängen, schießen, foltern, morden, nur nicht einsperren!«

Don Diego hatte ein paar Flaschen säuerlichen Weines gebracht, auf deren Etiketten das handgeschriebene Wort »Liebfrauenmilch« prahlte. Der Fähnrich löschte erst gründlich seinen Durst, dann brachte er der Runde zur Kenntnis:

»Ich will Ihnen meine Auffassung sagen. Sehen Sie, ich bin auf Urlaub. Aber ich kürze meinen Urlaub freiwillig um sechs Tage ab. Was? Sie glauben mir das nicht? Hier, bitte, mein Offener Befehl! Überzeugen Sie sich! Warum ich so blöd bin? Ich werd Ihnen das sagen, Herr Redakteur und Korporal Weiß. Weil ohne mich bei der Batterie alles drunter und drüber geht, deshalb komm ich früher zurück!«

»Der junge Mann hier, Mila«, sagte Weiß zu seiner Nachbarin, »ist noch so jung, daß er sich für gerad so unersetzlich hält wie den Conrad von Hötzendorf. Aber was tut Gott? Er ist gerad so ersetzlich wie der Conrad von Hötzendorf.«

Diesem Paradox, das seine Auffassungsgabe weit überstieg, saß der Fähnrich unsicher gegenüber.

»Haben Sie eine Ahnung von den Verhältnissen?« ereiferte er sich. »Es kommt heut auf jeden wirklich militärischen Menschen an. Die Ersatzmannschaft wird immer schäbiger.«

Weiß erhob sich und nahm tief beleidigt Habachtstellung:

»Herr Fähnrich, ich bitte gehorsamst um Verzeihung, aber ich selbst und meine Kameraden hier gehören zu dieser Ersatzmannschaft.«

Der Fähnrich, der nicht wußte, was er von diesem Ton zu halten habe, murrte:

»Man wird es euch draußen schon zeigen.«

Wellemin, der die ganze Zeit über von der Todesgefahr der nächsten Tage träumte, mischte sich ängstlich in das Gespräch:

»Diese schrecklichen Vorkommnisse verlängern den Krieg. Und ich hab gehofft, er wird schon im Winter aus sein und ich werde nicht mehr hinaus müssen.«

Er erschrak und suchte seine Offenherzigkeit zu verwischen:

»Die Entente nämlich faßt neuen Mut ...«

»Was soll aus sein«, brüllte der Fähnrich, »warum soll der Krieg aus sein? Wir sind ja noch nicht fertig. Wir haben ja noch nicht alles erreicht. Im Gegenteil. Das war eine Schmach. Serbien muß aufhören zu existieren.«

Weiß wandte sich mit tiefem Ernst an Wellemin:

»Natürlich! Warum soll der Krieg aus sein, du Trottel?! Wir sind noch lange nicht fertig. Der Herr Fähnrich ist zwar zur großen Silbernen eingegeben, aber hat sie noch nicht geliefert bekommen. Und dann braucht er ja außerdem noch das Signum laudis, das Eiserne Kreuz von den Deutschen, die Eiserne Krone, und wer kann es wissen, vielleicht den Maria Theresienorden für eine Heldentat gegen den Befehl. Bis dahin kann der Krieg noch ein bissel dauern.«

»Von mir aus kann er dauern, so lang er will«, sagte Mila, »aber nur der Stellungskrieg. Es geschieht nicht viel und man bleibt am Platz.«

»Recht hat diese Kriegsgewinnerin«, sagte Weiß, »man schränkt die Verlustliste ein und hält sonst den Vergnügungsbetrieb aufrecht.«

Der Oberarzt schloß sich jetzt der Verspottung des Fähnrichs an: »Wissen Sie, Herr Redakteur, ich hab darin eine große Spitalserfahrung, den Unterschied, wie die verwundeten Infanteristen und Artilleristen reden, den möchte man gar nicht für möglich halten. Die Infanteristen stecken nämlich in der wirklichen Hölle und die Artilleristen nur in einem ziemlich komfortablen Fegefeuer.«

Bei dieser Eröffnung wurde Wellemin sehr blaß. Der Angegriffene aber wehrte sich leidenschaftlich:

»Was weiß so ein Brunzflaschenträger davon!? Ich, als Aufklärer, bin immer im vordersten Graben.«

»Ja, aber das ist doch kein festes Engagement, sondern nur ein Gastspiel.«

»Man sollte den Doktor als einen Verbreiter beunruhigender Gerüchte zur Verantwortung ziehen«, meinte Weiß.

Wellemin prüfte, um seine Sorgen zu ersticken, andächtig den Maßunterschied seiner kurzen und Slavas langer Schenkel. Ohne von dieser Arbeit aufzusehen, seufzte er:

»Der Endsieg zieht sich immer weiter hinaus.«

»Korporal Wellemin verkündet den Endsieg! Große Titelleiste gleich unter dem Heeresbericht!« Der Zeitungsmann zeichnete dieses Ereignis in die Luft, während der verärgerte Fähnrich, der nicht mehr nüchtern war, nach Worten rang:

»Aufräumen, Ordnung machen muß man!«

»Wieso?«

»Die Hochverräter schinden!«

»Der Herr Fähnrich«, stellte Weiß fest, »möchte am liebsten gegen den inneren Feind kämpfen.«

»Das ist auch nötig. Hundertmal ja! Hängen, schießen, foltern, morden!«

»Methoden«, unterbrach ihn der Oberarzt, den Kopf wiegend.

Der Artillerist sammelte seinen Verstand, die kleinen splittrigen Augen kamen zu sich. Unterm Tisch schlug er die Sporen zusammen:

»Du bist ... Herr Oberarzt ... pardon ... sind Jude ... Ich habe ... pardon ... nichts gegen die Juden ... Aber vom militärischen Standpunkt aus ... pardon ... sind die Juden feige Schweine!«

»Sie wissen ... pardon ... einen Dreck von den Juden«, fuhr der Oberarzt auf. Er beherrschte aber sofort seinen Zorn und wandte sich mit seiner Darstellung an die anderen, als sei der Fähnrich viel zu dumm, dergleichen zu verstehen. Es gebe bekanntlich zwei Rassen von Juden. Die echte, die mit den Beduinen und Arabern gleichen Blutes sei, und die unechte, die man in diesem Lande hier, in Polen und Rußland reichlich antreffe. Diese zweite Kaftan- und Schläfenlockenrasse habe mit dem wahren Judentum nichts gemein. Sie stamme gar nicht von Semiten ab, sondern von dem ostrussischen Volksstamm der Chazaren. Daß aber die echten westlichen Juden trotz der furchtbaren Leiden zwei Jahrtausende ihr tapferes Wüsten- und Reiterblut nicht verloren haben, dafür zeuge nichts deutlicher als dieser Krieg und ihre unzähligen Blutopfer und Waffentaten an allen Fronten. Wer anderes behaupte, sei ein bewußter Verleumder ... Und der Rassentheoretiker blickte an sich herab, als wolle er an seinen eigenen Gliedern prüfen, ob der Beduine in ihm selber nicht verlorengegangen sei. Der Fähnrich, der nicht wußte, ob er ehrenrührig beschimpft worden war, schnappte nach Luft und bekam noch rötere Hände, als er sie schon hatte. Ehe er aber einen neuen Schlag führen konnte, donnerte das Orchestrion los, das eines der Mädchen vorsichtigerweise zu Hilfe gerufen hatte. Ein ungehobelter Vorkriegs-Onestep tobte durch den Raum. Weiß, der in dieser Fachliteratur eine unerschöpfliche Textkenntnis besaß, krähte mit:

»Und so schieben
Wir gerieben
Immer an der Wand lang.«

Don Diego war inzwischen – Ferdinand wußte nicht auf wessen Bestellung – mit Champagner aufmarschiert. Der junge Mensch genoß solchen Trunk das erstemal im Leben. Schon nach einem Glas verbreitete sich ein großes Wohlgefühl in seinem Gemüt. Während der Fähnrich durch den Wein immer gewalttätiger zu werden drohte, stellte sich bei Ferdinand eine neuartige Begeisterung ein und eine flugleichte Verzücktheit. Slava faßte ihn an und forderte ihn auf, mit ihr zu tanzen. »Aber ich kann ja gar nicht tanzen.« Sie preßte ihn an sich und küßte ihn: »Es wird schon gehn, Herzerl.« Und es ging wirklich. Als wäre eine Zwangsjacke von seinem Leib abgefallen, schwebte er. Slava flüsterte:

»Du bist mir viel lieber als der Dicke. Ich hab dich sehr gern.« Ferdinand fühlte sich von einer süßen Betäubung emporgetragen. Der Wein und der Duft des Weibes umnebelten ihn. Die schwarze Wolkenwand, die das Wort »Morgen« bedeutete, löste sich auf. Dabei sah er genau, was in dem Raum vorging. Er sah, daß Weiß eifrig mit Mila verhandelte. Er sah, daß der Fähnrich, auf dessen Schoß jetzt Vilma saß, mit dem Doktor weiterstritt. Er sah, daß Wellemin seine Brieftasche untersuchte und sie dabei vor den anderen abdeckte, damit ja niemand sich von ihrer Fülle überzeugen könne. Angesichts des tödlichen Schützengrabens war auch dieser kleine Geizhals im Zweifel, ob er nicht eine beträchtliche Summe opfern solle, um die letzten Stunden des Lebens der Lust und Liebe zu weihen. Er richtete an Slava ungeschickt verstohlene Zeichen. Sie aber tanzte bis zum letzten Takt, den das Orchestrion herausschmetterte, mit Ferdinand, dem sie Zärtlichkeiten erwies. Er taumelte an den Tisch zurück und trank sein Glas leer. Wiederum hörte er das Wort: »Krieg!« Da kam ein sonderbar glückseliger Zorn über ihn. Es litt ihn nicht länger. Auch er hatte etwas zu sagen, vielleicht etwas Wichtigeres als alle andern. Man mußte einmal die verfluchte Scham überwinden. Verwundert bemerkte er, daß er wie ein Tischredner aufgestanden war. Ganz von ferne kroch Ronalds Stimme zu ihm:

»Er ist besoffen ... Paßt auf, was da herauskommen wird ...« ›Ich bin also besoffen‹, dachte Ferdinand, ›das ist ja ausgezeichnet, da bin ich gar nicht verantwortlich.‹ Diese Erkenntnis stärkte ihn mit überlegener Heiterkeit. Während ihn leichte Gedanken erfüllten, die voll goldner Wahrheit zu sein schienen, gab die Zunge den Worten immer schwerer nach:

»Man hört immer nur Krieg, Krieg ... Aber was vom Krieg geredet wird ... das ist ja gar nicht der Krieg ... ich bitte um Verzeihung ... das ist etwas ganz anderes ... das ist, ich weiß nicht was ... Wie spät ist es jetzt? ... Ich glaub, es ist schon zwölf vorüber ... Also, Weiß, Wellemin, in ein paar Stunden werden wir schon besser wissen, was der Krieg ist ... Wunderschön aber ist es jetzt hier im Richtkreis, gerade deshalb, weil wir in ein paar Stunden im Krieg sein werden ... Ich kann mich nicht ausdrücken ... Er kommt mir wie ein fremdes Land vor, dessen Grenze wir schrecklich bald überschreiten werden ... Ich möchte noch ein Glas Champagner haben ... Herrlich, herrlich ... Von einem fremden Land weiß man doch nur etwas, wenn man dort lebt ... Man atmet die Luft ... Ich bitt gehorsamst, Herr Fähnrich ... Die silberne Tapferkeitsmedaille und das Signum laudis ist sicher etwas sehr Schönes ... Aber man kann doch nicht dafür ausgezeichnet werden, daß man in einem fremden Land lebt und Luft atmet ... Das hab ich, bitt gehorsamst, sehr blöd gesagt ... Aber ich kann mich nicht ausdrücken ... Es ist viel zu schön hier ...«

Hochbefriedigt fiel Ferdinand auf seinen Sitz. Welch eine Erleichterung, die Seele von der Wahrheit befreit zu haben. Von allen Seiten spritzte ihn Lachen an. Sein Glas war wieder voll von dem begeisternden Zaubertrank. Die Welt verwirrte sich göttlich. Er verstand nicht mehr, was Weiß ihm sagte. Er hörte nur noch Slavas Bekräftigung: »Recht hat er!« Wie alle ihresgleichen hatte sie eine Schwäche für Verworrenes und Gefühlsschweres. Ferdinands Kopf fiel auf den Tisch. Einen Augenblick später fühlte er sich von vielen Händen aufgehoben. Wieder roch er Slavas Parfüm. Nun lag er auf dem Diwan und glaubte auf einem Schiff dahinzufahren. (Mama hatte einst mit dem Kinde Ausflüge auf einem kleinen Flußdampfer unternommen.) Weiß berichtete den anderen, daß Ferdinand heute wohl seinen ersten Rausch im Leben habe. Dann setzte er sich zu ihm und sprach auf ihn ein. Ferdinand hörte immer: »Bis fünf kannst du hier schlafen, dann wirst du hinausgeschmissen.« Er hörte diese Worte, konnte ihren Sinn aber nicht ganz erfassen. Das Geschepper des Trinkgelages wurde immer undeutlicher. Dann waren Weiß und Mila verschwunden. Ferdinand schlug noch einmal die Augen auf, um Slava herzuwinken. Aber auch sie hatte sich mit Wellemin davongemacht. Zuletzt schien nur mehr der Fähnrich mit Vilma, dem Stöpsel, anwesend zu sein. Es gab einen Krach mit dem Kellner, der aber das selige Hinschweben des Schläfers kaum mehr erreichte.

Als ihn Don Diego mit der Mahnung »Lokalschluß« aufweckte, fand er sich zu seinem Erstaunen auf dem Diwan. Neben ihm lag ein großer Zettel Ronalds, der ihn aufforderte, den Abmarsch in den Krieg nicht zu versäumen. Ferdinand setzte erschrocken seine Füße in den fremden Raum wie in eiskaltes Wasser. Don Diego gähnte.

»Die Rechnung wär noch zu bezahlen.«

Ferdinand hielt sie in der Hand, konnte aber vor Verwirrung nicht lesen. Er stammelte:

»Haben denn die andern nichts gezahlt?«

»Nur den Wein und Schnaps. Beim Sekt haben die Herrschaften gesagt, der Herr Fähnrich soll zahlen. Der Herr Fähnrich aber hat nicht gezahlt.«

Ferdinand kam langsam zu sich:

»Wer ist denn zuletzt weggegangen?«

»Der Herr Fähnrich.«

Ein Strom von Schreck durchlief Ferdinand:

»Aber ich hab ja gar keinen Champagner bestellt.«

»Tut mir leid.«

»Den Champagner muß doch zahlen, wer ihn bestellt hat.«

»Tut mir leid. Der Herr Fähnrich sind als Vorletzter weggegangen und der Herr Einjährige sind der letzte. Ich habe hundertzweiundsechzig Kronen zu bekommen, bitte.«

Ferdinand sprang auf. Eine schnelle Regung: Den Schurken niederschlagen und davonstürzen. Er starrte mit leeren Augen auf die Rechnung. Don Diego wurde unangenehm. Er wußte genau, wie man einen Grünspecht zu behandeln habe. Einem Schutzmann gleich, zog er ein Notizbuch heraus, schrieb das Regiment des Schuldners auf und fragte mit frechem Ton nach seinem Namen. Da blieb dem Unglücklichen, der dieser Lage nicht gewachsen war, nichts anderes übrig, als zu bezahlen. Das Geschenk Engländers, das ihn mit dem holden Stolz des Reichtums erfüllt hatte, verschwand in der ekelhaft schmierigen Brieftasche des Kellners. Drei Zehnkronennoten und einiges Kleingeld bekam er heraus.

Auf der Straße übermannte ihn dieser Verlust mit schrecklicher Traurigkeit, die ihn nüchtern bis in die Knochen werden ließ. Er litt nicht nur wegen der ihm entrissenen Riesensumme, sondern auch um seines Freundes Engländer willen, dessen Opfer nun so schnöde vertan war. Als aber die Dämmerung begann und er auf einer Parkbank dem Tageswerden zusah, wich die Schwermut von ihm. Hatte er wirklich etwas Unentbehrliches verloren? Konnte er, der sein Lebtag nichts besessen, etwas verlieren?

Als die Kompagnien sich vergatterten, um zum Bahnhof zu marschieren, fragte ihn Weiß im Vorüberrennen:

»Hat dieser tierische Fähnrich seinen Champagner bezahlt?«

In dem Geprellten verwirrten sich viele Gedankenfäden: ›Wozu reden? Wenn ich es sage, wird mir Weiß alles ersetzen wollen, und er ist doch selbst ein armer Teufel. Seine Familie! Mein Gott, der komische Spitzbart von dem Alten. Dem Wellemin werd ich's vielleicht sagen. Der ist reich. Aber er weint um jeden Heller. Soll ich's nicht doch lieber dem Weiß sagen? Soll ich, soll ich nicht? ...‹

Ferdinand gab einige unbestimmte Laute von sich und sah, fast erlöst, daß Ronald, vom Kommandoschrei angetrieben, in seine Einteilung rannte. Die Bewegung des Marsches, der windige Sonnenaufgang, die Müdigkeit von drei schlaflosen Nächten, der Wein, dies alles erzeugte in Ferdinand einen Nachrausch und eine neue Gehobenheit. Er mußte die Tränen eines unbekannten Enthusiasmus verbeißen. Da heute keine Verwandten und keine bösartigen Wächter die Herzen bedrückten, zogen die Kompagnien in lachender Laune dahin, ohne an ihr Ziel zu denken. Diesmal wurde sogar ein Gesang von der Mehrzahl aufgenommen.

Und wieder stand die Mannschaft in einer langen Front vor dem leeren Zug. Wieder machten die Kompagnieführer dem Hauptmann Meldung. Wieder wurden die Namen aufgerufen und mit der Standesliste verglichen. Auf einmal aber stand eine Dame da. Eine ungewöhnlich schöne und große Frau in Schwesterntracht. Sie trat auf Hauptmann Prechtl zu und sagte mit lauter Stimme, die nicht gewohnt war, den Angeredeten in Betracht zu ziehen, daß sie zu dieser frühen Stunde einen gemeldeten Malteserzug mit Verwundeten erwarte. Ohne daß sie ihren Namen genannt hatte, zerschmolz Prechtl in ehrfürchtiger Galanterie. Die Schwester erkundigte sich immer mit gleichmäßig lauter Stimme um dies und jenes. Endlich fragte sie, ob der Herr Hauptmann ihr gestatten würde, an die ausziehenden Krieger Zigaretten zu verteilen. Sie verschwand für einen Augenblick und kam mit einer geistlichen Schwester und einem livrierten Chauffeur wieder, der einen Korb trug. Sie und die zwei anderen begannen von beiden Flügeln aus, den Soldaten die Zigaretten zu überreichen. Als die schöne Dame zu Ferdinand trat, zögerte sie einen Moment und lächelte:

»Bitte, nehmen Sie nur ...«

Er aber starrte sie mit wortloser Begeisterung an und lächelte auch, als könne er diesen herrlichen Anblick nicht fassen und wolle sich nimmer von ihm trennen. Die Zigaretten nahm er, steckte sie ein, sagte kein Danke, um nichts zu verkleinern und zu entzaubern. Die Kraft seines Blickes nahm aber auch die Frau gefangen. Sie bewegte sich nicht vom Fleck und suchte nach einer Konversation:

»Was für ein Landsmann sind Sie? Gehen Sie das erstemal ins Feld?«

Ferdinand gab karge Antwort, ohne seine Augen losreißen zu können. Endlich wußte sie keine Frage mehr. Ihr Auge nahm Abschied, und sie reichte dem jungen Menschen die Hand:

»Ich wünsche Ihnen alles Glück und eine gute Heimkehr.«

In glückseliger Verliebtheit bestieg Ferdinand den Viehwaggon. Es war eine Verliebtheit, die so gut zu ihm paßte. Ein Augenblick nur! Eine Erscheinung, eine Göttin, die keinen Namen hat, die von Nirgendher kommt und ins Nichts entschwindet. Und doch eine Umarmung, und doch ein Besitz, reicher, währender, als jemals ein Weiß es zu fassen vermöchte. Ferdinand breitete seinen Mantel aus und legte sich auf den schmutzigen Boden des Wagens, um im Schlafe die überirdische Fülle dieses Augenblickes auszukosten. Die Frau, schon war sie Bild geworden. Von allen Seiten schossen die Kräfte in dieses Bild ein und nährten es, auf daß es in schönen Farben erstrahle. Ferdinand sah in ihre Augen, solange er wollte, er verfolgte die Bewegung der Lippen. Unter der Schwesternhaube stahl sich eine dünne, aber ewige Strähne des hellen Haares hervor. Die von sich selber Losgelöste sprach weiter mit ihm, und sie gestand, daß auch sie ihn nun für immer in sich trage. Ferdinand sehnte sich nicht nach ihr, so erfüllt war er von diesem Besitz. Knabenhaft heroisch verwandelte sich der Krieg in ein Bilderbogengewoge. Um ihr zu gefallen, tanzte Ferdinand zwischen den feuerspritzenden Fronten, und während das Schweigen der Schlachtopfer in dem Waggon immer beklommener wurde, näherte er sich als Einzig-Glücklicher dem unhörbaren Grollen in der Ferne.


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