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XXXVIII

Sommerlicher Staub lag auf der Göbenstraße; der Sprengwagen hatte ihn erst vor einer Stunde gelöscht, und doch war er schon wieder da, immer neuer, golddurchflimmerter, sonnenwarmer, flüchtiger Sommerstaub, den ein lauer Wind, lautlos fächelnd, über Dächer und Häuser und Pflaster und Trottoir hinweht.

Unten im Keller war's langjähriger Staub, Staub von vielen Wintern und Sommern, der schwer wie Asche aufflog, als man die Möbel rückte; den hatte nie ein Sonnenstrahl beleuchtete nie ein freier Luftzug aufgeblasen.

Der Mann, der Arthur beim Ausräumen half, schimpfte; er mußte prusten und niesen, als hätte er eine Prise genommen. Sie wurden beide ganz schwarz im Gesicht und konnten kaum atmen und sehen.

Draußen auf der Straße hielt ein Wagen, mit einem magren Gäulchen bespannt; solch eine Fuhre gab's doch immerhin noch voll, obgleich die besten Stücke des Haushalts fehlten. Mine war beim Aufladen; ein ganzer Schwarm Kinder umringte das Fuhrwerk, und auch Erwachsne, Weiber mit Kleinen auf dem Arm und alte Männer mit krummen Rücken, standen in einiger Entfernung auf dem Trottoir und gafften.

Reschkes, die über fünfundzwanzig Jahre hier im Keller gewohnt hatten, Reschkes zogen! Nein, so was! In letzter Zeit hatte man die Reschkes ganz vergessen gehabt, nun erregten sie noch einmal das allgemeine Interesse.

Daß die Leute so zurückgegangen waren! Manch einer, der da gaffte, wußte sich noch genau zu erinnern, wie ›schneidig‹ der jetzt so kreplige Reschke aus der Brautkutsche gesprungen. Und manch eine tuschelte davon, wie sie, die Reschke, geprangt hatte in schwarzer Seide und im Orangeblütenkranz; einen Strauß hatte sie gehabt, so groß wie ein Wagenrad.

Die hatten sich eben zu nobel gemacht, – ja, ja, das kommt davon!

Die paar Sachen, die da aufgeladen wurden, wurden von forschenden Blicken durchbohrt.

Mine kümmerte sich nicht um die Gaffer. Mit Eifer war sie bei der Arbeit; voller Geschäftigkeit rannte sie ab und zu, faßte mit an, hob und trug schwer auf ihren starken Armen und rief ihrem Manne mit heller Stimme zu: »Stell das dahin« und: »Nu das hierhin!« Ein hohes Rot ließ ihre Wangen runder erscheinen, übergoß ihr ganzes Gesicht mit einem Schimmer von Jugend.

So leichten Herzens hatte sie noch nie aufgepackt. Vor ihren Blicken stand fortwährend das schöne, funkelnagelneue Haus am Ende der Neuen Winterfeldtstraße, wo sie nun wohnen durften. Freilich, vorläufig erst auf Probe, sie sollten erst ausweisen, ob sie auch der Baugesellschaft, die unten die großen Bureaus hatte, die Reinigung zu Dank machten, ob sie den Anforderungen gewachsen waren, die man an den Portier stellt.

Ach ja, sie würden schon! Eine Welt von Hoffnungen schwellte Mines Brust. Das war ja so ganz was für Arthur! Dazu langten auch seine Kräfte, im Haus umherzugehen und Treppen und Gänge, und dann Hof und Trottoir zu überwachen. »Sollste mal sehn,« hatte er zu seiner Frau gesagt und war dabei um einen Kopf gewachsen, »wie ich mich mit die Mieter stellen wer', streng aber jerecht!« Und die beiden Alten konnten abwechselnd vorn in der Portierloge sitzen und aufdrücken; Fridchen verstand das auch schon. Und Mine würde ein und die andre Waschstelle beibehalten; vielleicht fand sich auch noch eine Aufwartung im Hause dazu, oder die Herren aus dem Bureau gaben ihr Wäsche zu waschen. – – – – – – – – –


In Mines Herzen waren Hoffnungen aufgewacht. Über Nacht waren sie gekommen, wie ein erlösender, erquickender Regen übers Land nach langer, banger Dürre: der verkümmerte, hungrige Acker grünt neu, schon sprießen Blumen auf und wollen blühen. –

Vor vier Wochen war's gewesen, als sie in tiefster Bekümmernis über die Potsdamerstraße schlich. Matt war sie an der Mauer des Botanischen Gartens entlang geschlorrt. In dem Topf, den sie unterm Tuch hielt, hatte sie sich Kaffeegrund aus dem großen Restaurant geholt, vor dessen Hintertür sich alltäglich gegen Abend arme Weiber, gleich ihr, einfanden, und blasse, magre Kinder, um in Körben und Töpfen und Taschen allerlei Überbleibsel heimzutragen.

An der Mutter Rock hing Fridchen und weinte; im Gewühl der sich zu vorderst Drängenden war das kleine Ding getreten und gestoßen worden. »Wart nur bis zu Haus,« tröstete Mine das Kind, »da koch ich uns Kaffee!«

Aber sie beeilte sich dennoch nicht, ihr grauste vor dem dunklen Keller.

Da saß der alte Vater, hielt sich den Kopf mit beiden Händen und stierte vor sich hin, immer auf einen Fleck.

Da jammerte die Mutter laut, und in ihr Schluchzen mischte sich Schimpfen: siebenundzwanzig Jahre hatten sie hier gewohnt, siebenundzwanzig Jahre! Nun konnten sie, erst zum zweitenmal, die Miete nicht zahlen, und schon wurden sie herausgesetzt von der Blutsaugerin, der alten Hexe, der Haberkorn, der jetzt das Haus gehörte! Die Bertha hätte der nur seinerzeit den Hals umdrehen sollen, recht wär's gewesen! Herausgesetzt wurde man von der, wie hergelaufene Lumpenpackasche!

Da rannte Arthur in stummer Verzweiflung hin und her und tat so, als wollte er sich den Kopf an der Wand einrennen.

Nein, Mine hatte gar keine Eile, in den Keller zurück zu kommen. Sie fühlte sich selber so lahm, so hoffnungslos. Mit einem traurigen Blick sah sie auf Fridchen und strich ihr die Härchen aus den verweinten Augen. Wenn ihr Fridchen es nur mal besser kriegte – wenigstens immer satt hatte!

Sie verlor sich in dumpfen Träumereien.

Da blieb jemand vor ihr stehen – eine Dame mit einem kleinen Mädchen an der Hand!

Der Sonnenschein blendete Mines verdüsterte Augen; verwirrt schaute sie drein.

Die Dame lächelte sie an. »Na, Mine! Kennen Sie uns denn nicht mehr?!«

Nun kam sie zu sich. Das war ja Frau Müldner! Und das – das niedliche kleine Mädchen –?!

»Irmachen!« rief Mine plötzlich, und, niederknieend, küßte sie das Kind, das liebe Kind, das sie so manche Nacht im Arm gewiegt und stundenlang auf und ab gefahren. Mit einem Schlag stand die ganze Zeit, die sie bei Müldners verlebt, wieder vor ihrem Geist. Ach, waren das noch gute, sorgenlose Tage gewesen! – Sie weinte.

»Endlich sehn wir uns doch mal,« sagte Frau Müldner. Sie war augenscheinlich erfreut, ihr früheres Mädchen wiederzusehen, aber es lag zugleich Mitleid in dem Blick, mit dem sie die sorgengebeugte Gestalt des blassen Weibes überflog. Sie streichelte Fridchen. »Aber warum sind Sie denn gar nicht mal gekommen?«

»Weil mer'sch nich gutt genug ging,« flüsterte Mine und senkte den Kopf tief auf die Brust. Und dann schluchzte sie plötzlich laut heraus – es war ihr wie eine Erlösung aufzuschreien: »Ne, gar nich gutt!« –

Lange hatten sie miteinander an der Mauer des Botanischen Gartens gestanden. Wie Hundchen, die sich beschnobern möchten und doch Scheu vor einander haben, sahen die beiden kleinen Mädchen sich an, stumm, mit großen, erstaunten Augen.

Frau Müldner hatte Mine eingeladen, an dem nächsten Sonntag mit den Kinderchen zu ihr zu kommen. »Dann sehen Sie auch meinen Mann,« sagte sie – »aber nicht mehr nach der Eisenacherstraße!«

Sie hatten jetzt eine geräumigere Wohnung bezogen; Mine staunte über die fünf Zimmer und die drei Treppen, die sogar mit einem Läufer belegt waren. Ja, daß Herr Müldner jetzt ein besseres Auskommen hatte, das war der Frau gleich anzusehen gewesen; dicke Backen bekam die ja wohl nie, aber sie hatte jetzt so eine schöne, gesunde Gesichtsfarbe, und Irma hatte ein feines Kleidchen getragen und einen weißen Strohhut mit weißem Seidenband.

Herr Müldner war nicht mehr im statistischen Bureau. Ein gewissenhafter Arbeiter und gut empfohlen, wie er war, hatte er seit geraumer Zeit eine einträgliche Stellung bei der Schöneberger Aktienbaugesellschaft inne. Es war eine Art Vertrauensposten. Er sah jetzt ordentlich nobel aus in seinem feinen, dunklen Tuchanzug und dem schöngeplätteten Faltenhemd; aber sein guter Blick und sein freundliches Lächeln waren dieselben geblieben. Mine bekam gleich wieder Zutrauen zu ihm. Wenn nicht alles so anders gewesen wäre, sie hätte glauben können, er stände wieder vor ihr in der engen dunklen Küche der Eisenacherstraße und sähe sie an und schüttelte den Kopf: ›Aber, Mine, und das sagen Sie erst jetzt?!‹ Er hatte ihr damals doch gut geraten – mit einem Blick großer Liebe streifte sie ihre Kinder – vielleicht, daß er ihr jetzt auch wieder helfen konnte!

Als hätte Herr Müldner ihre Gedanken erraten, so sagte er jetzt: »Mine, meine Frau hat mir viel von Ihnen erzählt. Ja, ja, sie weiß auch, was es heißt: sorgen ums tägliche Brot. Zufällig sucht meine Baugesellschaft zum 1. Juli einen zuverlässigen Portier für ihr eben fertig gewordenes Haus in der verlängerten Winterfeldtstraße, an dem neuangelegten Platz; ich habe an Sie gedacht –«

»An uns –?!« Mine unterbrach ihn, fast klang's wie ein Schrei. Den Oberkörper vorgebeugt, starrte sie ihn an; sie las ihm die Worte von den Lippen.

»Ihr Mann mag sich morgen mal bei uns im Bureau melden. Die Herren sind nicht abgeneigt.« Er mußte lachen, so ungestüm packte ihn Mine am Arm.

»Wir – wir 'ne Portjehstelle?! Jeses, 'ne Portjehstelle! Herr Müldner, o Herr Müldner!« Alle Fassung hatte sie verlassen; sie weinte und lachte, zitternd vor Erregung, »'ne Portjehstelle! Ne, daß es uns nochmal so gutt gehen könnte, hätt ich nie nich mehr geglaubt!«

Der Schatten vergangner Sorgen glitt wieder über ihr strahlendes Gesicht; all die schwarzen Nächte zogen noch einmal an ihrem Geist vorüber. »Un 's is ooch wirklich wahr, 'ne Portjehstelle?« fragte sie fast angstvoll.

Er nickte.

»O Jeses, Jeses, so 'n Glücke! Fridchen, hörste?! 'ne Portjehstelle!« Sie war ganz außer sich.

Herr Müldner war ernst geworden. Er räusperte sich und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Na, Mine, na, na, beruhigen Sie sich!«

»So 'n Glücke, Herr Müldner!« schluchzte sie.

»Ja, ja, ich glaub's schon, daß es Ihnen jetzt gelegen kommt! Aber vergessen Sie nicht, liebe Frau, eine Sicherheit kann ich Ihnen auch nicht geben, ich –«

»Meinen Se, de Herrn wer'n nich wollen?« Ganz verstört riß sie die Augen auf.

»Nein, nein, das meine ich ja nicht. Aber, liebe Frau, ich meine – vergessen Sie nicht, es ist ja eben nur ein Glücks zufall, der Ihnen diese Sache in den Schoß wirft; eine Sicherheit für Ihre Zukunft, eine Versorgung fürs Leben ist das doch nicht! Eine Garantie kann ich nicht übernehmen; auch keine Gewähr, daß Sie – daß Sie nun auch für immer – hm –« er suchte nach Worten.

»Kriegen wer die Stelle?« fragte sie hastig.

»Das ist fürs erste wohl sicher.«

»O, denn is alles gutt! Wer kriegen die Stelle – wer kriegen de Stelle!« Eine Freudenröte lohte auf ihrem Gesicht, in überströmendem Glücksgefühl faßte sie seine beiden Hände. »Denn is uns ja geholfen! Denn sind wer so glücklich!«

Ein fast wehmütiges Lächeln stahl sich um Herrn Müldners Lippen. »Wollen's hoffen, liebe Frau,« sagte er. »Aber nun muß sich Ihr Mann auch dazu halten. Bedenken Sie: erst ein Vierteljahr Probezeit! Und ob's dann was Dauerndes ist – ja?!« Er zuckte die Achseln. »Aber ich vertraue auf Sie, Sie sind ja ein braves, tüchtiges Weib!«

»Ach, er wird jetz ooch schon,« versicherte sie treuherzig, »da lassen Se mir nur for sorgen!« Und dann faltete sie, in hellem Jubel lachend, die Hände: »Gott, Gott sei Dank! 'ne Portjehstelle! Ne, so'n Glücke!«

Herr Müldner hatte sie nachdenklich betrachtet; das sah er wohl, ganz verstanden hatte sie ihn nicht. Sie dachte nur an das ›Heute‹. Aber war das nicht am Ende ihr größtes Glück?!


Und so war denn der erste Juli endlich da, an dem sie in das neue Haus zogen, in die geräumige Hofwohnung – zwei Zimmer und eine Küche –, in die die Sonne hinein schien und die noch niemand vor ihnen verschmutzt hatte. Der Hof war ein Garten; den Springbrunnen in der Mitte umgaben große Rasenflächen, auf denen noch Blumenrabatten angelegt werden sollten und schon immergrüne Sträucher gepflanzt waren. Da konnte Vater Reschke gärtnern; hatte er doch in der letzten Zeit oft erzählt, wie er als Junge, an seiner Eltern Zaun, Sonnenblumen gezogen und bunte Wicken, so herrlich, daß das ganze Dorf gestaunt hatte. Und das viele Grün würde seinen Augen gut tun. Alles war hell und freundlich, selbst vorn die Portierloge am Eingang. Das hatte sich schon Mutter Reschke ausbedungen, da wollte sie viel sitzen und die Tür aufdrücken; hinten im Hof kriegte man ja nichts von der Welt zu sehen und zu hören, da konnte man sich lieber gleich begraben lassen, aber eine häufige An- und Aussprache schaffte neue Lebenslust.

Und außer der schönen Wohnung gab's noch vierzig Mark monatliche Vergütung für Bureau- und Haus- und Straßenreinigung und Fahrstuhlbedienung. Mine spann kühne Träume; sie träumte von allerlei Nebenverdiensten, die man sich noch durch Teppichklopfen und Botengänge und kleine Gefälligkeiten bei den Mietern erwerben konnte; zu Oktober wurde ja das ganze, große Haus besetzt. Und dann kam Neujahr mit seinen Trinkgeldern! Schon jetzt freute sie sich darauf, daß ihr Herz klopfte.

Aber während so die Jungen leichten Herzens Sack und Pack aufluden, trugen die Alten doch Leid.

Mutter Reschke verging fast vor Kummer. Als längst jedes Stück ausgeräumt war und die kahlen, finstren Kellerwände in ihrer Nacktheit doppelt traurig grinsten, irrte sie noch immer an ihnen entlang.

Hier hatte die große Rolle gestanden, und dort immer der Korb mit ›Bärblang‹! In diesem Winkel hatte sich einmal eine Maus im Petroleum ersäuft, und da hatte sie eine andre, 'ne ganz riesig große, mit der Pantine totgeschlagen!

Hier im Zimmer, am großen Sofatisch, hatten sie so manches Mal fidel gefeiert! Ja, das war die Stelle, da hatte damals Ladewig gesessen! Wenn Mutter Reschke daran dachte, wie viel er getrunken und wie gut es ihm geschmeckt, zog sich ihr Herz schmerzlich zusammen. Sie jammerte laut.

»Amalchen – Maleken,« murmelte Reschke, der immer hinter ihr drein tappte, »tröste der doch!«

»Ne, ik wer' mer so leicht nich anderswo finden, hier war ik nu so jewöhnt! Ach Jotte doch, all meine scheensten Erinnerungen! Weeßte noch, Vater? Siehste, hier is de Ritze, wo mich mal zehn Mark rinjekullert sind – ob se noch drinne liegen?! Un da nebenan hatt ik de Jans zu sitzen! Weeßte noch? Zwanzig Pfund, eenfach jroßartig! So fett is mich nie keene nich mehr jeworden!«

»Un hier is Jrete jestorben,« sagte der Alte leise. Und dann, als sie aus der Küche zurück ins Zimmer wankten, flüsterte er noch leiser: »Un hier stand Trudeken an 'n letzten Morjen!«

»Ach ja!«

Sie verweilten stumm, beide wie festgewurzelt; scheinbar einzig übrig geblieben von all dem, was einst hier gewesen.

Um sie her nur die rissigen Wände und der Staub und die Spinneweben in den Ecken.


»Wo bleibt ihr?« tönte jetzt Mines lauter Ruf vom Eingang her.

»Man fix,« schrie Arthur. »Kommt man raus aus'n ollen Kellerloch! Hurra, jetzt jeht de Reise los!«

Und Fridchen kam herunter gelaufen. »Kommt,« sagte sie aufgeregt, »Mutta ruft,« und winkte eifrig mit den kleinen Händen.

Der Alte faßte die Hand seiner Frau. »Komm man, Mutter!«

Dicht nebeneinander, betraten sie die enge Kellertreppe; die verborgene Klingel ächzte nicht einmal mehr unter ihrem schweren Tritt, die war ganz stumm geworden – tot. Sie stiegen langsam hinauf, Stufe um Stufe. So nah aneinander geschmiegt, waren sie damals über diese Treppe gegangen, damals an ihrem Hochzeitsabend, vor langen, langen Jahren; so Seite an Seite, so Hand in Hand. Und niemals mehr so – bis heute.

Oben die Straße war hell; blinzelnd rissen sie die Augen auf. Sahen sie es denn heute zum ersten Mal?! Drüben links, an der Kirchbachstraßenecke, war das Materialwarengeschäft von Handke verschwunden, eine Schnitt- und Wollwarenhandlung breitete statt dessen ihre Herrlichkeiten aus. Und, drüben rechts, wo sonst Flaschen und Fläschchen gewinkt, baumelten jetzt Kalbskeulen und Schinken und Würste im Schlächterladenfenster.

Alles anders geworden.

Sie seufzten und sahen sich noch einmal um und folgten dann der ratternden Fuhre.

Sie zogen alle davon.

Nur Elli, das Bauer mit dem ruppigen Lorchen auf dem Arm, blieb noch ein wenig zurück. Wo steckten denn nur ihre Verehrer? Verlangte es die gar nicht, ihr Adieu zu sagen?! Spähende Blicke nach rechts und links, über Straße und Trottoir, versendend, tänzelte sie vor der gähnenden Leere des Kellereingangs, den Vogel hin und her schlenkernd. Das erschrockne Tier sträubte die Federn und krächzte wütend. Da schlenkerte sie noch toller und sang lachend, laut und schrill:

»Denn dieser Papa-, Papagei,
Verbittert mir die Liebelei –«

Der Ton blieb Elli in der Kehle stecken. Mine war noch einmal zurückgekehrt. »Komm,« sagte sie, faßte das Mädchen am Handgelenk und zog es unwiderstehlich mit sich fort. –

Rüstig wanderte Mine jetzt dem kleinen Zug voran, stramm aufgerichtet, obgleich sie ihre Jüngste trug und noch einen schweren Packen dazu; so wohlgemut schritt sie zu, wie sie daheim einst über die Felder gegangen, mit dem Grasbündel auf dem Rücken und der Sichel in der Hand. Die helle Sonne schien ihr ins Gesicht. Sie schaute hinein, ohne zu blinzeln. Das Licht tat ihr so wohl, das schöne, warme Himmelslicht.

Ihre Seele jauchzte und jubilierte, wie die Lerche, die mit endlosem Tirili vom lenzgrünen Acker aufsteigt ins klare Himmelsblau und sich wiegt und sich badet im goldnen Frühlingsglanz, der Not des Winters entronnen, ohne Ahnung von Reif und Hagelschauern und künftigen Wintern.


Buchdruckerei Roitzsch. Albert Schulze,
Roitzsch.

 


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