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Die ganze Woche über dachte Bertha an ihren Sonntag; schade, daß der nur alle vierzehn Tage war! Das war ein Tropfen für ihren Durst; sie amüsierte sich immer zu famos.
Ganz versunken konnte sie mitunter am Herd stehen und in die Flammen starren; dann ließ sie im Geist noch einmal alle Bilder des Sonntags an sich vorüberziehen: das Gewühl der Menschen, die bunten Kleider, die lachenden Gesichter. Sie hörte die Tanzmusik und das Scharren der Füße, die Schmeichelreden alle, die man ihr zugeraunt.
Sie war sehr beliebt, man riß sich um sie. Leicht wie eine Feder, flog sie im Tanz dahin, ihre hübsche Gestalt wirbelte von einem Arm in den andren, wie ein Blumenblatt, das der Wind treibt. Im tollsten Jagen behielt sie immer ihre gleiche kühle Frische: kaum, daß sich die zarte Röte auf ihrem blonden Gesicht um eine Schattierung vertiefte. Kein feuchter, verwirrter Schimmer kam in das klare Blau ihrer Augen, wenn sie einer verstohlen auf den Fuß trat oder ihr ein heißes Wort ins Ohr flüsterte; sie sah ihn groß an, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie lachte nur hell, eigentümlich glashell; das machte die Männer ganz toll.
An einem ehrlichen Bewerber fehlte es ihr auch nicht: der Bursche Peters hatte seinen Dickkopf rettungslos in sie verschossen. War er auch keines Marschbauern Sohn – sein Vater war Halbhufner auf der Geest – so hatte er doch ein kleines Häuschen zu erwarten, zwei Kühe und ein Dutzend Schafe. Und hartnäckig schilderte er ihr sein Wandrup auf der baumlosen Heide als das Schönste auf der Welt. Abends kam er von seinem Burschengelaß, das fünf Treppen hoch, oben auf dem Boden neben der Waschküche, lag, zu ihr in die Küche heruntergeschlichen; dann saß er auf der Eimerbank und schnitzelte verlegen an einem Stückchen Holz, während sie am Herd lehnte, die Arme über die Brust gekreuzt, die Füße in den zierlichen Lederpantöffelchen weit vorgestreckt.
Um ihren Mund zuckte ein Lächeln – das sollte ihr fehlen, einen heiraten, der nichts hatte! Das sah man ja hier bei Hauptmanns, was nutzte es denen, daß sie sich gern hatten? 'ne pauvre Wirtschaft! Immer das Billigste, und die alten Hosen vom Herrn wurden für Kurtchen zurechtgemacht. Die gnädige Frau drehte jeden Groschen um, dabei wurde sie so nervös, ganz unausstehlich und kam in die Küche gelaufen und sagte: ›Das ist ja, als ob sie einen Ochsen braten wollten,‹ wenn noch ein paar Kohlen im Herd glimmten. Auch wollte sie 's durchaus nicht leiden, daß Peters abends in der Küche saß, da wurde zu viel Petroleum verbrannt. Wenn Peters nicht da war, blieb die Küche dunkel, und Bertha stand unten in der dämmrigen Haustürnische oder schwatzte im Reschkeschen Keller. Dagegen hatte die Frau Hauptmann nichts; mochte es Mitternacht werden, wenn nur das Mädchen morgen in aller Frühe wieder heraus war. –
Nun war es Winter, wenigstens dem Kalender nach, dem Wetter merkte man es nicht an. Kein Frost; Regen alle Tage. Der Reschkesche Keller glich einer dampfigen Höhle, in der man Gestalten auf und nieder tauchen sah, wie höllische Wesen in einem brodelnden Hexenkessel.
Frau Reschke hatte abends nicht Sitzgelegenheiten genug für alle Besucher; auch Herren fanden sich ein, Bräutigams aus der Nachbarschaft, die ihre Bräute wenigstens einen trocknen Augenblick genießen wollten. Wenn Mutter Reschke besonders guter Laune war, öffnete sie wohl einem wartenden Bräutigam ihr Privatzimmer und rief dem eiligst herbeistürzenden Mädchen wohlwollend zu: »Machen Se man, er is schon drinne! Da sind se janz unjestört!«
Nur Elli saß in der guten Stube. Aber die war ja noch ein Kind!
Mine und Bertha trafen sich morgens oft im Keller, Frau Reschke hatte ihrer Nichte die Empfindlichkeit gegen Bertha ausgeredet. »Sei nich so tück'sch, Mine, eene Hand wäscht de andre. Un is se denn nich en nettes Mächen?«
Das fand Mine auch, und eine besondere Anhänglichkeit zog sie immer wieder zu jener hin; Bertha war ihr ein Stück der Heimat, die ihr im Gewühl der Stadt, im Getriebe der Tage mehr und mehr zu entschwinden drohte. Die von daheim schrieben so selten. Neulich hatte der Vater Malen einen Brief diktiert, da stand aber weiter nichts darin, als: ›Wir sind alle gesund‹, und dann kam eine lange Litanei von Geschenken, die sie sich bei ihr zu Weihnachten bestellten. Kein Wort von dem, was Mine gern hören wollte; sie ärgerte sich, als sie langsam den Brief sinken ließ, den sie voller Freude hastig aufgerissen.
Sie beklagte sich bei Bertha. Diese lachte: »Sei nich so geizig!«
»Ne, ne, das is es nich bloß! Aber daß se so gar nich nach mer fragen!«
»Ä was! Schick ihnen was, un denn is 's gutt. Ich hab Mutter ooch schon was geschickt; die is nu wie 'n Ohrwürmchen.«
Bertha hatte recht, sie stand mit ihrer Mutter jetzt auf sehr gutem Fuß, auf besserem, als es je zu Hause der Fall gewesen. Frau Fidler ging im ganzen Dorfe herum und zeigte das Tuch, das ihr die Tochter aus Berlin geschickt hatte; sie machte sich recht groß damit.
Bertha hatte das Tuch, ein seidenes buntgestreiftes, bei Rosalie Grummach billig erstanden. Sie kaufte mit Vorliebe in dem düsteren Trödellädchen; da gab's viel abgelegte Damengarderobe. Mit funkelnden Augen durchstöberte sie den ganzen Kram; Mutter und Tochter Grummach, zwei lichtscheue, großnasige Geschöpfe mit einem unendlichen Wust verfilzter krauser Haare, schleppten bereitwillig und anpreisend herbei. Bertha war eine gute Kundin; wenn ihr Sinn nun mal nach etwas stand, dann mußte sie's auch haben. Sie ließ was drauf gehn. Kein Wunder, daß die beiden Grummachs, die wie Eulen aus dem Versteck der alten Kleider hervorlugten, auf sie losschossen, sowie sie vorüber ging. Mit einem fröhlichen Gelächter probierte sie dieses und jenes an und drehte sich vor dem Spiegel, den ihr die Tochter diensteifrig vorhielt, während die Mutter sich in Schmeichelreden und Beteuerungen enormer Billigkeit erschöpfte. Der ganze Lohn ging drauf; oft schon etwas vom nächsten im voraus.
Bertha borgte sich öfter eine Kleinigkeit von Mine; die gab zwar mit einem gewissen Zögern, aber abzuschlagen wagte sie's der Freundin doch nicht. Sie konnte sich nur nicht enthalten zu knurren: »Du hast doch siebzig Taler, fünfundzwanzig mehr wie ich – ich weiß nich, wo de 's läßt!«
»Ich ooch nich!« Und Bertha lachte. Das Geld zerrann ihr unter den Fingern wie gar nichts. Daß sie sich ab und zu mal ein Törtchen kaufte, einen Berliner Pfannkuchen oder einen Windbeutel mit Schlagsahne, dafür konnte sie nicht, das mußte sie; das Essen bei Hauptmanns war nicht reichlich. Beim Kaufmann drüben gab's jetzt statt Seife eine Tafel Schokolade zu, die war jedesmal in einer Minute aufgeknabbert, und doch knurrte ihr der Magen. Siebzig Taler – damit war eben nicht auszukommen! Sie mußte mehr haben.
Frau Reschke riet ihr, nur noch das Weihnachtsgeschenk abzuwarten und dann am ersten Januar zu kündigen. »Passen Se man uf, zehn Dienste für eenen!«
Als der Termin näher rückte, war es Bertha doch nicht ganz wohl zu Mut. Sie versäumte jetzt nicht, sich jedesmal ganz außer Atem zu stellen, wenn sie die vier Treppen herauf kam; mochte die Gnädige denken, das viele Treppensteigen sei ihr zu schwer.
Nun war der Weihnachtskarpfen im Haus. Das war eine Seltenheit, denn sonst gab es nur billigen Seefisch. Zitternd vor Aufregung, umstanden die Kinder den Küchentisch: ein Fisch, ein lebendiger Fisch! Da lag er, ein mächtiges Tier, dessen Schuppen goldig glänzten und das kräftig mit dem Schwanze schlug.
»Hat er Moos auf dem Kopf?« fragte Kurt.
»Da hat er Moos,« sagte Bertha lachend und hieb dem Fisch mit der hölzernen Rührkeule eins auf den Kopf.
»Verstehn Sie denn auch damit umzugehn,« fragte die Hauptmännin, einen Augenblick in die Küche guckend.
»Natürlich, gnäd'ge Frau!« Bertha hatte keine Ahnung, aber so etwas gesteht man doch nicht ein. Sie machte sich daran, den Fisch zu schuppen; ›lebendig schuppen‹ hatte sie mal gehört, ›dann geht's besser.‹«
Der Karpfen lag ganz still, wie betäubt; das Messer blitzte, die Schuppen flogen – aber jetzt krümmte er sich zusammen wie im Krampf – jetzt schnellte er jäh in die Höhe. Hoch im Bogen sprang er vom Küchenbrett auf die Diele und glitt zappelnd dort umher.
Die Kinder schrien laut auf vor Schreck. Bertha packte ihn und warf ihn wieder aufs Brett; auch ihr war ängstlich zu Mut, aber sie unterdrückte das. Mit einem Lachen machte sie sich Mut. Nun rasch! Was? Einem noch die Schürze schmutzig machen?!
Unruhig schlug der Fisch. Sie hieß den Knaben mit einem Tuch den glatten Schwanz festhalten. Sie wetzte das Messer scharf. Schuppe nach Schuppe. Die großen seelenlosen Augen des Geschöpfes starrten, sein Maul tat sich auf – stumm, stumm! Blut floß, hell sickerte es unter den Schuppen vor. Den kleinen Kurt grauste es, er ließ den Schwanz fahren – da – ein Schrei der Kinder, ein Schrei Berthas – mitten ins Gesicht war der Fisch ihr geschnellt. Sie ließ das Messer fallen, ihr Lachen erstarb – au, das tat weh!
»Biest!« Er glitschte ihr unter den Händen durch; nun rutschte er wieder auf der Diele, sie rutschte kreischend hinterher – hierhin, dorthin – da, dort – gradaus, seitwärts – jetzt hatte sie ihn – jetzt war er unter dem Stuhl, unter dem Tisch. Die Kinder drängten sich auf einen Haufen, das kleinste fing an zu weinen.
»Willste wohl?!« Die Schürze wurde ihr total schmutzig, jetzt achtete sie nicht mehr darauf. Ihre Hände griffen unruhig umher, eine Aufregung bemächtigte sich ihrer, eine sonderbare Gereiztheit, ein Zorn gegen das Vieh, das ihr so viel Wirtschaft machte. Eine Blutwelle stieg ihr heiß zu Kopf, ihre Lippen zuckten.
»Hab ich dich!!« Jetzt hatte sie ihn. Fest wie mit Eisenklammern packte sie ihn. Weit sperrte er das Maul auf – da – sah er nicht grimmig aus, schnappte er nicht nach ihrem Finger?
»Was, noch beißen?!« Ihre Zähne knirschten, ein Funkeln glomm in ihren Augen auf. »Dir wer' ich lehren!« Sie drückte den Zappelnden nieder, sie kniete auf ihm: »Biest, Biest!« Zornig schrie sie, ihr Mund verzerrte sich.
Mit Gezeter stoben die Kinder aus der Küche. Als die Hauptmännin auf das Geschrei herbeieilte, fand sie Bertha mit hochrotem Kopf über den Fisch gebeugt, einen seltsamen Zug in dem noch lachenden Gesicht.
Das blutige Messer lag auf der Diele, mit beiden Händen riß sie dem in letzten Zuckungen sich bewegenden Tier das Eingeweide heraus. »Er wehrt sich noch – ha!«
»Diese Personen sind alle unglaublich roh,« sagte Frau von Saldern ganz entsetzt zu ihrem Mann.
Und doch, wer konnte sagen, daß Bertha roh war? Sie ließ sich gern rühren. Jede Woche kaufte sie für zwanzig Pfennige ein Heft vom Kolporteur, der die Hintertreppe herauf geschlichen kam; mitunter auch zwei Hefte. Sie konnte gar nicht genug lesen von der betrogenen Unschuld armer Mädchen, von den reichen Verführern, von den geheimnisvollen Schandtaten der großen Stadt.
Nachts lag sie in ihrer kalten Kammer, – die verklammten Hände hielten das Heft kaum, – und las. Die Kerze, die sie dem Kronleuchter im Salon entnommen, flackerte in dem feinen Zugwind, der durch die Ritzen des schlechtverwahrten Fensterchens drang, und warf lange seltsame Schatten auf die weißgetünchte Wand. Sie las und las. Ein feuchter Moderhauch strich durch die nie geheizte Kammer, fröstelnd zog sie das Tuch, das sie über ihre Nachtjacke geknüpft, fester um sich. Mitternacht; es wurde eins, auch noch später. Endlich löschte sie das Licht, schüttelte sich in wollüstigem Grausen und zog die Decke bis zum Kinn. Liebes- und Mordgeschichten nahm sie mit hinüber in ihren Traum. –
Am ersten Januar kündigte Bertha. Sie tat es sehr bescheiden, mit einem gewissen Bedauern in Ton und Haltung; es sei ihr sehr unangenehm, aber sie fühle es deutlich, die vier Treppen griffen ihr die Brust an.
Die Hauptmännin war wie vom Donner gerührt, sprachlos sah sie in das frische, rosige Mädchengesicht, dessen Augen, blank vor Gesundheit, in die Welt strahlten.
»Un denn, gnäd'ge Frau –« Bertha hielt es für gut, offen zu sein, vielleicht ließ sich die Madam schrauben. Wenn sich grade jetzt kein besonders glänzender Dienst fand, würde sie am Ende mit Zulage noch bleiben und auf Besseres warten. »Ich brauche zu viel Schuh auf den Treppen. Was ich verreiße – ne, ich kann's nich aufbringen! Mit siebzig Taler – unmöglich!«
»Es ist das Äußerste, wir können nicht mehr geben,« sagte die junge Frau tonlos. Sie schien traurig; lange stand sie am Fenster der Wohnstube, die Hände um den Fenstergriff gelegt, und starrte umflorten Auges hinab auf die winterlich graue, regenfeuchte Straße und hinauf zum nebelverhangnen düstren Himmel. Ließ sie denn nicht fünf gerade sein, kontrollierte kein Mädchen, drückte nicht nur eins, nein beide Augen zu! Und behielt doch keinen Dienstboten! Das Geld, das Geld! Ja, wer achtzig, neunzig, hundert Taler geben konnte, der hatte tüchtige und anhängliche Leute!
Sie sah so bekümmert aus, daß Bertha, als sie herein kam, um den Tisch zu decken, in einer ihrer plötzlichen Anwandlungen von Herz, sagte: »Gnäd'ge Frau, ich wüßte wohl 'n Mädchen für gnäd'ge Frau!«
»So?« Etwas belebt drehte sich Frau von Saldern um.
»Meine Freundin will sich gern verändern.« Bertha hatte erst gestern von Mine drei Mark geborgt und überlegte nun rasch, wie wenig diese nach den drei Mark fragen würde, wenn sie ihr fort aus der Destille half. Und verpflichtete sie sich nicht zugleich die Frau Hauptmann, wenn sie der ein neues Mädchen verschaffte? Die würde es ihr beim Zeugnisschreiben gedenken. So lobte sie denn die Freundin aus allen Tonarten: Ehrlich, fleißig, bescheiden, gewandt und so weiter.
»Wo dient sie denn jetzt?«
»In 'nem Restorang!« Und dann nach kleiner Pause: »Drüben, Kirchbachstraße, an der Ecke.«
»Was, in der Destillation –?!« Frau von Salderns Gesicht wurde lang. »Mein Gott, ich kann doch nicht ein Mädchen aus solchen Umgebungen nehmen!«
»Seien Sie ganz beruhigt, gnäd'ge Frau,« versicherte Bertha, »ein hochanständiges Mädchen, sie is mit mir aus einem Ort. Sie hat eben Pech gehabt. Sie paßt ganz für gnäd'ge Frau, groß, stark – gnäd'ge Frau haben sie ja mal gesehn, unten im Keller bei Reschkes!«
»Ja, ja, ich erinnre mich. Aber so wenig präsentabel!« Die junge Frau seufzte. »Wenn die die Tür aufmacht, das sieht ja nach gar nichts aus!«
›Nach was aussehen soll sie auch noch?!‹ schwebte es Bertha auf der Zunge; aber sie unterdrückte die Bemerkung und sah mit einem kleinen wohlgefälligen Lächeln an der eignen Gestalt herunter. »Ach, wenn die erst im hochherrschaftlichen Hause is – gnäd'ge Frau werden sehen – denn macht die sich gleich raus!«
So entschloß sich Frau von Saldern, Mine zu mieten. Man kam auf fünfundfünfzig Taler überein, was ihr für dies wenig präsentable Dienstmädchen reichlich genug schien.
Mine war glückselig; in der Freude ihres Herzens umarmte sie Bertha immer wieder. Das würde sie der nie vergessen! Es beeinträchtigte ihre Seligkeit keinen Augenblick, daß der Destillateur ihr ins Zeugnis schrieb: ›Träge, langsam, spricht immer gegen, sonst ehrlich.‹ –
Bertha steckte jetzt mehr denn je im Reschkeschen Keller. Dienste hatten sich ihr genug geboten, aber die Reschke hatte ihr energisch davon abgeredet; die waren in entfernten Straßen, und Mädchen, die viel bei ihr kauften, gab Frau Reschke nicht gern weit weg. Endlich, kurz vor dem Ersten, fand sich etwas. Frau Reschke las es in der Vossischen, die sie sich für fünf Pfennige die Stunde drüben vom Kaufmann holen ließ.
›Für herrschaftlichen Haushalt, Potsdamerstraße 72 wird zu sofort gewandtes Hausmädchen gesucht,
gegen hohen Lohn.‹
Das ›gegen hohen Lohn‹ war fettgedruckt. Sofort schickte die Reschke Elli zu Bertha hinauf. Diese ließ alles im Stich, die Küche halb aufgeräumt, das Geschirr vom Mittag unabgewaschen, die Kinder allein – Hauptmanns waren ausgegangen – stürzte in ihre Kammer und wählte da lange. Wie sollte sie sich kleiden? Wenn sie nur gewußt hätte, wie's die Leute, Potsdamerstraße 72, liebten! Endlich entschloß sie sich für ein einfaches Waschkleid. Es fror sie zwar, als sie in dem dünnen Fähnchen über die Straße lief, aber das Bewußtsein, wie doppelt rosig ihr Gesicht über dem Weißblau der Taille leuchtete, wie appetitlich sich ihre Person in dieser Bescheidenheit präsentierte, half ihr darüber weg.
Ganz geblendet kam sie von ihrem Ausgang zurück, den Mietstaler in der Tasche. Man hatte sie in einen Salon eingelassen, in dem die gnädige Frau in seidnem, spitzenbesetztem Negligé auf dem Ruhebett lag und in einem Buch las.
Prachtvolle Gardinen verhüllten die Fenster, der Fuß versank in einem dicken Teppich; Bilder in breiten Goldrahmen hingen an den Wänden, aus dem Kronleuchter sprossen gläserne Blumen hervor. Überall kostbare Nippes und Ständer und Möbel in Überfülle. Bertha atmete tief auf: so war es bei Hauptmanns nicht! Da stand alles so vereinzelt; im Salon Sofa, Tisch, Sessel, Pianino und ein rundes Marmortischchen mit Lampe – das war alles. Der Teppich reichte nicht einmal durch die ganze Stube. Hier wagte sie vor Bewunderung kaum die Füße zu setzen; aber ihr Bild, das ihr aus dem geschliffnen Spiegelglas überm Kamin entgegen lächelte, machte ihr Mut.
Frau Selinger war die Witwe eines reichen Mannes und schwärmte für Kunst. Und durch die Kunst für die Schönheit. Sie engagierte nie häßliche Dienstboten. Berthas anmutige Erscheinung nahm sie sofort ein; diese hübsche Person mußte sich immer in rosa kleiden, mit weißem Häubchen und gestickter Tändelschürze. Nach wenig Fragen war Bertha engagiert, kaum hatte sie noch nötig, das treffliche Zeugnis vorzulegen, das ihr der Hauptmann auf Wunsch seiner Frau schon ausgestellt. Nach der Zusicherung von achtzig Talern und fünf Talern Zulage nach dem ersten Vierteljahr empfahl sie sich.
Auf dem teppichbelegten Korridor mit den vielen Türen, die ihre neugierigen Blicke zu durchbohren suchten, begegnete ihr ein junger, eleganter Mann, mit schwarzen Haaren und Augen und bläulichen Schatten auf den glattrasierten Wangen und dem vollen Kinn. Er musterte sie im Vorbeistreifen.
»Der junge Herr,« flüsterte das Mädchen, das sie herausließ, mit vielsagender Miene.
Bertha stürzte sofort in den Reschkeschen Keller, ihr Glück zu verkünden. Dort hatte der Abendsturm noch nicht begonnen; so fand Frau Reschke Zeit zu angemessenen Ratschlägen für die neue Stellung.
Sie saßen zu zweien auf der umgestülpten Tonne, Rücken gegen Rücken gelehnt.
Die Junge blickte nach der Treppe, über die wenigstens ein schwacher Strom Luft sich von oben herunter stahl, und lauschte lächelnd.
Die Alte guckte zurück in ihr Kellerloch, das finster gähnte, und schwatzte unaufhörlich mit heisrer, eindringlicher Stimme.
Die Petroleumhängelampe, die qualmig und verstaubt unterm niedren Gewölbe schaukelte, warf trübgelbe, schmutzige Schatten auf beide Gesichter.