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VIII

Die Familie Reschke war gegen drei Uhr ausgerückt. Um zwei schon hatte man angefangen, sich zu der Partie nach Halensee zu rüsten; Trude mußte Elli mit dem Brenneisen die Haare wellen, Mutter Reschke packte eine lederne Handtasche voll mit fettigem Streuselkuchen und belegten Butterstullen. Es war ein hübscher Anblick, als die beiden zierlich gekleideten Mädchen, Trude Ellichen an der Hand haltend, vor den Eltern herschritten. Herr Reschke sah sehr würdig aus, mit Zylinder und goldener Talmi-Uhrkette; ehrbar führte er seine Frau am Arm, die in einem veilchenblauen Kleide und spitzenbesetztem Cape stattlich genug einherrauschte. Vielleicht, daß sich draußen für Trude etwas anfand!

Arthur hatte nicht mitgehen wollen, er grollte mit seinen Eltern. Als er allein war, machte er sich's bequem, indem er den Rock auszog und die Stiefel abschlenkerte, legte sich aufs Sofa in die gute Stube, ließ die Beine über die Seitenlehne hängen und rauchte eine Zigarre nach der andren. In der Stille des Sonntags und der Dämmrung des Kellers kam ihm der Schlaf; da erhob er sich taumelnd und schlich sich in seine Kammer aufs Bett, da lag er noch bequemer.

Schon in der ganzen letzten Zeit war Arthur maulfaul gewesen, verdrossen war er am Morgen mit seinen Büchern unterm Arm in die Schule geschlichen, verdrossen kam er heim, mürrisch stocherte er im Essen.

»Was is denn los, Athur?« hatte die besorgte Mutter gefragt. »Daß de stille bist,« schrie sie die stumme Grete an, »störe Athurn nich immer! Der hat seine Jedanken in'n Koppe, der will Dokter werden!«

Daß sie nun grade darauf versessen waren! Arthur hatte nicht die geringste Lust zum Studieren. Nicht einmal zu den Schularbeiten! Statt die zu machen, lag er in seiner Kammer auf dem Bett und druselte, oder er saß da, die Beine weit von sich gestreckt, die Füße gegen einen Haufen Bücher gestemmt, und gaffte und paffte.

Michaeli war er nicht versetzt worden, nun saß er nach den Ferien wieder mit Jungen in der Tertia zusammen, die über einen Kopf kleiner waren als er. Und diese Knirpse machten sich über ihn lustig! Er verlor ganz die Fassung. Wenn er aufgerufen wurde, wußte er gar nichts mehr. Der Lehrer zuckte die Achseln; er sagte nichts, aber er nahm den jungen Menschen, dem schon der Schnurrbart sproßte, beiseite und gab ihm zu überlegen, ob es nicht besser für ihn wäre, etwas andres zu ergreifen, als noch neben Kindern die Schulbank zu drücken.

Arthur wagte nicht, zu Hause etwas davon zu sagen; ihm fehlte der Mut. Er war schlapp geworden vom langen Hocken auf der Schulbank. So klemmte er nach wie vor seine langen Gliedmaßen hinter das niedrige Pult und träumte während der Lehrstunden mit offnen Augen. Bis in die Schule hinein verfolgte ihn der Duft des Kellers. Er roch den welkenden Kohl, das faulende Obst, er sah die lachenden Gesichter der Mägde, er hörte ihr Schwatzen, ihre Klatschgeschichten; das Rascheln ihrer Röcke empfand er wie eine körperliche Berührung. Die Mutter hatte es gern, wenn der junge Mann sich im Laden herumdrehte, sie trieb ihn ordentlich dazu. Nun kam er nicht mehr los davon.

Der Keller – der Keller! In dem wurzelte er. Seine an Kellerdunkel gewöhnten Augen blinzelten im hellen Licht der Schulstube. Was sollten ihm Lateinisch und Griechisch?! – – – ›Für fünf Pfennige Suppengrün!‹ – – – ›Zehn Pfund Kartoffeln!‹ – – – ›Wohin gehen wir Sonntag? Tanzen?!‹ – – – ›Na, was macht der Schatz?‹ – – – Das war die Sprache, die er verstand. Die Mägde kokettierten mit ihm, und die Mutter blinzelte ihm aufmunternd zu – was sollten ihm Bücher?!

Vor ein paar Tagen nun hatte der Direktor an Vater Reschke geschrieben und ihn ersucht, seinen Sohn vom Gymnasium zu nehmen, da dieser einesteils ein Anstoß für die Klasse sei, andrenteils aber durch die verlorne Zeit an seiner Zukunft geschädigt werde.

Frau Reschke war außer sich, ihr Hochmut tief verletzt. Sie stürzte in die Kammer des Sohnes, wo dieser teilnahmlos in ein Buch stierte, ergriff das und schlug es ihm auf den Kopf. Die Blätter des zerlederten Bandes flatterten in alle Ecken.

»Du Faulpelz! Du Schlemihl! Du – du –« eine Flut von Schimpfworten entströmte ihrem Mund. »Haben wer dafor det ville Jeld ausjejeben, uns jeschunden, daß de dir uf de faule Seite legst? Haste denn keen Prietzelchen Ehre in 'n Leibe?! Schämen sollste dir in deinen Hals rein. Sollste nich deinen Eltern, die allens for dir jeopfert haben, 'ne Stütze sein in 'n Alter? Ne, mit de Müllfuhre wirste losjondeln, weiter nischt! Aber ne, Männeken, det jibt's nich – det bin ik den Dokter schuldig – du jehst standepe nach Schule un lernst wat Ordentlichet!«

Er lachte ihr bitter ins Gesicht. »Was Ordentliches?! Ich bin viel zu alt. Frag den Direkter! Se lachen mich aus.«

»Quatsch! Vater wird den Direkter mal den Standpunkt klar machen. Du jehst!«

»Ich geh nich.«

»Nanu?« Frau Reschke sah ihren Sohn an, als spräche er irre.

Sie tippte ihm auf die Stirn. »Brustkrank – wat? Ik sage, du jehst!«

»Und ich will nich mehr,« schrie er mit dem plötzlichen Mut der Verzweiflung, »mach, was du willst! Ich – laufe fort!«

»Haha, versuch 't man! Ik sage dir, du kommst schnelle wieder bei Muttern. Soll dich schlecht schmecken, Steine bei 'n Bau tragen oder Schnee schüppen! Was willste denn? Du kannst ja nischt!«

Der Junge stöhnte auf und verbarg das Gesicht in den Händen.

»Ne, ne,« fuhr sie etwas sanfter fort, bückte sich und hob mit spitzen Fingern die umhergestreuten Blätter des Buches auf. »Det is ja allens Quatsch. Se sind in Schule unjerecht jejen dir; aber laß der nur nich einschüchtern! Ik wer' ihnen schon zeigen, was 'ne Harke is – du wirst doch Dokter. Un damit punktum.«

»Ich werd es nich – ich werd es nie – ich kann's gar nich werden!«

»Un warum denn nich, wenn ik fragen därf? Det wär 'ne neie Mode!« Sie schlug entrüstet mit der Faust auf den Tisch. »Wenn Mutter sagt, du wirst det, denn wirste det ebent!«

»Ich kann nich.«

»Warum kannste nich – na?«

Er hob den Kopf aus den Händen und sah seine Mutter an, mit verschwollnen, blutunterlaufnen Augen. Sein Gesicht war aschfahl, seine Lippen zuckten. Er brachte kein Wort heraus. Aber es war ein langer, stumm beredter Blick.

»Na, wird's bald? Warum kannste nich?!«

Wild fuhren seine Augen im Kellerraum umher – vom Laden herüber tönte Lachen und Gekreisch der Mägde, Vater Reschke trieb seine handgreiflichen Geschäftsscherze mit ihnen; nebenan quiekte Elli eins ihrer Bravourstücke und trommelte den Takt dazu mit den Absätzen.

»Hörste's?« stieß er heraus. »Ich kann nich – der Keller – der Keller – hörste's?!«

»Na ja, wat denn?« Sie sah ihn verständnislos an.

»Der Keller – siehst's denn nich ein, ich bin aus'n Keller! Ich paß nich fürs Studium. Laß mich was werden, was zu mir paßt!«

Sie schrie laut auf. »Wat, der Keller is wohl nich anständig?! Hier is der't nich fein jenung? Na, warte! Reschke! Reschke!«

Schon kam er gelaufen.

»Reschke!« Sie stand und schnappte nach Luft und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf ihren Sohn. »Et is ihm nich fein jenung, – der Keller – er – er schämt sich wejen seine Eltern!«

»Nanu wird's Tag! Schämen – du dich unsetwejen schämen?! Du verdammter Bengel!«

»Ich schäm mich eurer ja gar nich,« schrie der Sohn. Er war aufgesprungen und stierte, den Kopf vorgeneigt, seine Eltern an. »Ich sag ja nur, ich paß nich zum Studieren, seht das doch ein!«

»Was, du willst uf unsen Keller schimpfen?!« Reschke packt Arthur vorn am Rock und schüttelte ihn hin und her. »Ich wer' der lehren!«

»Wie steht man da,« kreischte die Reschke, »reine blamiert! Nich in Schule jehn, nich Dokter werden?! Reschke, morjen jehste zu 'n Direkter un machst dem den Standpunkt klar. Ne, uf de Stelle!«

»Ich kann nich mehr in Schule gehn! Ich will nich mehr in Schule gehn!«

»Maul jehalten!« Der starke Vater, mit seinen Bauernfäusten, schüttelte den kraftlos aufgeschossenen Sohn, daß der schlotterte wie ein loses Bündel Kleider.

Frau Reschke bebte vor Wut. »Du solltest Jott danken, daß de Eltern hast, die der studieren lassen, du – du!«

»Ich kann nich studieren!« Arthur riß sich vom Vater los und hielt sich, wie betäubt, den Kopf.

»Da haste eene!« Die Mutter holte zornig aus und langte ihm eine Ohrfeige, daß seine blasse Wange dunkelrot erglühte.

Einen Moment hatte es den Anschein, als wollte der Sohn rebellisch werden, auf seiner Stirn schwoll die Ader, aber gleich darauf knickte seine aufgeschossene Gestalt schlapp zusammen und sank auf den nächsten Stuhl. Er fing an zu schluchzen.

»Siehste woll,« sagte Frau Reschke. Und dann zog sie ihren Mann mit sich fort. »Komm, laß man Arthurn! Er is ja doch en juter Junge. Er wird sich schonst besinnen.«

Herr Reschke war nicht ›auf der Stelle‹ zum Direktor gegangen, auch nicht den nächsten Tag und nicht den übernächsten; es war im Geschäft viel los gewesen.

Und dann kam der Sonntag, und den wollte man doch auch in aller Gemütsruhe genießen. Es war gar keine Rede mehr davon, mit dem Direktor zu sprechen, die ganze Szene mit Arthur schien vergessen, als wäre sie nie gewesen.

Aber Arthur hatte nicht vergessen. Als er jetzt in der Einsamkeit des Sonntag nachmittags auf seinem Bette lag und schlief, war seine Stirn schmerzlich verzogen. Er ächzte im Traum – – der Lehrer rief ihn auf, er wußte nichts, rein gar nichts, die kleinen Knirpse rundum lachten – – –

»Arthur! Arthur!«

Da schreckte er auf. Eine Mädchenstimme hatte gerufen, es pochte ans Fenster!

Schlaftrunken stolperte er nach der Tür.

Er war sehr enttäuscht, Mine zu finden; sie dagegen war froh, einen Menschen zu sehen, und drückte warm seine Hand.

Sie folgte ihm ins Wohnzimmer. Noch brannte keine Lampe; im Dämmergrau sah sie nur seine weißen Hemdärmel schimmern, und er sah ihr Gesicht in unbestimmten verfeinerten Umrissen. Ganz traulich tickte der Regulator, und ein Mäuschen knabberte in irgend einem Winkel.

Sie saßen jeder in eine Sofaecke gedrückt. Mit gedämpfter Stimme fing sie an zu sprechen. Er hatte sie nicht gefragt, aber es war ihr ein Bedürfnis zu erzählen, ein wenig zu klagen, mit einer Weichheit, die ihr sonst fremd war. Er hörte ihr schläfrig zu; ihre bäuerliche Sprechweise hatte sich schon gebessert, wenigstens störte sie ihn heute nicht mehr so.

Mines Stimme zitterte, als sie erzählte, daß Bertha gegangen war, sich amüsieren, und sie allein gelassen hatte – ganz allein!

Allein! War er das nicht auch? Arthur ergriff Mines Hand. Sie rückten näher zusammen.

»En scheußliches Leben,« seufzte er gähnend.

»Ne, das is aber auch gar nich scheene von ihnen, daß se der so alleene gelassen haben,« sagte sie mitfühlend.

»Ach, das is mir janz wurscht! Aber, daß sie kein Einsehen haben! Ich soll durchaus noch in Schule hocken. Ich lerne doch nischt!«

»Ne, das glaube ich selber. Wo das nu mal nich drinne sitzt! Das is ackerat so, als sollt en Hahn Eier legen – das kann er ooch nich.«

»Du bist gar nich so dumm,« sagte er.

Sie lächelte erfreut.

»Ich gehe nicht mehr nach Schule,« murmelte er vor sich hin. Sein Gesicht, das sich bei ihrem drastischen Vergleich etwas aufgeheitert hatte, wurde wieder trübselig. »Mir ist hundselend zumute!«

»Armer Arthur,« seufzte sie bedauernd.

Er ließ den Kopf an ihre Schulter sinken. »Mutter kann man vorstellen, was man will, sie versteht einen nich. Sie is zu ungebildet. Und Vater erst! – Du hättst neulich die beiden Ollen hören sollen! Eigentlich zum Radschlagen!«

Er schwieg. Sie schwieg auch, aber als sie ihn tief seufzen hörte, strich sie ihm übers Haar. Er lehnte wie ein hilfloses Kind an ihrer Schulter, ein wahrhaft mütterliches Gefühl stieg in ihr auf. Leise streichelte sie weiter.

»Ich kann nich mehr nach Schule gehn – ich kann nich studieren! Ich kann nich, ich kann nich,« klagte er.

»Ja, was willste denn?« fragte sie.

»Das weiß ich nich,« stöhnte er. »Fühl mal!« Er streckte seinen Arm aus. »Achtzehn Jahr – un gar nischt! Andre, die so alt sind wie ich, haben Muskeln von Eisen.«

»Na, dann mußte Kellner werden, dazu brauchste keene Knochen wie 'n Ochse.«

Er schauderte.

»Oder in 'nen Matrialladen, so wie drüben is! Das ist doch scheene, Kaffee abwiegen un Syrup un Reis!«

Er schüttelte verneinend den Kopf.

»Na, oder de gehst bein Schneider. Da kannste uf 'n Tisch sitzen, da brauchste nich mal zu stehn. Bei uns zu Hause is einer mit 'nem Stelzfuß, der hat die Kundschaft von allen reichen Bauern. Dem geht's mächtig gutt!«

»Ne, o ne!«

»Ja, dann weiß ich wahrhaftig nich,« sagte sie ratlos. »Was willste denn werden?«

»Nichts,« stieß er hervor, ließ den Kopf von ihrer Schulter gleiten und hart auf die Tischplatte fallen.

So lag er lange, ohne sich zu rühren. Sie wagte keinen Laut, zuletzt stupste sie ihn sacht mit dem Zeigefinger ins Genick.

Er regte sich nicht.

»Du, Arthur!«

Er hob sein verstörtes Gesicht, doch als sie ängstlich fragte: »Was haste?« fing er an zu lachen. Mit einem kühnen Schwung schlang er den Arm um ihre Taille.

»Du bist en famoses Mädchen, Mine! En riesiger Dusel, daß die Ollen weg sind! Nun kann man sich doch mal ordentlich aussprechen.«

Und sie sprachen sich aus. Mine hätte nie geglaubt, daß der Arthur, der dazumal in der Küche wie ein ungezogener Bengel war, so nett sein könnte. Ein richtiger junger Mann! Und wie er sich fein ausdrücken konnte! Sie fühlte seinen Schnurrbart ihre Wange kitzeln und saß still in stummer Bewunderung.

Und Arthur erholte sich förmlich an dieser Bewunderung; er fühlte sich als etwas, zwirbelte die Härchen auf der Oberlippe und machte ihr zuletzt den Vorschlag, ob sie nicht bald einmal abends zusammen spazieren gehen wollten?

»Ja, wenn de mer abholst,« sagte sie treuherzig. »Oder soll ich dir abholen, wenn ich mal Zeit hab?«

»Ne, ne, man ja nich! Daß de Mutter ja nischt merkt!«

»Is se mer denn noch so beese?« fragte Mine kleinlaut. »Ich kann doch nicht bei se kaufen, wenn mer der Herr wo andersch hinschickt!«

»Komm nich her! Ich wer' dir schon Nachricht zukommen lassen,« sagte Arthur rasch. »Es is ja auch viel schöner, wenn wir heimlich gehen, was?« Er umschlang sie fester und näherte seinen gespitzten Mund dem ihren.

»Ne, ne, Arthur,« wehrte sie und gab ihm einen kleinen Puff, »du darfst nich kind'sch sein!«

Er lachte und rückte ihr wieder näher.

Plötzlich schreckten sie auf – vorn an der Blaulackierten rappelte es wie mit Schlüsseln! Tritte im Laden!

Der Junge fuhr zurück. »Die Ollen! Rasch, mach, daß du fortkommst!« In verlegner Hast drängte er sie zur Hintertür.

Zu spät! Schon stieß Frau Reschke die Glastür auf und leuchtete mit einem Wachszündhölzchen in die Stube.

»Wo is denn Athur! Nanu,« rief sie erstaunt, »du sitzt noch in'n Stichdunkeln?! Und da is ja –«

Das Wachszündhölzchen erlosch; in eisigem Schweigen strich Mutter Reschke ein neues an. »Na, so was,« sagte sie dann, die Lampe ansteckend, und fixierte dabei das Mädchen scharf, das mit rotem Kopf, ganz verwirrt dastand. »Wat verschafft uns denn de besondre Ehre? Sonst is der Weg doch nich ufzufinden!«

»'n Abend, Tante,« flüsterte Mine schüchtern.

Frau Reschke schien die ausgestreckte Hand nicht zu bemerken, aber Herr Reschke sagte gutmütig: »'n Abend, Mine! Na, läßte der ooch mal bei uns sehen? Was machen se denn zu Hause? Wie jeht's denn in de neue Stellung?«

»Nich sehr scheene!« Mine ließ den Kopf tief auf die Brust hängen. »Mer hat doch so gar keenen!«

»Heimweh?!« Herr Reschke lachte.

»Nu ja,« sagte Frau Reschke spitz, »wenn man seine Verwandten so hintenansetzt! Ik muß jestehn, so was is mich denn doch noch nicht vorgekommen –«

»Laß doch, Amalchen,« unterbrach sie ihr Mann, »de Mine is ja doch nu jekommen!«

»Nu wenn schon! An 'n Sonntag, wenn weiter nischt los is! Wenn Wochentags der Jrünkram in de Kirchbachstraße so ville besser is, da kann se Sonntags ooch dahin jehn. Ik verzichte!«

»Nu, Maleken,« sagte Herr Reschke besänftigend; und Arthur flüsterte leise hinter Mines Rücken: »Sag, daß du hier kaufen willst! Rasch!«

Gott im Himmel, wenn die Verwandten ihr auch die Tür verschlossen! Arthur war vielleicht auch böse!

»Ich mechte ja gerne hier kaufen,« stammelte sie, »aber er schickt mer doch wo andersch hin! Was soll ich machen! Ach Jeses!«

»Na, so dumm!« Die Tante höhnte sie gründlich aus. »Un brauchste 's ihm denn uf de Nase zu binden? Der Schnapspantscher, der Jeizkragen, der olle Kamuff! Dem kann det janz ejal sein, wo de für seine paar lumpigen Sechser inholst! De tust, als ob de in de Kirchbach rin jingst, aber wenn er der nich sieht, drehste ebent um un kommst rüber. Fertig!«

Mine wollte erwidern, daß das doch eigentlich nicht recht wäre, aber Frau Reschkes drohender Blick schüchterte sie ein; auch trat ihr Arthur mahnend auf den Fuß. So sagte sie denn – widerstrebend nur glitt es über ihre Lippen – daß sie es so machen würde.

»Bestimmt?«

»Bestimmt,« sprach sie nach.

Die Tante lächelte süß. »Setz der doch noch en bißken, Mine! Reschke, jeh, hol man en paar Weiße rin. Uff, die Hitze! Mine wird Durscht haben. Trude, jeh, leuchte Vatern! Von die jroßen Pullen, hörste?! So setz der doch, mein Dochter!« Sie nickte Mine zu und streckte ihr, als Vater Reschke und Trude im Laden verschwunden waren, die breite Hand über den Tisch entgegen.

»Ne, Mine, wat ik mir freue, dir zu sehn! Ordentlich bange war mich schonst nach der! Was, Athur,« – sie blinzelte ihrem großen Jungen zu, der blaß und schlenkrig am Tisch lehnte – »det konnte der wohl passen, mit so 'n hübschet Mächen hier alleene zu schmusen?! Warte, ik wer' der!« Sie lachte und gab ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß.

Das wurde noch ein sehr vergnügter Abend. Mine wurde ganz eingewickelt in Freundlichkeit. Der Onkel schenkte ihr immer wieder in ihr Glas zu, es wurde gar nicht leer; die Tante gab ihr allerhand gute Ratschläge und versprach, ihr bald eine bessere Stellung zu besorgen, als die drüben beim ›ollen Schnapspantscher‹ war. Trude band ihr von dem Krawattentüchelchen, das sie sich ungeschickt umgeknüpft hatte, eine ›schicke‹ Schleife, und Arthur wechselte zuweilen einen Blick des Einverständnisses mit ihr, der ihr wohl tat.

Mine war sehr vergnügt; plötzlich fiel ihr ein: wo war Grete? Draußen hörte man jetzt den Wind heulen und den Regen auf die Steinplatten des Hofes klatschen; der schöne Spätsommernachmittag hatte sich in einen bösen Herbstabend verwandelt. Wo blieb das Kind?

»Ach so, de Jrete,« sagte Vater Reschke auf ihre Frage; die anderen nahmen gar keine Notiz davon.

Nach einer Weile fragte Mine noch einmal, sie konnte den Gedanken an das stumme Mädchen nicht los werden. »Wo is se denn hin, de Grete?«

Elli, die bis dahin in der Sofaecke gedruselt hatte, schnellte plötzlich auf. »Die Jrete? Bei de Hallelujamächens is se! Hihihi!«

»Schon wieder bei de Hallelujamächens?« Vater Reschke grinste. »Die wird an'n Ende ooch noch 'ne Kiepen-Jule!«

Alle lachten.

»Laß ihr man,« meinte die Mutter, »da is se jut ufjehoben.«

»Du, Elli, sing mal das Stück – ach, du weißt schon,« rief Trude.

»Ja, singe mal Ellichen,« redete die Mutter zu.

Die Kleine zierte sich. »Ne! Ich bin müde!«

»Ach was, singe doch!«

»Singe, Ellichen, singe!«

»Wenn de singst, schenke ich dir ooch en Jroschen,« versprach der Vater.

Elli, die bis dahin mit verdrossenem Gesicht still dagestanden, schleuderte jetzt plötzlich mit einer gelenkigen Bewegung die Beine in die Luft; fast hätte ihre Fußspitze die Nase des sich zu ihr beugenden Vaters getroffen. Ihre gestärkten weißen Röckchen raschelten, wild flatterte ihre blonde Mähne. Schrill setzte sie ein:

»Ich bin die Josephine von die Heilsarmee,
Durch mich bekam die Chose erst ihr Renommee! –«

Alle Mäuler zogen sich breit, mit außerordentlichem Vergnügen lauschte die Familie.

»Wenn ich 'nen Haufen Männer seh,
Denn schieß ich jleich drauf los;
Als Missioneuse bin ich ja
Auch im Bekehren jroß –«

Immer lebhafter das Beingeschlenker, immer schriller der Gesang.

Die Zuhörer starben fast vor Lachen. Trude quiekte und wand sich, als ob sie gekitzelt würde; Herr Reschke schlug sich ein über das andere Mal aufs Knie: »Haha – hoho!« Frau Reschke hielt sich die Seiten: »Hör uf, Ellichen, hör uf! Ik platze – Jotte doch, ik platze!«

Kein Aufhören. Wie eine trunkne Mänade raste das kleine Mädchen. Der Vater trampelte mit den Füßen den Takt, die Mutter ächzte nur mehr und wiegte sich hin und her.

Immer kühner wurden die Sprünge, immer kecker die Bewegungen. Nicht mehr gesungen, ohne Atem geschrieen, stoßweise nur, kam der Refrain noch heraus:

»Ich bin – die Josephine – von die Heilsarmee« –
– – – – – – – – – – – – – – – –

Schallende Bravorufe, stürmisches Händeklatschen, Töne höchsten Entzückens.

Da – draußen vom Hof her eine klägliche Stimme, kaum verständliches Rufen!

Trude quietschte hell auf: »Die Josephine von der Heilsarmee!« Vor Lachen taumelnd, stolperte sie nach der Hintertür, um der Schwester zu öffnen. Sie hatten alle das Klopfen nicht gehört.

»Na, kommste endlich?« rief die Mutter; noch konnte sie vor Lachen kaum ein Wort vorbringen. Die ganze Familie lachte, als Grete, geblendet vom Lampenschein, verblüfft von der unerklärlichen Fröhlichkeit, die sie empfing, starr da stand.

»Steh nich so dammelig,« schrie die Mutter. »Wie siehste aus? Quatschnaß!«

Und der Vater rief: »'ne jebadete Kiepen-Jule!«

Und alle lachten, lachten: »Haha – hoho – hehe – hihi!«

Einen hilfesuchenden Blick warf Grete umher; ihre schmalen Wangen bedeckten sich mit einer fliegenden Röte, ihre Lippen bewegten sich zitternd. Ein Freudenschein glitt über ihr Gesicht, als sie Mine entdeckte.

Diese zog das Kind an sich. »Warum kommste nich bei mer, Grete?« flüsterte sie ihr ins Ohr. »Komm doch!«

Und Grete flüsterte wieder: »Se ließ mir ja nich, se paßte mir uf!« Ein Zucken ging durch ihren dürftigen Körper; beide Arme um den Hals der Cousine schlingend, wisperte sie in leidenschaftlicher Umarmung: »Ich hab Ihn jesehen – –! Er war da – jetzt – heute – mitten unter uns! Bei uns, bei mir! Im Saal!«

Mine fuhr zurück; betroffen starrte sie die kleine, vom Regen triefende Gestalt an. Ein entrückter Glanz war in Gretes Augen.


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