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Weit draußen hinter den letzten Straßen, auf Gretes Grab, blühte der Geraniumstock, den Mine hingetragen, in rotleuchtender üppigster Fülle. Die Rasenstücke, die Ellis Kinderhände, in Spielerei, auf das schmale Grab gelegt, waren angewachsen und grünten lustig. Der Wind hatte allerlei Samen herzugetragen; Unkraut und Gänseblümchen schossen im Rasen auf, und schwanke Halme wiegten sich im Wind.
Reschkes hatten nie ein besseres Kind gehabt.
Alle Sonntag nachmittag ging Frau Reschke im wehenden Kreppschleier, mit der grünen Gießkanne am Arm, und begoß das Grab.
Elli, die mit der Mutter kam, spielte derweilen zwischen den Gräbern; nie ging sie fort, ohne sich mit irgend einer geräuberten Rose geschmückt zu haben.
Der Alte spazierte nicht mit auf den Kirchhof; er saß, wie immer, zu Hause und rauchte und trank eine Weiße. Aber sein Gesicht war ganz verschrumpelt.
Arthur hatte sich einen breiten Kreppstreifen um Hut und Paletotärmel heften lassen, er hielt auf den nötigen ›Pli‹; das hatte er von seiner Mutter.
Er war noch immer in der Druckerei und schien sich soweit auch ganz wohl dort zu fühlen. Freilich, im Lohn aufgerückt war er noch nicht; er hatte noch immer nichts andres zu tun, als Farbwalzen zu waschen, Maschinen zu ölen und zu reinigen, Formen einzuheben und auszuheben. Aber er hatte Kameraden gefunden, denen er mit seiner ›Bildung‹ imponierte. Er führte das große Wort und gab sein Urteil über alles mögliche mit einer Sicherheit ab, die andere zwang, ihm unbedingt beizustimmen.
Nur mit den Setzern hatte er ewig ›Krach‹. Das war ein eingebildetes, hochnäsiges Pack. Die hatten den ›Setzergrößenwahn‹, wie Arthur sagte. Die meinten wohl gar, wenn sie mit den Buchstaben herumtippelten, sie hätten die Bücher selber geschrieben. Davon verstand er doch mindestens ebensoviel, wohl noch ein bißchen mehr; hatte er doch seine ganze Jugend zwischen Büchern verbracht. Von den Brüdern ließ er sich noch lange nicht einschüchtern! Und so hörte man im großen Arbeitssaal, trotz des Stampfens der Maschine und des Surrens der Treibriemen, seine helle Stimme; mochten die Setzer sich unwillig umsehen: ›Pst, Ruhe!‹ Was brauchten die sich so aufzuspielen! Die hatten zu ihrer mechanischen Arbeit noch längst Ruhe genug.
Besonders zwischen Arthur und einem Setzer, einem blassen, nervösen Menschen mit gereizter Stimme, bestand ewige Fehde. War dieser auf einen Dienst des Hilfsarbeiters angewiesen, konnte er sicher sein lange warten zu müssen; nie streifte Arthur an seinem Pult vorüber, ohne besonders hart aufzutreten oder wohl gar irgend einen Gegenstand, den er trug, zur Erde fallen zu lassen. Schreckte dann der nervöse Mann zusammen, so lachten die andren.
Der Faktor hatte Arthur schon ein- oder zweimal angelassen; er machte sich nichts daraus. Im Gegenteil, die Kameraden tranken ihm nachher zu in der Kneipe; dann schlug er lachend auf den Tisch, rief nach dem Wirt und bestellte eine Runde Bier.
Ein flotter Mensch! Mutter Reschke hatte schon Ursache zu ihrem heimlichen Stolz auf ihn. Wenn er sie besucht hatte – allzuoft kam er nicht – stand sie noch lange in der Kellertür und schaute ihm nach. Mit seinem weichen, breitkrempigen Hut und den lockigen Haaren hatte er was von einem Künstler. Die hübschesten Mädchen warfen ihm Blicke zu; da kam mehr als eine in den Keller, die sich nach dem ›schönen Arthur‹ erkundigte. Schade, daß der nicht mehr zu haben war! Und Mutter Reschke seufzte: »Ja, schade! Der hat sich zu sehr verplempert!«
Wenn Arthur nach Hause kam, fand er seine Frau nicht im geringsten anziehend – so plump von Figur, nicht ein bißchen Taille. Er sah sie lieber gar nicht an, wenn er gut gelaunt war, nannte er sie ›Olle‹; genau wie Bartuschewski die seine.
Aber auch dieses Kosewort fiel in letzter Zeit immer weniger. Von Tag zu Tag kam er verstimmter heim.
Fragte Mine ihn, ob ihm etwas fehle, so knurrte er Unverständliches; und so fragte sie ihn zuletzt nicht mehr. Aber ihr Herz war schwer. –
Heute war es schon spät in der Nacht, Mine saß und flickte; Fridchen schlief im Körbchen, aber das war der schon zu kurz, die mußte sich krumm legen. Mit einem tiefen Seufzer ließ Mine die Arbeit aus der Hand sinken – wie lange noch, und ein Bettstellchen mußte für das Kind beschafft werden. Das Körbchen würde man ja ohnehin anderweitig brauchen!
Schwermütig stützte das Weib den Kopf in die Hand und blickte starr vor sich hin.
Durch das halboffne Fenster floß die Luft schon mit herbstlicher Kühle; ein breiter Streifen glänzenden Mondsilbers überstrahlte siegreich den erbärmlichen Schein des Lämpchens.
Arthur war noch nicht zu Hause. Wenn er doch käme! Mine stand auf und warf, laut gähnend, einen verdrossenen Blick um sich. Das Warten half nichts, sie mußte sich niederlegen, sonst schlief sie morgen am Waschfaß ein; mochte er sich denn im Dunkeln Hals und Beine brechen! Er wollte es ja nicht anders haben.
Eben wollte sie ihr Kleid abstreifen, da trappte ein Schritt auf der Treppe; nun nahm sie doch hastig das Lämpchen und eilte, um ihm zu leuchten.
Seit dem frühen Morgen hatten sie sich nicht gesehn.
Arthur machte jetzt mittags nicht mehr den Weg nach Hause, um sich das bißchen Essen aufzuwärmen, das im Sommer, am Abend vorher gekocht, nicht einmal mehr ganz frisch schmeckte. Und die Stube war so öde; selbst Fridchen nicht da! Seit Gretes Tod, und seit dem Kinde einmal im Keller, wo niemand es hütete, beinah ein Fingerchen zwischen der großen Rolle abgequetscht worden war, nahm Mine die Kleine mit sich. So aß Arthur lieber mit seinen Kameraden in einer billigen Kneipe, nahe der Druckerei. Ein Hauptspaß war's, daß die Setzer auch dort verkehrten; so fehlte es nicht an Gelegenheit, zur Würze des Mahles, seinen Witz leuchten zu lassen.
Als er jetzt die obersten Stufen hinauftrappte, merkte Mine: er war betrunken. Er taumelte und stolperte, und ein Alkoholdunst flog vor ihm her. Sie faßte ihn beim Arm und hob mit der andren Hand das Lämpchen hoch, um ihm die Schwelle zu zeigen.
»Jeses!« Einen unterdrückten Schrei ausstoßend, zog sie ihn rasch in die Stube. Auf seiner Stirn klebte geronnenes Blut, auf seiner Backe, auf seiner Nase; bis aufs Hemd war's ihm gelaufen und lang heruntergesickert. Die Haare waren von Blut verschmiert; vorn, vom Schädel quer über die Stirn weg, zog sich ein tüchtiger Riß mit unebnen Rändern.
War er gefallen? Sie drückte ihn auf einen Stuhl und begann mit einem Handtuchzipfel das geronnene Blut abzuwaschen; es war nicht so schlimm, wie es aussah. Sie wurde ruhiger.
Er hielt ganz still und schimpfte nur unausgesetzt halblaut vor sich hin.
»Haste der gekeilt, Arthur?«
»Jawoll!« Er lachte ingrimmig auf. »Das Kamel – den Setzer – ordentlich verhaun – de – de – der –« Das Weitere verlor sich in Lallen.
»Aber, Arthur, wie konntste bloß?!« Es war nur ein ganz leiser Vorwurf, noch dazu von einem besorgten, kleinen Ellbogenstoß begleitet, aber der Trunkene schnellte gereizt auf. Das Lämpchen in die Faust packend, schleuderte er es plötzlich vom Tisch, daß es am Boden in tausend Scherben zerklirrte.
Nur der Mond gab jetzt noch Licht.
»Aber Arthur, Arthur!« Vergeblich suchte sie ihn auf den Stuhl niederzuziehen.
»Da haste's,« schrie er, »laß mich in Ruh! Kujonieren laß ich mich nich; von dir nich, von dem nich, von kei – kei – keinem!« Mit den Armen fuchtelte er wild in der Luft.
Sie nahm sich zusammen und drückte ihn mit Gewalt nieder und streichelte ihn sacht. »Laß gutt sein, Arthur! Ja, du has ganz recht, du sollst der ooch nischte gefallen lassen!«
»Tu – ich – auch nich,« knurrte er. »Entla – la – lassen – haha! Pfeif drauf – haha – entlassen!«
Mine horchte auf, ihr Gesicht bekam den Ausdruck ängstlichen Lauschens. »Was sagste? Wer is entlassen?!«
»Pfeif drauf – schnuppe! Aber den – Se – Se – Setzer – den Lump – hab ich noch Mo – Mo – Mores jelehrt!« Er lachte vergnügt. »Laß ihn jetzt nur – pe – petzen – janz schnuppe – entlassen – hahahaha! – Quatsch!« Er fuhr sich mit der Hand an die Stirn und brüllte auf: »Hal – lunke – wer' der lehren, einem Biersei – del an'n Kopf schmeißen. Du Spitzbube du –«
»Arthur!« Sie packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und rüttelte ihn stark. »Wer is entlassen? Du doch nich?!
»Jawoll,« sagte er plötzlich, scheinbar ganz nüchtern. »Sonnabend – is 's alle!«
»Aus der Druckerei entlassen –?! Arthur!« Das war ein Aufschrei. Und nun konnte sie nicht mehr an sich halten, eine Flut verzweifelter Klagen, verzweifelter Vorwürfe, strömte über ihre Lippen.
Keine Stelle – schon wieder keine Stelle?! Was sollte nun werden?! Daß er aber auch nirgendwo aushielt! Nichts war ihm recht. Darum war auch niemand mit ihm zufrieden. Wie sollte das werden, wenn der Sommer vorbei war, wenn man heizen mußte?! Sie allein konnte nicht alles verdienen. Wo würde er wieder Arbeit finden?! Ach nirgendwo, nirgendwo!
Sie rang die Hände.
Und wenn sie nun nicht mehr arbeiten konnte? Wenn die Zeit kam, wo – wo – in der – wo – – – – – – –
So weit hatte er sie, wie betäubt, ganz still angehört. Jetzt brüllte er plötzlich auf: »Halt de Schnauze!«
Sie brach in ein fassungsloses, verzweifeltes Schluchzen aus, und zwischen dem Schluchzen stieß sie hervor: »Wie sollen mer'sch satt kriegen – noch en Kind?!«
»Was –?!« Nun war er auf den Füßen, blaurot wurde sein Gesicht. »Noch eins – was – noch eins?!« Er holte zum Schlage aus. »Sa – sa – sag's noch mal, – verflucht!«
Sie duckte sich vor seinem Schlag. Aufschreiend flüchtete sie hinter den Tisch.
Seine Augen rollten, mit der Wut eines Unsinnigen trommelte er auf den Tisch. »Untersteh dich – hörste, ich – ich will nich – noch eins – ne – untersteh dich – du – du!«
Furchtbar drohend sah er sie an.
So hatte sie ihn noch nie gesehen. Eine Todesangst überkam sie vor seinen finsteren, blutunterlaufenen Augen; die Haare hingen ihm struppig ins Gesicht, er hatte sich bei dem wilden Umherfuchteln selbst gegen die Stirn getroffen, nun rieselte das Blut wieder. Sein Aussehn flößte Entsetzen ein; sein junges Gesicht war ganz zerwühlt, ganz verfurcht. Sie erkannte ihren Mann kaum wieder.
Ein Grausen packte sie, zitternd stürzte sie nach der Tür. Er ihr nach mit geschwungenen Fäusten.
Schon war sie den obersten Treppenabsatz hinunter.
Er folgte ihr nicht.
Aber jetzt tobte er durch die Stube wie ein Toller – krach, krach – klirr, klirr. Jetzt schrie Fridchen durchdringend.
Wenn er dem Kind was antat! Blitzschnell eilte die Mutter wieder die Stufen hinauf.
Da stand Fridchen kerzengerade im Körbchen, mit entsetzten Augen, und der Vater raste umher und schlug mit einem Stock alles kurz und klein. Krach, jetzt gegen die Wand – klirr, jetzt in den Küchenrahmen. All das schöne Porzellan zu Scherben.
»Arthur!«
Er hörte sie nicht; immer weiter fuchtelte er mit dem Stock. Da stürzte sie vollends ins Zimmer, riß das Kind aus dem Bettchen und preßte es an ihre Brust, daß er's nicht totschlug.
Jetzt erst bemerkte er sie. »Du – du –!«
Sie floh, – er ihr nach, mit dem Stock drohend.
Sie flog die Treppen hinunter, er polterte hinterdrein.
»Meine Frau – ich schlag se tot – meine Frau!« Überlaut dröhnte seine Stimme durch das nachtstille Haus.
Türen knarrten und wurden geöffnet, Lichtschein fiel heraus.
Sie floh in sinnloser Angst.
»Meine Frau – halt se fest – wo is se – meine Frau?!«
Immer weiter floh sie – jetzt war sie unten im Keller. In der dunkelsten Ecke kauerte sie sich nieder, ihr Herz pochte rasend, ihr Kopf war verwirrt. Mit aufgerissenen Augen ins Dunkel starrend, das wimmernde Kind fest an sich gedrückt, lauschte sie nach oben. Hier würde er sie nicht finden. Noch hörte sie sein Geschrei: ›Meine Frau, meine Frau‹ – dann andre Stimmen.
Das ganze Haus war alarmiert. In einem Gefühl unsäglicher Scham kroch Mine immer mehr in sich zusammen.
Nach und nach wurde es still, sie hatten ihn wohl beruhigt. Noch immer lauschte sie mit angehaltenem Atem; endlich richtete sie sich auf. Wie lange sie wohl hier gesessen hatte? Sie war ganz steif. Fridchen nieste und hustete; die hatte sich gewiß erkältet! Oh, wohin jetzt – wohin?!
Hinauf in die Wohnung traute sich Mine noch nicht. Langsam, schwerfällig stieg sie die Kellertreppe hinauf, am liebsten wäre sie auf allen Vieren gekrochen, ihre Füße wollten sie kaum mehr tragen. Wohin – wohin –?!
Bei Bartuschewskis schimmerte noch ein Licht. Trotzdem die feind mit ihr waren, sie nicht einmal mehr grüßten, klopfte sie dort an. Die Bartuschewski, in Unterrock und Nachtjacke, öffnete. »Bartuschewski is oben bei Ihren Mann,« flüsterte sie und zog Mine hastig über die Schwelle. »Kommen Se rein!«
Ein paar Augenblicke sahen sich die beiden Frauen stumm an, dann nickten sie sich zu – traurig, verständnisinnig, – und weinend fielen sie sich um den Hals. Sie waren versöhnt. – – – –
Am Morgen, als Mine ihren Mann aus dem Hause wußte, kletterte sie die vielen Treppen hinauf. Heut konnte sie nicht zur Arbeit gehen, und wenn sie die Waschstelle deswegen verlieren sollte; ihr war zu elend.
Wie eine alte Frau hielt sie sich am Treppengeländer fest und erstieg mühsam Stufe um Stufe. Ihr Herz klopfte, als sie die Klinke ihrer Stubentür niederdrückte – wenn er nun doch noch drin war?! Sie mochte ihn gar nicht wiedersehn – nein, nie, nie wieder!
Mit einem beklommnen Atemzug trat sie ein. Er war fort! Da war das zerwühlte Bett; Kissen und Leintuch und Zudecke, alles durcheinander geknäult. Da stand die schmutzige Waschschale, das Wasser war noch gerötet – da lag das Handtuch, mit dem sie ihm das Blut abgewaschen – und da, gedunkelte Blutstropfen, überall, auf den Dielen, auf der Schwelle.
Und Scherben, Scherben! Die grelle Morgensonne zeigte alles.
Mit einem Wehlaut kniete Mine neben dem Öfchen nieder. Oh, ihr Stolz, ihre einzige Zierde, ihr schöner Küchenrahmen! Ein einsames Töpfchen hing unversehrt ganz oben, sonst baumelten nur noch ein paar Henkel in den blauen Bändchen. Alles war abgeschlagen, aber auch alles. Selbst die hölzernen Kochlöffel hatte er demoliert. Der Wüterich!
Mit zitternden Händen las Mine die Scherben in ihre Schürze; sie schnitt sich dabei in die Finger, aber sie merkte es nicht. Wie vernichtet kauerte sie auf dem Boden und starrte den leeren Küchenrahmen an.
So fand die Bartuschewski sie, die mit Fridchen nachkam. In mitfühlender Geschwätzigkeit suchte sie Mine zu trösten, aber diese schüttelte den Kopf, immerfort wimmernd: »Mein Küchenrahmen, mein Küchenrahmen!«
Fridchen, die erst mit verwunderten Augen umhergestarrt, fing jetzt kläglich an zu weinen; sie fürchtete sich vor der wüsten Stube, fürchtete sich auch vor der Mutter und klammerte sich, von ihr zurückweichend, an den Rock der Bartuschewski.
Das brachte Mine wieder zu sich. Sich die noch ungeglätteten Haare aus dem Gesicht streichend, erhob sie sich mit einem tiefen Seufzer. Es half doch alles nichts, das war nun mal so. Sie machte sich ans Aufräumen. Die Bartuschewski war so freundlich und nahm ihr die Scherben mit nach unten – ihr schönes Porzellan eigenhändig in den Müllkasten werfen, nein, das konnte sie nicht, das brach ihr das Herz.
Die Sonne lachte so freundlich, so heiter wie nur je, als Mine kehrte und wischte und ordnete. Der große Petroleumfleck beim Tisch war so leicht nicht herauszubringen, trotz allen Scheuerns; schwerer noch die eingetrockneten Blutstropfen. Mine mußte sie erst mit dem Daumennagel von der Diele kratzen.
In ein paar Stunden war alles blank; sie hatte gleich die Gelegenheit benutzt und Groß-Reinemachen gehalten, die Wände abgestaubt, das Fenster geputzt. Nun sah sie sich um: alles wieder so, als sei nichts geschehen, und doch – ihr Blick traf den leeren Küchenrahmen, und ihr Gesicht, das sich während der Arbeit ein wenig erhellt hatte, wurde sehr finster.
Als es Mittag geworden, entschloß sie sich doch noch, waschen zu gehen. Vielleicht, daß ihr die Dame nicht böse war, wenn sie wenigstens den halben Tag kam; schaffen würde sie's ja schon noch, wenn sie sich mit doppeltem Eifer daran machte. Denn verlieren durfte sie jetzt keine Stelle, gar keine! Verstörten Blicks starrte sie den leeren Küchenrahmen an, und dann das für Fridchen zu kleine Körbchen – was würden da alles für Ausgaben kommen?! Der Angstschweiß brach ihr aus. Sie nahm Fridchen an die Hand und stieg mit schwerem, müdem Schritt die Treppen hinunter. –
Als Arthur gegen Mitternacht nach Hause kam, die Hände in den Hosentaschen, anscheinend sorglos pfeifend, war Mine noch auf. Er hatte gehofft, sie schon schlafend zu finden. Aber es war sehr spät geworden, bis sie die Wäsche fertig gebracht; nun entkleidete sie eben erst das schlaftrunkne Fridchen.
Sie rührte sich nicht bei seinem Eintritt, sondern blieb beim Körbchen hocken und drehte ihm so den Rücken.
Nur der Mond gab Beleuchtung. Sie hatten ja kein Lämpchen mehr. Es durchzuckte Arthur, und dann sah er den leeren Küchenrahmen. Verflucht! Er fuhr sich mit der Hand über die notdürftig verbundne Stirn – au – der Schmiß schmerzte noch ganz empfindlich! Überhaupt war ihm ganz erbärmlich zu Mut, und wenn er pfiff, so tat er's wahrhaftig nicht zum Vergnügen. Sie dachte gewiß, er wäre wieder im Wirtshaus gewesen – prosit Mahlzeit, dazu hatte er kein Geld mehr – und auch keine Lust. Die ganze Zeit nach Feierabend hatte er bei den Alten im Keller gehockt.
Die Mutter, die einen Zank mit Mine witterte, hatte ihn kajoliert, ihm, was sie Gutes besaß, aufgetragen und war dabei weidlich über die Schwiegertochter hergefallen. Er hatte zugehört, ohne Gegenrede, in stummem Trotz. Aber als der Vater aus seiner Stumpfheit plötzlich auffuhr: ›De Mine is jut‹, hatte er auch nicht widersprochen.
Nein, schlecht war sie auch nicht! Er sah nach ihr hin, während er sich entkleidete, und pfiff lauter. Sie rührte sich noch immer nicht, sie stand auch nicht auf, obgleich Fridchen längst eingeschlafen war.
Na, denn nicht! Seine niedergeschlagne Miene wurde verlegen; ärgerlich die Stiefel ausschleudernd, warf er sich ins Bett, daß das krachte.
Der Mond schien ihm voll ins Gesicht, unerquickliche Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf, und doch schlief er rasch ein. Da legte sich Mine nieder, und auch sie schlief rasch ein.
Viel Überflüssiges hatten sie nie mit einander geredet; jetzt sprachen sie kein Wort. Ohne ›Gutenmorgen‹ standen sie auf, ohne ›Adieu‹ gingen sie fort, ohne ›Gutenabend‹ kamen sie wieder. Das ging so ein paar Tage.
Heut war Sonnabend, Wochenschluß, das letzte Mal, daß Arthur in die Druckerei ging.
Am Abend war er längst zu Hause, als Mine wiederkam. Als sie eintrat, saß er am offnen Fenster, den Ellbogen aufgestützt, und starrte in den nächtlichen Himmel.
Heute hielten Wolken den Mond versteckt, es war regenfeucht und dunkel.
Sie tappte hin und her, nur ein schwacher Schimmer ließ sie das Nötige finden. Was er noch nie getan, Arthur hatte Feuer gemacht und ihr einen Kaffee gekocht. Sie dankte nicht dafür, aber sie goß sich eine Tasse voll ein, und er hörte sie mit Behagen schlucken und schlürfen.
Eine stumme Viertelstunde verstrich; noch immer saß sie beim Öfchen.
Fridchen war noch nicht zu Bett gebracht, Arthur hatte sie auf den Schoß genommen; erst war sie scheu zurückgewichen, als der Vater sie an sich gezogen, dann hatte sie sich locken lassen. Nun schlief sie, das Köpfchen an seine Brust gedrückt, und er legte seine Wange auf ihr weiches Haar.
Das Schlürfen hatte aufgehört.
»Hat's jeschmeckt?« fragte er unsicher.
Keine Antwort. Wieder stumme Minuten.
Jetzt näherte sich ihr schwerer Tritt dem Fenster. Sie wollte ihm das Kind vom Schoß nehmen, er hielt es fest.
»Gib her,« sagte sie hart.
»Ne.«
Sie zog sich wieder zurück, setzte sich an den Tisch, ließ die Arme schlapp herunterfallen und beugte sich vornüber.
Ob sie schlief? Man konnte keinen Atemzug hören.
Eine beklemmende Stille war im Zimmer.
Jetzt regte sich Fridchen auf seinem Schoß und seufzte; sie lag wohl unbequem?! Behutsam stand er auf und trug sie zum Körbchen. Es war das erste Mal, daß er sein Kind zu Bett brachte. Er fühlte das weiche Körperchen unter seinen Händen, streichelte das weiche Hälschen, die weichen Beinchen und dachte bei sich, daß es ganz was Nettes darum sei und wohl zu begreifen, warum die Weiber so an den Kindern hingen. Für Männer freilich – na, wenn's ein Junge war, ein Stammhalter, da ließ man sich's auch schon gefallen!
Seinen, über das Körbchen gebeugten Rücken aufrichtend, drehte er sich um und schaute zum Tisch hinüber. Er konnte Mine nicht deutlich sehen, es war zu dunkel. Mit vorgestreckter Hand ging er auf sie zu, da traf er ihre Wange.
»Mine,« sagte er leise, »biste mer böse?« und faßte wieder zu.
Sie stieß ihn von sich, und dann, als wenn sie auf diese Frage nur gewartet hätte, richtete sie sich aus ihrer zusammengesunkenen Haltung auf.
»Laß nur,« sagte sie klanglos. »Es is nu mal so, wie 's is. En jeder hat sein Kreize.«
Er war weich, ihr freudloser Ton jagte ihm die Tränen in die Augen; sein Herz zog sich zusammen. »Olle –« er stockte, so alt war sie doch eigentlich noch gar nicht – »Mine! Ich war betrunken!«
»Das warste.«
»Un fuchswild. Der Hund, der Setzer, verpetzt hat er mich! Un gereizt hast du mer auch noch! Un der Kopf tat mer weh zum Tollwerden!«
»'s tut mer ooch ofte was weh.«
»Sonst wär's nich passiert. Wahrhaftig. Mine, 's wär nich passiert!«
»Diesmal nich, aber vielleicht en ander Mal.«
Sie sagte das alles ganz gelassen, aber nun schluchzte sie plötzlich laut auf: »Mein Küchenrahmen! Lauter Scherbeln! Alles kaputt!« Die Hände vors Gesicht schlagend, warf sie sich über den Küchentisch.
Er stand wie angedonnert bei ihrem Schmerz. »Mine!« Mit bebenden Händen fuhr er ihr übers Haar. »Mine!« Und dann warf er sich bei ihr nieder, faßte sie um den Hals und schluchzte mit ihr.
Ja, er war ein Lump, ein miserabler Kerl, ein Hundsfott, nicht wert, daß ihn die Sonne beschien! So ein Kerl durfte ja gar nicht auf seinen zwei Beinen frei herumgehn, der mußte im Loch sitzen! So ein Tagedieb, so ein Müßiggänger, so ein Saufsack, so ein Raufbold!
Er konnte sich nicht genug tun in Selbstanklagen. Und dabei preßte er sie immer fester. Aber nun sollte sie mal sehen, nun kam das nie wieder vor, nun kriegte sie ein andres Leben! Nun würde er arbeiten, wie toll und verrückt, für sie und die Kinder!
»Da – da haste!« Seinen heut erhaltnen letzten Wochenlohn aus der Tasche ziehend, preßte er ihr das Geld zwischen ihr Gesicht und die davor gehaltnen Hände. »Da – alles – alles! Ich will nischt für mich, ich behalte nischt – sei man bloß ruhig! Weine man nich! Sag, daß de nich mehr dran denkst! Mine!«
Sie gab keine Antwort.
»Verzeih mer, 's war ja nich böse gemeint! Sag, daß de mer verzeihst!«
»Ich verzeih der!«
Er versuchte, sie zu küssen.
»De sollst ooch nich mehr ›Olle‹ sagen,« flüsterte sie schwach, immer noch von Schluchzen gestoßen, »sons denk ich, geht mer'sch wie der Bartuschewskin!«
»Unsinn!« Er verschwor sich hoch und teuer und küßte sie ab, daß ihr der Atem ausging. Sie sagte nichts, aber an dem Ziehen ihres Mundes merkte er, daß sie lächelte.
Jetzt war es auf einmal nicht mehr so dunkel in der Stube. – – –
»Pst, Sie, Madam Reschken,« rief Bartuschewski am andren Tag hinter Mine her. »Was meenen Se woll, de Mieter haben mächtigen Krach jemacht von wejen Ihnen! Besonders die aus 'n ersten un zweeten Stock. Nu will Ihnen der Wirt raussetzen.«
»Meinswegen,« sagte Mine stolz. Aber dann überkam sie der Schreck – sie wohnten so schön und verhältnismäßig so billig!
»Meinen Se wirklich, Herr Bartuschewski? O Jeses! – Wenn ich nu mal zu dem Herrn ginge,« setzte sie nach einer Pause ängstlichen Sinnens hinzu. »Wenn ich's dem selber täte vorstellen un ihn so recht bitten täte, er soll uns doch wohnen lassen?«
Bartuschewski zog die Schultern hoch und wiegte den Kopf hin und her. »Versuchen Se't. Aber ik jloobe nich. Wat machen Se denn ooch so'n Mordskrach?! Det kann sich ja ooch keen anständiger Mensch jefallen lassen!«
Mine suchte dreimal den Hausbesitzer in seiner Privatwohnung am Lützowplatz auf. Das dritte Mal bekam sie ihn zu sprechen. Er war freundlich und hörte, mit seiner Uhrkette spielend, das demütig dastehende, verarbeitete Weib ruhig an.
Dann aber schüttelte er den Kopf. »Liebe Frau, Sie scheinen 'ne ganz ordentliche Person zu sein! Aber die Mieter, die was einbringen, beschweren sich. Das sehn Sie doch ein, ich bin genötigt, auf die Rücksicht zu nehmen. Ich kann so'n Radau nich dulden!«
»Ach, lassen Se uns doch wohnen, lieber Herr, wer sind doch noch nie nich Miete schuldig geblieben! Die Stube is so scheene, wo finden wer gleich wieder so 'ne gutte Stube?!«
»Ach, Wohnungen genug!«
»Ne, ne, nich so 'ne gutte! Ach lassen Se uns doch wohnen!« Sie sah ihn beweglich an.
»Ne, ne, liebe Frau, 's geht nicht! Die anständigen Mieter ziehn mir ja aus! So'n Radau!« Er fing an, ärgerlich zu werden. »Ihr Mann soll nicht gern arbeiten wollen, ein Bruder Lüderlich sein, was?«
»O ne!« Sie wurde flammend rot, ihre Stimme zitterte. »Das is er nich. Er war nur betrunken.«
»Nur betrunken?! Na, ich danke, nette Zucht! Betrunken – ist das etwa in der Ordnung? Ein Trunkenbold?! Arme Frau!«
Beleidigt fuhr sie auf. »Wer hat das gesagt?! Mein Mann is gutt, mein Mann is ordentlich, ich bin gar nich 'ne arme Frau!« Sie zog ihr Tuch um sich und nahm ihr Körbchen, das sie an den Boden gestellt, rasch auf. Dann sah sie den vor ihr Stehenden groß und ehrlich und zugleich vorwurfsvoll an. »Entschuldigen Se, lieber Herr, aber Se wer'n wohl ooch schon mal in Ihrem Leben betrunken gewesen sein. Adjö!«