Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXV

Die alten Reschkes im Keller hatten ihr Pianino verkaufen müssen, das Klavierfräulein war ja ohnehin längst abgeschafft; Elli hatte keine Tonleitern mehr geübt, nur mit einem Finger geklimpert: ›Ach du lieber Augustin, alles ist hin!‹

Es ging ihnen schlecht, sie brauchten bar Geld; der Händler, von dem sie ihre Ware bezogen, wollte nicht länger mit seiner Forderung warten. Hundertzwanzig Mark brachte das Klavier; wenn's nicht so feucht gestanden hätte, würde es gewiß zweihundertzwanzig gebracht haben. Aber nun waren sie wenigstens wieder auf ein Weilchen flott, ein neuer Pump konnte angelegt werden.

Immer weniger Mägde kamen in den Keller; die machten nun ihre Einkäufe lieber in einem dritten Grünkram, der sich vor kurzem in der Göbenstraße aufgetan hatte. Der war ganz modern eingerichtet, hatte einen Automaten, der, nach Einwurf von zehn Pfennigen, ein Parfümfläschchen spendete und eine Ansichtskarte und noch fünf Pfennige wieder herausgab, und – der Besitzer, ein junger Mann, der mit seiner alten Mutter hauste, war noch unverheiratet.

Frau Reschke brauchte sich jetzt nicht mehr über den ewigen ›Radau‹ zu beklagen, die Klingel ertönte nur selten, und dann ganz zahm, wie verschämt leise. Kinder kamen, die für fünf Pfennige einholten, und ein paar alte Weibchen aus der Nachbarschaft.

Hätte die Reschke noch den früheren Unternehmungsgeist besessen, so würde sie zur Weihnachtszeit allerlei Überraschungen in Szene gesetzt haben, die unfehlbar Käufer herbeigelockt; aber der ›Mumm‹ war ihr, wie sie selber sagte, abhanden gekommen. Stundenlang konnte sie allein im Laden herumtreten und immerwährend vor sich hinbrabbeln; das Schwatzen war ihr nun einmal zur zweiten Natur geworden. So und so oft wiederholte sie dieselbe Geschichte, und wenn's dazu kam, hatte sie den richtigen Hergang total vergessen.

»Aber, Mama, die Jeschichte haste mindestens schon fufzig Mal erzählt,« pflegte Elli zuweilen loszuprusten, »un denn war's ja jar nich so! Quatsch! Du verquasselst ja allens!«

»Laß Muttern doch,« sagte dann der Vater wohl und plinkerte mit den trüben Augen. »Na, los, Amalchen, wie war's noch man?!«

In den novembergrauen Tagen mußte man im Keller von früh bis abend die Lampe brennen; nur über Mittag gab's eine Stunde spärliches Tageslicht.

Der alte Mann glaubte in seinem Leben die Dunkelheit nicht so schwer empfunden zu haben, wie jetzt. Und wenn er zu Arthur und Mine in die Alvenslebenstraße kam, war's da auch nicht viel heller; die wohnten parterre in einem Hof, der nicht viel weiter war, als ein Schlot, und in ihre Kammer und Küche warf die Wintersonne nie einen bleichen Schein.

Wenn nicht das Enkelkind gewesen wäre! Es hatte hellblonde Härchen, wie Trude einst gehabt, nur daß deren Haar viel voller und seidiger gewesen; später war es so schön nußbraun geworden. Der Großvater nahm oft die Kleine auf den Schoß und drehte ihre dünnen Strähnchen um seine groben Finger – ach, locken wollten sich die Haare nun gar nicht! Er machte ein sehr ernsthaftes Gesicht dabei und Fridchen auch; die war schon so ein verständiges Kind, die sah's den Ihren an den Augen an, ob sie lachen durfte oder ganz mucksmäuschenstill sein mußte.

Statt der Sonne, sah ein bleiches Gesicht durch die Scheiben von Kammer und Küchenfenster – das war die Sorge.

Es wollte Arthur gar nicht glücken, dauernde Arbeit zu finden; höchstens einmal für acht Tage, dann war's wieder aus. Nicht immer war es seine Schuld, und daran klammerte er sich in seiner Verbissenheit. Konnte er dafür, daß es schon Anfang November Stein und Bein fror?! Da hatte er Verdienst gehabt als Steineträger beim Bau; und wenn ihm auch die schweren Mulden fast die Schulter zerdrückten und ihm beim ungewohnten Leitersteigen schwindelte, der Verdienst war endlich einmal gut gewesen. Acht Tage hatte das gedauert, und dann kam Schnee, Glatteis, der Mörtel hielt nicht – aus war's.

Aber eine Erkältung hatte er sich dabei weggeholt, die war nicht so leicht los zu werden. Obgleich ihn Mine in alles einpackte, was sie besaß, ihm abends im Bett ihre Unterröcke um die Füße wickelte und ihn fest in den Arm nahm, doch lag er die ganze Nacht klappernd vor Frost, und erst am Morgen, gerade wenn er aufstehn mußte, wurde er warm. Seine Mutter wollte ihm einen Tee gegen den Husten kochen, da fuhr er sie an: »Hättste mich man en Handwerk lernen lassen, denn brauchtste mir jetzt keinen Tee zu kochen. Trink deinen Soff alleine!«

Ein Glück war es, daß Mine ihre Wasch- und Putzstellen hatte, so konnte man wenigstens die erste Miete pünktlich bezahlen. Anfang Oktober hatte Mine sogar zu viel zu tun gehabt, jeder wollte vor dem Winter gründlich reingemacht haben, und bei Leuten, die umzogen, sollte sie auch helfen. Sie konnte beim besten Willen nicht allen gerecht werden; man nahm's ihr übel, und so verlor sie Stellen, auf die sie fest gerechnet hatte.

Ende Oktober wurde sie viel weniger verlangt, Anfang November noch weniger, und bald gar nicht mehr. Ob schuld daran war, daß sie Fridchen immer mit auf die Arbeit nahm? Die kam doch keinem in die Quere, saß so still zwischen der schmutzigen Wäsche beim Waschfaß und spielte mit ein paar Klammern; die kleine Gestalt verschwand ganz im Laugendunst wie in einer Wolke. Wenn die Mutter Stuben rein machte, lief sie schon ab und zu, holte Besen und Schippe und las Schnippel und Fädchen und Staubflöckchen mit ihren kleinen Fingern auf. Mittags pickte sie, wie ein Vögelchen mit vom Teller der Mutter. Mine sagte sich, das konnte der Grund nicht sein, daß sie so wenig bestellt wurde. Endlich wurde es ihr klar gemacht; eine Dame, die ihr sehr wohl wollte, sagte ihr's, fast vorwurfsvoll: daß sie nun doch nicht mehr so schwer arbeiten dürfe, sich schonen müsse, und daß man natürlich jetzt gern die Rücksicht auf ihren Zustand nähme. Und die Dame schrieb sich genau die Adresse auf und versprach ihr, sie nachher gewiß wiederzunehmen.

Schonen –?! Mine lächelte trüb, wenn sie daran dachte. Ach, die beste Schonung wär ihr gewesen, wenn sie jeden Tag satt zu essen gehabt, wenn Fridchen nicht manchen Abend kläglich gesagt hätte: »Fridchen noch Hunger hat!«

Ganz hungrig waren sie zwar bis jetzt noch nicht zu Bett gegangen, aber Mine lag manche, lange Winternacht mit offenen Augen und sah der Zeit entgegen, da ihnen der Magen knurren und in dem Ofen, der so viel verschlang und doch die fußkalte Wohnung nicht erwärmte, kein Feuer mehr brennen würde. Dann kam die Angst über sie, so daß sie mitten in der Nacht ihren Mann anstieß: »Du, Arthur! Wenn's nur erscht Frühjahr wär!«

»Na, wenn schon,« erwiderte er, und in seiner Stimme lag die ganze trostlose Erkenntnis. –

Eines Tages hatte Mine einen guten Gedanken. Es lasen doch so viele Menschen den Lokalanzeiger, da konnte man gewiß noch eine Frau zum Austragen gebrauchen. Sie hatte sich erkundigt, – siebzehn Mark den Monat – viel war's nicht für eine ganze Familie, aber wenn Arthur wieder leidlich gesund war, fand der wohl auch einen kleinen Verdienst. So hing sie sich einen Schal um, der ihre Gestalt verdeckte, und – sie wußte selbst nicht, was sie zu ihrem ›Dusel‹ sagen sollte – sie wurde als Zeitungsträgerin angenommen.

Jeden Morgen in der allerfrühsten Frühe fand sie sich nun in der Filialexpedition des Lokalanzeigers in der Bülowstraße ein, und nachmittags wieder, und holte sich ihr Teil. Die Schwiegermutter hatte den alten Kinderwagen geborgt, darin fanden Fridchen und die Zeitungen Platz.

Unermüdlich stapften ihre Füße durch Schnee und Schmutz; während sie in die Häuser ging, um an den Hintertüren zu klopfen oder das Blatt unter die Strohmatte zu schieben, hielt Fridchen außen Wacht. Wenn nur nicht die vielen drei und vier Treppen gewesen wären! Mühselig, sich am Geländer haltend, mit ihren dicken und doch längst vom Schnee durchkälteten Schuhen große Tappen zurücklassend, keuchte Mine da hinauf. Sie wurde immer später mit Austragen fertig, wie andre Zeitungsfrauen; ja, wenn Fridchen schon so fix auf den Beinen gewesen wäre, um ein paar Häuser ganz allein zu besorgen! Aber das konnte die doch noch nicht. Als ein Polizist das Fahren mit dem Kinderwagen auf dem Trottoir verbot und das Schieben durch den hohen Schnee des Dammes zu beschwerlich war, hing Fridchen der Mutter noch wie ein Bleigewicht am Rock.

Aber wunderbar, seit das Kind mitkam, öffneten sich viele Türen weiter. Das kleine, verfrorne Ding der Zeitungsfrau fand Freunde. Wo feine Köchinnen waren, wurde freilich gleich wieder zugeschlagen, aber manche Hausfrau, die selber öffnete, spendierte eine Tasse warmen Kaffee, und auf der Treppe sitzend, teilten sich Mutter und Kind in den Genuß. Und einmal bekam Fridchen sogar einen Apfel! Zwei freundliche kleine Mädchen, Lore und Else, schenkten ihn ihr. Sie traute sich gar nicht, ihn gleich zu essen; sie brachte ihn noch nach Hause mit. –

In den Ecken der Straßen und auf den Promenaden fing man schon an, Bosketts von Tannen aufzustellen; ganze Alleen duftiger, dunkelgrüner Weihnachtsbäume wurden gerichtet.

In den Mittagsstunden fand sich Arthur dort ein, in der Absicht, den Herrschaften die Bäume nach Hause zu tragen. Aber er trug keine. Es kamen erst wenige Herrschaften, und dann waren auch andre schneller dabei, sich zum Tragen anzubieten, als er. Ehe er einen Schritt vorwärts getan, hatten die den Baum bereits gepackt und schleiften ihn davon.

An den Ecken zog es, er hatte keine Fausthandschuhe und fror erbärmlich in seinem abgeschabten Überzieher; und wegen dieses Überziehers lachten ihn die andren noch aus. Die trugen keinen, nur flauschige Arbeitsjacken, aber dicke Wollschals um den Hals und Ohrenklappen an den Mützen. Auf Arthurs breiten Hut schien es der Wind besonders abgesehn zu haben; ihn packen, vom Kopf reißen, fortwirbeln war eins, und Arthur mußte nachsetzen durch dick und dünn.

Das war der bitterste Tag für Arthur, als er eine alte Mütze seines Vaters, die dieser bei seinen Marktfuhren getragen, borgen mußte. Frau Reschke meinte zwar, sie stände dem Sohne gut, besonders so ein bißchen schief auf die Seite gerückt; aber Arthur lächelte nicht, wie er sonst wohl bei den Schmeicheleien der Mutter gelächelt, sondern sah finster drein.

Nun stellte er sich an den Markthallen auf; nicht bloß vor der nächstliegenden am Magdeburger Platz, nein, bis nach der Lindenstraße ging er, und, wenn er früh genug aufkam, suchte er die alte, wohlbekannte Stätte am Alexanderplatz auf. Dort gab's zu heben, zu schleppen, zuzureichen, wenn die großen Händler verluden. Man konnte ganz gut dabei verdienen; Arthur erinnerte sich, daß sein Vater für den Korb, den ihm einer zur Karre trug, zehn Pfennige gegeben. Als ihm aber ein dicker Schlächter, dem er ein Kalbsviertel nachgetragen, unter dessen Gewicht er beinahe zusammengebrochen war, nur zehn Pfennige bezahlte, muckte er auf. Doch nun war es, als hätte er's dadurch verdorben; jeder nahm sich lieber einen andren zu Hilfe, einen jener stämmigen Kerle mit Stiernacken und versoffenen Nasen.

Ab und zu nur ließ sich ein zierliches Dienstmädchen von dem blassen, hübschen Menschen, mit den melancholischen Augen, den Marktkorb bis vors Haus bringen und gab ihm zwanzig Pfennige; oder eine alte, jüdische Dame, der er die mächtige Schindegans nachtrug oder die Freitagsfische in der Küche ablieferte, gab ihm zehn Pfennige. Seit er aber einmal in einer stattlichen Frau mit Sammetcape und Blumenhut, die ihm eine Tasche und so und so viel Düten aufpackte, die Auguste erkannt, die früher, als sie noch Dienstmädchen gewesen, bei seiner Mutter im Grünkram gekauft, ging er nicht mehr zu den Markthallen. Wenn er auch die Mütze tief in die Stirn rückte und den Kopf senkte, er zitterte doch, daß ihn einmal eine erkennen möchte.

Nun verteilte er Reklamezettel für ein neu etabliertes Herrengarderobengeschäft, aber das machte gleich pleite; dann für ein Spezialitätentheater – ›Miß Dinora, die Dame mit dem schönsten Busen der Welt!‹ – nach einem Tage schon war die Reklame nicht mehr nötig, das Lokal war überfüllt. Er schrie auch Extrablätter aus: ›Grausige Bluttat, furchtbare Mordtat,‹ aber sein Organ reichte nicht aus, es war zu schwach, um mit seinem ›Mord, Mord‹ den Lärm der Straßen zu durchdringen.

Nun lief er die großen Geschäfte und Warenhäuser ab, da konnte man zuweilen ankommen, um den Hausdienern beim Beladen oder Abpacken der Wagen zu helfen. Fünfzig Pfennig gab's für die Stunde; jetzt um Weihnachten, in der Erntezeit der Geschäfte, war Hilfe oft erwünscht. Freilich, der Überzieher ging dabei zum Teufel, mit Schrecken sah's Arthur, die rechte Schulter und der rechte Arm zeigten gar keine Wolle mehr. Nun ließ er ihn zu Hause und lief bloß in seinem Röckchen, unter das er eine alte Häkelweste gezogen; Mine wollte ihm auch noch durchaus ihr Tuch unterbinden, aber da wurde er unwirsch.

»Bind's alleine um,« schrie er gereizt und stieß sie zurück; und doch war Besorgnis in seinem Ton und auch Besorgnis in dem Blick, mit dem er ihre Gestalt maß.

So kalt war es seit Jahren nicht gewesen, wie in diesem Winter. Der Schneefall im November hatte im Dezember aufgehört, dafür war der Boden fußtief gefroren, ein eisiger Wind zog jede Feuchtigkeit aus der Luft und schnitt wie mit Messern. Die kleinen Spatzen erfroren, und vom freien Felde kamen Raben und Krähen herein, flatterten auf die Firste der Häuser und äugelten gierig hinunter in die Höfe. Ganze Schwärme dieser hungernden Tiere durchkrächzten den Tiergarten und verkrochen sich dann irgendwo.

Mine hatte ein paar alte Kisten ergattert, die zerschlug sie zu Kleinholz und stopfte davon in den Küchenofen, wenn Arthur nach Hause kam. Das knackte und flackerte zwar, so daß Fridchen laut lachte, aber die Eisblumen am Fenster tauten doch nicht, eine undurchdringliche Wand hielten sie aufgerichtet zwischen der kleinen Welt hier innen und der großen Welt da draußen.

Mit immer schwererem Tritt und schwererem Herzen trug Mine ihre Zeitungen aus – Arthur war von neuem krank. Diesmal war es weniger der Husten, als ein heftiger Schmerz im Leibe, der ihn befallen, da er, beim Bepacken eines Geschäftswagens, einen Ballen Tuch ungeschickt aufgehoben hatte. Nun mußte er alle Tage zum Arzt; den hatte er zwar umsonst, aber die Einreibung kostete doch, und schwer zu heben oder zu tragen, hatte ihm der Doktor für lange Zeit streng verboten.

»Ich bin un bleibe 'n Schwachmatikus,« stöhnte Arthur. »Ich bin schön aufgeschmissen!« Seine Mutter wollte er gar nicht sehen. Als die Sorge um den Sohn Frau Reschke in die kleine Wohnung trieb, wo sie sich sonst kaum sehen ließ, schleppte sich Arthur, so rasch er konnte, in die Kammer, schmetterte die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel um.

Die Reschke klopfte: »Athur, mach man uf! Athur, ik bin et ja!«

In der Kammer rührte sich nichts.

»Athur, Athur! Hörste denn nich? Ik – deine Mutter! Athur!«

Er mußte sie gehört haben, und doch öffnete er nicht. Nicht einmal eine Antwort gab er.

»Er will gar keenen sehn,« sagte Mine, die dabei stand und verlegen an ihrer Schürze zupfte, gleichsam zur Entschuldigung.

Die Reschke weinte.

Als sie gegangen war, machte Mine ihrem Mann Vorwürfe. »Warum biste denn so? Du hätt'st ihr wohl reinlassen können. Kuckste, so stand se hier, un so'ne Augen machte se, un kloppte un lauerte. Se hat mer in der Seele erbarmt.«

»Sei stille,« murrte er, »fängste auch an? Ich will se nich sehn!«

»Aber warum denn nich?«

»Weil ich nich will!« Und damit drehte er sich im Bett, in das er sich in der ungeheizten Kammer geflüchtet hatte, herum und kehrte das Gesicht gegen die Wand. Aber nach ihrer Hand faßte er blindlings und hielt die fest; Mine mußte auf dem Bettrand bei ihm sitzen bleiben.

Arthurs Leiden besserte sich insoweit, daß er bald wieder herumlaufen konnte. Da erinnerte er sich einer Gewohnheit seiner Junggesellenzeit, jenes einzigen Jahres, in dem er, wie er halb scherzhaft sagte, einmal nicht gegängelt worden war. Damals, als er in Berlin umhergeirrt, hatte er sich einen Verdienst, sogar noch einen Spaß daraus gemacht, nachts vor den öffentlichen Ballokalen Posto zu stehen, Droschken herbeizuholen und vor den seidenbeschuhten Füßchen der Tingeltangeleusen und Halbweltdamen den Schlag aufzureißen. Die geizten nicht.

Und so machte er sich denn auch jetzt jeden Abend, wenn Mine längst im Bett lag und schlief, dahin auf.

»Du, Leo, jib dem armen Kerl doch mal 'n paar Jroschen,« sagte eines Morgens gegen vier eine gähnende, goldblonde Person zu ihrem Begleiter, einem eleganten Herrn mit Ansatz zu Embonpoint und bläulichen Schatten auf den glattrasierten Wangen und dem vollen Kinn. Und indem sie den pelzbesetzten, roten Mantel mit einem leichten Schauder fester um die Schultern zog, setzte sie ungeduldig hinzu, als sie ihn noch in seinem Portemonnaie wühlen sah: »Na, jib schon, wer weiß, in was for 'nem Keller der klaut!«

Die Stimme war Arthur bekannt vorgekommen, auch manches in der Haltung – das Frauenzimmer erinnerte an Trude. Na, wenn schon! Ohne sonderlich davon erregt zu sein, schlich er nach Hause; er hatte nur den einen Gedanken: etwas Warmes trinken und dann schlafen. Alles andere war ihm egal.

Zum ersten Mal konnten sie die Miete nicht bezahlen, pünktlich waren sie freilich im November auch schon nicht gewesen; und beim Bäcker hatten sie sechs Mark und beim Kaufmann fünf Mark Schulden. Mine traute sich nicht mehr, selber einzuholen, Fridchen wurde mit einem Zettel herein geschickt, während die Mutter in der nächsten Haustürnische wartete. –

Der heilige Abend nahte. Die Schaufenster zeigten immer verführerischere Auslagen. Am letzten Sonntag vorm Fest ging Mine mit Fridchen bis auf die Potsdamerstraße, um ihr die Läden zu zeigen. Das Kind staunte mit großen Augen und offnem Mund; es war außer sich vor Glück und weinte, als die Mutter nun endlich nicht mehr vor den Lockenpuppen und den warmen Mäntelchen und Mützchen und Müffchen stehen bleiben wollte.

Das heranrückende Weihnachtsfest schien aber nicht bloß die Geldbeutel, nein, auch die Herzen zu öffnen: Mine bat nie um etwas, und doch bekam sie Geschenke.

»Es wird am Ende noch ein Christkindchen,« sagte eine heitre, hübsche Dame, die Mutter der zwei kleinen Mädchen, Lore und Else, die Fridchen einmal den Apfel geschenkt. Sie nahm immer selber den Lokalanzeiger ab und gab nun der Zeitungsfrau Windeln und ein Jäckchen und zwei Hemdchen von ihrem Jüngsten.

»Daß de dich über so'n zusammengeschnorrtes Zeug noch freuen kannst,« brummte Arthur, als Mine nach Hause kam und ihm ganz glückselig die kleinen Sachen wies. »Nimm se weg,, was soll der Dreck?!«

Sie strich förmlich zärtlich die Hemdchen glatt, die er unsanft auseinandergerissen, und verwahrte alles sorgfältig; aber auf ihrem Gesicht war der Freudenschein erloschen. Daß der Arthur doch gar kein Herz für das zu Erwartende hatte! Sie hatte sich auch zuerst nicht gefreut, wahrhaftig nicht, aber nun war doch in ihr Herz ein Schimmer freundlicher Erwartung gekommen. – – – – – –

›Und siehe, der Stern stund oben über, da das Kindlein war. Und sie gingen in das Haus und fanden das Kindlein, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhen.

Und der Engel sprach: »Siehe, ich verkündige euch große Freude!«‹ – – – – – – – – – – – – – – –

Das hatte Mine aufgesagt zur Weihnachtszeit, als sie vor vielen Jahren, im gestriegelten Flachshaar, auf der niedrigen Holzbank, in der mollig warmen Schulstube gesessen. Jetzt, nach all der Zeit, fiel's ihr auf einmal wieder ein. Eine Hoffnung erwachte in ihr.

Und sie lag die lange Winternacht in ihrer kalten Kammer und bewegte diese Worte in ihrem Herzen.


 << zurück weiter >>