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Mine hatte keine Hoffnung mehr. Es war der letzte Abend vor ihrem Dienstaustritt. Sie saß in der Küche, den Ellbogen auf den Tisch gestemmt, den Kopf in die Hand gestützt.
Herr und Frau Biek waren zu Hause; drinnen im Zimmer erklang lustiges Gelächter, lustiger als das Trillern des Kanarienvogels. Es waren doch gute Leute! Vorhin war Herr Biek draußen gewesen und hatte ihr schon den letzten Lohn ausgezahlt; morgen, wenn er von der Bank kam, sah er sie vielleicht nicht mehr, das neue Mädchen sollte schon mit dem Frühesten aufziehn. Er hatte ihr noch fünf Mark über den Lohn auf den Küchentisch gelegt und gesagt: »Sie sind immer sehr aufmerksam gegen meine Frau gewesen. Sie hätten jahrelang bei uns bleiben können – schade!«
Da hatte sie weinen müssen, weinen ohne Unterlaß. Jetzt hatte sie keine Tränen mehr; alle ausgeweint. Morgen um diese Zeit stand sie längst auf der Straße – ja, auf der Straße. Wenn es nur gutes Wetter war, daß ihr der Korb nicht verregnete! Sie wußte ja nicht einmal, wo sie den unterstellen sollte. Bei Arthur?! Ach, der konnte sein Zimmer nicht beibehalten, wenn er keine Stelle mehr hatte. Bei Reschkes?! Die hatten sie ja herausgejagt. Bei Bertha –? Halt, das war noch ein Gedanke! Die war von zu Hause, die ließ die Kameradin nicht im Stich. Wenn sie sich noch heute abend aufmachte und die fragte?
Schwerfällig erhob sie sich und pochte an der Stubentür; sie würden ja nichts dawider haben, wenn sie ausging, aber sagen wollte sie's doch wenigstens. Drinnen ein Geplauder, ein Gekicher; ihr Klopfen wurde gar nicht gehört. So machte sie sich leise davon.
Heut war ein linder, milder Abend, ein Abend, der vollen Frühling verheißt. Unter den alten Bäumen der Potsdamerstraße duftete es; es war, als hätten all die braunen Blattknospen Leben bekommen. Tief im Baum regte sich's, ein Treiben, ein Schwellen – es drängte zum Licht.
Als Mine dahin schritt, fühlte sie's in ihrem Schoß sich regen, eine treibende Unruhe, ein mahnendes Klopfen – es drängte zum Licht.
Sie dachte plötzlich an zu Hause. Einer Vision gleich sah sie durch die frühlingsfeuchten Äste hindurch, die Laternenschein silbrig beglänzte, weit, weit die Heimatflur. Da tat die Erde jetzt ihren Schoß auf, da roch der Acker kräftig nach Nahrung und Gedeihn. Junge Saat schoß auf, frühlingsgrüne, hoffnungsfrische Saat, und aller Blicke hingen daran mit Freuden.
Sie machte sich das Bild gar nicht klar, aber sie empfand's unbewußt, mit einem dumpfen Schmerz: ihre Saat würde niemand mit Freuden begrüßen.
Immer langsamer, immer schwerer wurde ihr Schritt. Nun war sie am Selingerschen Hause; sich an der Portierloge scheu vorbeidrückend, schlich sie über den dunklen Hof, die Hintertreppe hinauf. Wenn nur nicht die Köchin da war! Vor der genierte sie sich.
Noch war sie nicht ganz oben, so hörte sie schon lautes erregtes Sprechen.
»Das is 'ne Niedertracht,« schrie Berthas Stimme, »wie können Se sich unterstehn un zu ihr sagen, ich hätte eins von die Törtchen genommen?! Ich weiß gar nich, wieviel es waren. Wenn aber eins von die Törtchen fehlt, haben Sie's genommen, Sie mit Ihrem großen Maul!«
»Nanu,« schrie die Köchin dagegen, »halten Se man Ihre dreckigte Schnauze, sonst wer' ich de Herrschaft janz andre Dinge von Ihnen stecken, Sie scheinheilige Schmeichelkatze, Sie! Wer schleckt denn immer rum? Ich habe schon fufzehn Jahr in hochherrschaftliche Häuser jedient, ich habe det Zeugs schon so ville unter jehabt, ich mag's jar nich mehr. Un da kommt man noch hier in Verdacht, un muß sich von der Ollen sagen lassen, man wär 'ne Naschliese! Nu wird's Tag! Meinen Se, ich hätt Ihnen neulich nich gesehn, 's Büfett mit 'n andren Schlüssel ufschließen un bei de Finessen jehn?!«
»Marie!« Bertha schrie hell auf.
»Ja, kriegen Se man 'nen Schreck, ich weiß allens. Ihnen hab ich längst uf 'n Strich. Sie waren so beim Schlecken, keen Hören un keen Sehn. Laß de Olle mir nur noch mal kommen, der wer' ich schon Bescheid jeben. Un mit die andren Köchinnen, warum die so viel jewechselt haben, det weiß man nu auch!«
»Ich sag es Frau Selinger, daß Sie 'n Kind haben! Ich sag es, daß Ihr Bräutigam nachts –«
Klatsch schallte eine Ohrfeige.
»Sie können noch eene kriegen, wenn's jefällig is! Mein Bräutigam trägt hier nischt weg, der nimmt nischt, wie andre Leute. Sie wollen noch über andre reden – Sie?!«
Schmetternd fiel drinnen eine Tür ins Schloß.
Mine klopfte an.
Bertha öffnete; ihr Kopf war rot, ordentlich aufgequollen, ihre Augen fuhren unruhig umher. »Was willste?« fragte sie hastig.
»Ach, Bertha,« sagte Mine, noch ganz verdutzt von dem Gehörten und setzte rasch den Fuß zwischen die Tür, denn es schien, als wollte Bertha gleich wieder zumachen.
»Na, was is denn los? Rasch, ich hab keene Zeit!«
»Ach, Bertha, ich muß der was sagen – mir geht's nich gutt – ne, sehr schlecht!«
Sie stockte; Bertha hörte so gar nicht hin, immer drehte sie den Kopf und horchte in die Wohnung zurück. Jetzt war wohl die Zeit schlecht gewählt, Mine fühlte das; aber konnte sie denn warten?
Mit einem Entschluß äußerster Bedrängnis stieß sie heraus: »Nimm mer meinen Korb in Verwahr! Se haben mer ufgesagt – 'ne neue Stelle hab ich nich, krieg ich ooch nich, ich bin« – zitternd holte sie Atem, es wollte ihr doch nicht über die Lippen – »ich bin – ich bin – ach, siehste! Nimm mer meine Sachen, bis ich weeß, wohin dermit! Gott im Himmel, wo soll ich hin?!«
Das war ein Verzweiflungsschrei, den die Steinwände des Flurs widerhallten.
Bertha blieb eiskalt. »Ja,« sagte sie und zuckte die Achseln, »das hätt ich der im voraus sagen können, daß 's so kommt! Deinen Korb, o ja, den würd ich wohl nehmen, aber wer weiß, ob ich selber noch lange hier bin?!« Sie sah sich wieder unruhig um. »Ich glaube nich. Un wenn schon, denn schon, je eher je lieber weg! Deinen Korb mußte wo anders unterstellen.«
»So rumschupsen – de guten Sachen!« wimmerte Mine und senkte den Kopf auf die Brust.
Berthas Blick überflog die gebeugte Gestalt; dann sagte sie, von einer flüchtigen Mitleidsregung blitzschnell durchzuckt: »Warte man, Mine, dein Geld! Ich hab der ja noch immer nich de ganzen zehn Mark wiedergegeben, dreie waren noch Rest! Da haste fünfe, du wirst se brauchen!«
Und ehe Mine etwas erwidern konnte, murmelte Bertha: »Ich hab jetzt keene Zeit – adjö!« Und sperrte ihr die Tür vor der Nase zu.
Wohin – – –?!
Zerrissenes Nachtgewölk überjagte den Himmel, ein linder Regen feuchtete jetzt die Erde.
Keine Zuflucht, so spähend sie auch mit brennenden Augen um sich stierte. So lange sie noch ein paar Mark hatte, da ging's ja noch, irgend jemand würde sie aufnehmen – aber dann – dann?!
In einem jähen Entsetzen versagten ihr die Füße; sie sank auf die Steintreppe eines Hauses nieder. Ein Hund, der herrenlos umherstrich, kam und schnoberte um ihre Füße. Sie wagte es nicht, ihm einen Tritt zu geben. Wie Halt suchend, griff sie um sich und krampfte dann die Hände ineinander. Sie wollte weinen und konnte nicht, ihr Gesicht verzog sich kläglich. Immer tiefer senkte sie den Kopf, sie kauerte sich ganz zusammen.
Mine merkte es nicht, daß sie den Vorübergehenden auffiel; erst als der Portier des Hauses heraus kam: »Sie, was setzen Se sich denn hier so hin?« schreckte sie auf. So rasch sie konnte, lief sie davon, ohne Antwort zu geben.
Wie weit sie gelaufen, wußte sie gar nicht; längst lag die Göbenstraße hinter ihr. Dies waren jetzt dunklere, einsamere Straßen. Immer weiter trottete sie, in einer sinnlosen Angst, nur hinein ins Dunkel, immer tiefer hinein, wo sie keiner sah.
Sie schwitzte und fror zugleich. Plötzlich fingen die Häuserreihen zu beiden Seiten an zu schwanken, die Lichter tanzten hin und her, der Boden unter ihren Füßen schaukelte, vor ihren Augen war Finsternis, in ihren Ohren betäubendes Rauschen. Mit einem Stöhnen umschlang sie den nächsten Laternenpfahl und suchte sich daran festzuhalten. – – – – – – – – – – – – –
»Fehlt Ihnen was?« fragte plötzlich eine Stimme.
Da standen auch schon eine ganze Menge Menschen um sie her.
»Jotte doch, die arme Frau,« sagte ein junges Mädchen. »Ich wer rasch en Jlas Wasser holen!«
Aus dem nächsten Keller brachte ein Mann einen Stuhl. »Setzen Se sich man!«
Verschiedene Hände drückten sie nieder.
»Haben Se Hunger?« »Haben Se sich weh jetan?« »Ne, was is Ihnen bloß?« »Soll ich Se nach de Unfallstation bringen?« So brauste es um Mine herum.
Die Stimmen waren ihr schrecklich; sie schämte sich so sehr. »Danke,« murmelte sie scheu. Und dann raffte sie sich auf mit einer verzweifelten Kraftanstrengung und wehrte die Leute ab, die sich um sie drängten, und zwang sich, auszuschreiten, und ging stracks davon.
War die eingebildet! Die Mitleidigen ließen sie laufen.
Aber Mine taumelte noch; sie wäre gefallen, hätte sich nicht eine Hand unter ihren Arm geschoben. Eine weiche, etwas verschleierte Stimme sagte gutmütig: »Jottchen, aber nei, wenn ei'm so was passiert, mitten auf de Straß! Un denn jleich all die Leute! Ich will Sie gern nach Haus' bringen, wo wohnen Sie denn?«
Mine zitterte, die andre sah ihr besorgt ins Gesicht.
»Ach Herrjeh, Jottchen, Manschenskind, nu erkenn ich Ihnen erst! Wir haben uns ja öfters bei de Reschken im Keller gesehn! Sind Se nich de Nichte? Dacht ich doch schon heut morgen, wie 'ne Spinne über de Wand lief, daß mir was Besondres bevorstand. Aber auf Ihnen hab ich's mer nich jedeutet! Kennen Sie mer nich? Ich bin ja de Mathildchen, die bei Hauptmanns jedient hat! Jottchen, Se müssen mer doch auch kennen – de Mathildchen!«
»Ja, ja!« Mine lächelte matt, und dann drückte sie der Mathilde krampfhaft die Hand. »Bringen Se mer weg – bitte! Ich bin so – so –«
Ein trocknes Schluchzen, das sie nicht unterdrücken konnte, ließ sie nicht aussprechen. Stumm klammerte sie sich an Mathilde.
Und diese sagte, indem sie den Arm der Erschöpften fest an sich drückte: »Kommen Se rauf bei mer! Ich wohn hier jleich bei, wo's nach's Tempelhofer Feld jeht, im Hof, vier Treppen. Wenn's Ihnen nich zu hoch is? Na, denn kommen Se man erst mal da rauf!«
In dem kleinen erbärmlichen Zimmer der ungeheuren Mietskaserne, die Proletarier bewohnten vom Boden bis zum Keller, erzählte Mine ihre Geschichte. Sie erzählte weitschweifig, mit vielen Wiederholungen, jede Kleinigkeit fiel ihr ein. Wie ein eiserner Reifen löste es sich ihr vom Herzen. Es war das erste Mal, daß sie sich aussprach.
Die Mathilde hatte ihr den einzigen Stuhl angeboten. Sie selber saß auf ihrem Korb, hatte die bebenden Hände Mines zwischen die ihren genommen und sah mitleidig drein mit ihren verträumten Augen. Zuletzt weinte sie.
»Jottchen, Jottchen, ja so jeht's unsereinen! En Kind, – un denn – denn hat er mit meine Schwester Bekanntschaft jemacht, und die war ja nu jünger und hübscher. Un denn hat er mir sitzen lassen. Ich bin ja nich bees, er liebt mer noch immer. Un des Buchchen sagt ja auch, daß sie stirbt, un daß er mir denn nimmt – un bald – ich wart schon 'ne Weil!« Sie schwieg und träumte vor sich hin.
Mine schwieg auch, sie waren jede in ihre besondren Gedanken vertieft.
»Wo haben Se denn das Kind gelassen?« fragte Mine plötzlich aus ihren Gedanken heraus.
»Das Kind? Was für'n Kind? Ach so, das Kind! Ja, 's war man nur so en janz kleines Kindchen, der liebe Jott hat's zu sich genommen. 's war das baste für das liebe Engelchen – un auch für mich. Nu konnt ich doch wieder in Dienst jehn!«
»Un ich – –?!« Mine rutschte vom Stuhl und lag vor der andren auf den Knieen. »Ich weeß nich, wohin!«
Ihr Kopf fiel in Mathildes Schoß; diese strich ihr sanft die zerzausten Haare glatt.
»Aber nei, Trautste, nei, Sie müssen nich verzagen! Stehn Se man auf, setzen Se sich – so – warten Se, ich wer' Ihnen e Täßchen Kaffee wärmen!«
Geschäftig gab sie sich daran, in dem kleinen Eisenofen, der ihr zugleich als Kochherd diente, ein Feuerchen anzumachen mit ein paar zerbröckelten Preßkohlen und Papier. Dazwischen schwatzte sie in einem fort, halblaut, als ob sie zu sich selber spräche: »'s wird ja all alles gut, man ruhig, wir fragen's Buchchen, was das sagt, wird wahr, man immer Kopf oben!«
Verlangend sah Mine sich im Stübchen um; von einem kleinen Küchenlämpchen mit Messingschild war es erhellt, auf dem Tisch stand ein Nähkasten, daneben lag ein halbfertiges Männerhemd. Am Fenster, halb verschleiert von dem dünnen Gardinchen, grünte ein krauser üppiger Myrtenstock. Kein Laut der Straße kam hier herauf, still war das Stübchen und traulich, trotz seiner kahlen Wände.
Mathilde trippelte geschäftig hin und her; jetzt goß sie den Kaffee in ihre Staatstasse, in die schöne goldgeränderte, die ihr einmal auf einer guten Stelle die Kinder zum Geburtstag verehrt. ›Sei immer glücklich‹ stand darauf.
Sie brachte auch eine Schrippe und ein wenig Schmalz in einem zerbrochenen Schälchen. Freundlich nötigte sie Mine und führte ihr selbst die Tasse an den Mund.
»Trinken Se, trinken Se! Kaffee hält Leib und Seele zusammen. Ich trink welchen morgens, zum Mittagessen un abends. Da hat man auch immer was Warmes im Leib. Meine Mutter selig sagte schon immer: ›Mathildchen, trink Kaffee, der bekommt dich! Der is 'ne Himmelsjabe!‹ Un denn prophezeite sie aus'm Kaffeesatz. Das war nu alte Mode, unsereins is mehr fürs Jedruckte!«
Mine schlürfte den dünnen, nur hellbraun gefärbten Trank und empfand ihn als eine große Wohltat. Sie fühlte sich belebt, frischer, eine Ahnung von Hoffnung stieg wieder in ihr auf. »Ach, wenn ich hier bleiben könnte,« seufzte sie leise.
»I, das können Se doch,« sagte Mathilde schnell. »Ich hat nur keine Traute, 's Ihnen anzubieten. Ich weiß ja nich, wie lang es noch dauert, bis ich mer verändre. Sehen Se« – sie hob das halbfertige Hemd vom Tisch – »das is das siebente; ich näh ihm en janzes Dutzend! Meine Aussteuer is längst fertig!« Mit stolz strahlendem Gesicht wies sie auf eine Kiste unter ihrem Bett. »Aber kommen Se man immer ruhig, 'ne Anstandszeit muß man doch immer erst abwarten.«
»Kann ich – kann ich morgen kommen?« stammelte Mine. Dann küßte sie Mathilde. »Ich wer' Sie das nie vergessen! Ne, was Sie an mer tun!«
Mathilde lachte. »Aber nei, meine Baste, reden Se doch nich so! Man wird sich doch nich im Stich lassen. 's Bette is schmal, aber wer werden uns schon vertragen. Mehr kann ich ja nich bieten, das Leinenzeug, die janzen Sachen haben viel jekostet, un denn ohne Stellung! Da is das Ersparte weg. Aber ›er‹ hat sein jutes Auskommen!« – – – – – – –
Mine empfand nicht mehr das Drückende ihrer Lage. Sie fühlte sich wie erlöst, sie wußte nun ›wohin‹.
Ohne Sang und Klang schied sie am andren Nachmittag von Bieks. Der Herr war im Kontor, die junge Frau, die ihren Mittagsschlaf hielt, hatte ihr durch das neue Mädchen heraus Adieu sagen lassen. So ging sie denn mit Mathilde, die vor der Hintertür wartete, um den Korb tragen zu helfen, ab.
Gern hätte sie Arthur noch gesprochen, oder wenigstens Grete, um ihm durch die etwas bestellen zu lassen; aber kein Mensch zeigte sich vor der Blaulackierten, auch traute sie sich kaum in die Nähe des Kellers. Zögernd, mit einem langen, schweren Blick, ging sie auf dem jenseitigen Trottoir vorüber. Wie mochte es ihm gehn?! Ob er wieder zu den Eltern zog, nun, da er nichts verdiente?! Sie nahm es ihm gar nicht übel, daß sie seit dem Sonntag nichts von ihm gehört; das war ganz selbstverständlich, er mußte ja auch erst sehen, wie er unterkam. Sowie sie sich eingerichtet, würde sie ihm eine Karte schreiben: ›Ich bin gutt untergekommen, besuch mer, so bald wie du kannst, auf ewig deine Mine.‹ –
Als sie das Ende der Göbenstraße beinahe erreicht hatten, kam eine Droschke angerattert. Eine schöne polierte Kommode schwankte neben dem Kutscher auf dem Bock; drinnen im Fond saß Bertha, umgeben von Kartons und Paketen. Als sie Mine erkannte, ließ sie halten und sprang heraus. Sie war fieberhaft aufgeregt, ihre Augen funkelten, ihre zusammengezogne Stirn war hoch gerötet.
Sie lachte, gezwungen und gellend. »Na, ihr zieht? Ich bin ooch ausgerückt! Das wurde mich denn doch zu bunt! Hahahaha! De Köchin nascht und schiebt es mir in de Schuh – da fehlt so'n lausiges Törtchen – un de Selingersche glaubt ihr! Hatten gestern abend noch riesigen Krach zusammen, ich un die Selingersche. Na, was ich der de Meinung gesagt habe! ›Meinen Sie,‹ sagt ich, ›man könnte von Ihren ausgekochten Rindfleisch un den ungesalznen ungeschmalznen Rüben, die bei uns ze Hause 's Vieh frißt, satt werden?! Ich bewundre mir selber, daß ich so lange ausgehalten habe. Sie kriegen ja gar kein anständiges Mädchen mehr, schon von wegen den Herrn Sohn nich!‹ Da sah sie mer an, als wollt se mer fressen, zog die Nase hoch und sagte so von oben runter: ›Was hat mein Sohn mit euch zu tun?‹
»›Oho,‹ sagt ich ganz dreiste, ›sehr viel, und das läßt sich kein anständiges Mädchen nich gefallen! Ich kündige gnäd'ge Frau hiermit.‹
»Da hättet ihr sehen sollen! Fuchswild wurd se. Gleich gehn könnt ich, schrie se. ›Auf der Stelle!‹ Sie weinte fast vor Wut. Erst war ich ja ooch giftig, aber denn mußte ich lachen, se ärgerte sich doch noch viel mehr, wie ich. Un ich sagte: ›Nein, gnäd'ge Frau, gleich nich, aber morgen!‹
»Da schrie se wieder, ich müßte bis zum fufzehnten bleiben, vierzehntägige Kündigung wäre abgemacht!
»Aber ich sagte: ›Ne, gnäd'ge Frau, wo man mer so beleidigt, bleibe ich nich länger! Un denn, gnäd'ge Frau haben doch eben selber gesagt, ich könnte gleich gehn. Ich bin nich Ihr Sklave!‹
»Se war ganz aus 'n Häuschen – wo soll se denn nu uf den Plotz 'ne andre so Gewandte herkriegen? Un so zankten wer uns denn noch 'ne Weile rum, bis uf 'n Mal der Leo erschien. Ich kriegt doch 'n Schreck. Aber er tat sehr süß un wollte de Sache beilegen. Aber als ich ihn so salbadern hörte, kriegt ich 'n Kribbel, ich hätt ihn ins Gesicht spucken können. Ne, wurd ich wütend! Wie er mir gepisackt hat! Un ich schmeiße ihm alles haarklein vor, haste nich gesehn!
»Nu denkt ihr wohl, die Gnäd'ge wäre sehr außer sich gewesen?! I wo, Se drohte ihm nur 'n bißchen mit 'n Finger: ›Aber, Leo!‹
»Un er grinste übers ganze Gesicht un sagte: ›Hör dir doch nicht länger das Mägdegeschwätz an! Was willst du dich ärgern, Mama!‹
»Un sie sagte: ›Solch 'ne verlogene Person! Du hast ganz recht, mein Sohn! Komm!‹
»Aber im Zeugnis hat se mer's gut besorgt, da hat der Leo noch bei geholfen. Na warte!«
Bertha zitterte vor Erregung. »Un daß mer sich das gefallen lassen muß!«
»Jeses, un nu haste noch keene neue Stelle,« sagte Mine.
»Ach darum! De Reschke muß mer so lange loschieren, bis ich was gefunden hab. Das is nich schlimm. Ich wer' mer aber de Leute vorher ordentlich ansehn! Haha! Sie besehn uns ja auch von hinten un von vorn. Na, wo ziehst du denn hin? Sag's doch, wenn mer der etwa mal besuchen will!«
Mine gab ihr die Hand. »Wenn de mer besuchen willst, wird mer'sch sehr freuen! Ich zieh einstweilen bei de Mathilde draußen in die Colonnenstraße. 's letzte Haus, Hof, vier Treppen. Gradezu kuckt mer ufs Tempelhofer Feld.«
»He, Sie da, Jungfer,« rief der Kutscher und knallte mit der Peitsche, »bald auserzählt? Schade, det ik nich 'n Stuhl offerieren kann!«
»Sie plagt wohl de Neugier?« erwiderte Bertha schnippisch und hüpfte in den Wagen zurück. »Na, denn man los! Nummer achte!«
Mit einem hellen Gelächter fuhr sie davon.
Langsam, schwer an ihrer Bürde tragend, setzten die beiden andren ihren Weg fort.