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Das erste Gewitter des Frühjahrs war niedergegangen. Am Mittag hatte die Sonne auf den Asphalt geprallt und mit Strahlen, gleich Schwertern, gestochen. Was da konnte, hatte den Schatten gesucht. Jetzt am Abend, da die Sonne sich längst hinter schweren Wolken verkrochen, war es wieder eisig kalt. Jede Wärme schien mit Donner und Blitz entwichen, eine regenfeuchte, dunkle Nacht hing über den Straßen.
Grete kauerte auf der Eimerbank in der Küche.
Den ganzen Tag war sie krank gewesen. Schon am frühen Morgen hatte ihr Herz wild gepocht, als wollte es die Wölbung der Brust sprengen, ein immerwährendes Zittern hatte sie überflogen; ihre Glieder, schwer und lahm, gehorchten ihrem Willen nicht. Zuletzt war sie auf dem Küchentischbett zusammengebrochen, hatte Stunden in einer dumpfen Abspannung gelegen und beim ersten Donnerschlag bebend und entsetzt den Kopf im Kissen versteckt.
›Denk an die Ewigkeit! Du mußt sterben!‹
Nie waren ihr diese Worte, die in flammendem Rot die Saalwand der Heilsarmee zierten, flammender erschienen. Sie las sie in jedem Blitz, der die Nacht des Kellers durchzuckte; sie hörte sie in jedem Donner, der alles Getöse der Straße überschrie.
Weinend, betend, zitternd lag sie in undurchdringlicher Finsternis. Bei jedem Blitz, bei jedem Donnerschlag zuckte ihr armer Leib, Angstseufzer entrangen sich ihren bleichen Lippen, fiebernde Glut und fröstelnde Kälte überjagten sie. Sie fürchtete – heut, jetzt, in dieser Minute kommt das Gericht! – Sie fürchtete, ach, nicht für sich!
Ein unwiderstehlicher Drang trieb sie zu den Ihren. Als die Mutter zufällig in die Küche kam, haschte sie nach deren Kleid. »Mut – terken!«
»Ja, wat willste? Fürchtste dir ooch? Schauderhaftet Wetter! Nu kommt keen Aas in 'n Laden, traut sich ja keener raus. Ik bleibe sitzen uf all den Spinat und de Rhabarberstengel. Wie det pladdert! Hör uf!« Mit der Faust drohte sie nach oben.
»Mutter!« Das war ein entsetzter Aufschrei, aber die Reschke hörte schon nicht mehr, laut räsonierend hatte sie die Küche verlassen.
Als das Gewitter ausgegrollt, fühlte sich Grete wohler.
Jetzt saß sie schon lange auf der Eimerbank und lauschte dem eintönigen Plätschern des Regens. Das Plätschern klang, wie ein Wiegenlied, so sanft, so einlullend, immer dieselbe Melodie – sacht, sacht – dem einsamen Mädchen fielen die Augen zu.
Grete schlief nicht, sie träumte nur. – – – – Horch, Klänge der Heilsarmee! Jubelnde Stimmen Geretteter! Sie wallen durchs Perlentor, in Kleidern weiß wie Schnee; ausgetilgt sind alle Flecken, ausgewaschen alle Schuld, Schande und Sünde im herrlichen Strom des Heils.
Und die Auserkornen, sie, die vornan stehen am Thron, lächeln und winken. ›Halleluja, es ist auch Sieg für dich! Rette deine Seele, rette Seelen, rette, rette!‹
»Oh – –!« Grete streckte im Dunkel der Küche die Hände aus – sie wollte auch Seelen retten, wie gern, o wie gern! Wer ihr doch glaubte! Wenn sie doch erzählen dürfte, ›die wunderbare History – von Jesu und seiner Glory!‹
Entschlossen, in einer Begeisterung, die sie kühn machte, stand sie auf. Da ging die Tür, Mutter Reschke erschien mit Elli, ein Lämpchen in der Hand. »Nanu, noch in Dunkeln, olle Nachteule?« Es sollte scherzhaft klingen, aber schon bei dem rauhen Stimmton zuckte das Mädchen, empfindlich berührt, zusammen.
»Hier haste Licht. Un nu mach Feuer an und wärme Vatern det Übrigjebliebne von Mittag. Un denn jibste ihm noch eenen von de Matjeshäringe, die obenuf in de Kruke liegen. Die müssen weg. Du kannst dich ooch 'n halben nehmen. Ik jehe mit Ellin noch 'n bißken fort.«
Nun sah Grete, Elli war im Putz.
»Ich soll singen,« rief die Kleine stolz und drehte sich. »In 'n Jrünkram oben in de Straße feiern sie Jeburtstag. In Schule muß ich auch immer vorsingen, von die andren kann keine so jut.«
»Det jloobe ik woll!« Mutter Reschke strich ihrer Jüngsten über das gewellte Blondhaar. »Sehr nobel von die Konkurrenz, det se uns injeladen hat – na, Kunststück! Det is ja nur wejen Ellin. Na, ik sage, du wirst scheene Ferore machen!«
»Mutter!« Grete faßte in krampfhafter Entschlossenheit nach dem Arm der Mutter, ihre wachsbleichen Wangen wurden glühendrot. »Mutter,« stieß sie mit aller Anstrengung heraus, während ihre Augen, stumm flehend, baten. »Ich – kann – auch – was – Schönes – singen!«
»Ach, du bis woll verrückt! Dir versteht man ja nich!«
Elli kicherte.
In Gretes Augen erlosch jäh aller Glanz, die Röte wich aus ihrem Gesicht, scheu zog sie die Hand von der Mutter Arm; all ihr Mut war fort. Tränen schossen ihr in die Augen; schüchtern wich sie ein paar Schritte zurück.
»Na, sei man nich futterneid'sch!« Die Reschke war heute abend, in Aussicht auf das Geburtstagsvergnügen, guter Laune und strich auch Grete über den Kopf. »Was du for'n storres Haar hast jejen die Elli. Na, adje, Jrete!«
Sie gingen. Grete und ihr Vater waren allein im Keller.
Der Alte saß in der Sofaecke, hinter der mit einer Zeitung verhängten Lampe, ganz in stummes Brüten versunken. Als Grete heranschlich und leise den Teller mit Essen vor ihn hinschob, überflog ein freundlicher Schein sein stoppliges Gesicht. »Biste da, Trudeken?«
Grete schmiegte sich an ihn. »Vaterken!«
»Ach du,« sagte er enttäuscht, aus seinen Träumen auffahrend. »Na, setz der man, Kind, un iß!«
Aber Grete konnte nicht essen. Als beim Ton ihrer Stimme so plötzlich der helle Schimmer in des Vaters Gesicht erloschen, hatte sich ihr Herz schmerzhaft zusammengekrampft. Lautlos huschte sie zur Glastür hinaus in den leeren Laden, hinter die große Rolle. Da verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und weinte.
Draußen plätscherte der Regen, eintönig, einlullend; hier im Laden konnte sie sein Rauschen noch besser verstehen. Es wurde zum Lied, zum vollen Chor seliger Stimmen:
›Durchs Perlentor, da ziehn wir ein,
Ein heilig mächtig Heer –‹
Hin, hin! – – – –
Grete fuhr auf, ihr Blick streifte die dunklen Wände – nein, fort, hier konnte sie nicht bleiben, sie mußte zu jenen, die da singen! Zu jenen, die da siegen, die da einziehn durchs Perlentor! Fort aus dem öden, finstren Keller, aus dem Verachtetsein zur Herrlichkeit!
Scheu sah sie sich um, schlich auf den Zehenspitzen zur Glastür zurück und lauschte. Der Vater schlief in der Sofaecke wie alle Abend, sie hörte sein Schnarchen.
Es hielt sie keiner zurück. Hin, hin!
Nur so viel Besinnung hatte sie noch, ein Tuch, das achtlos hingeworfen lag, aufzuraffen und um die Schultern zu schlingen. Dann huschte sie fort.
Sie stürmte die Kellertreppe hinan, die Stufe mit der verräterischen Klingel überhüpfend. Auf einmal hatte sie Kräfte; sie fühlte sich gesund.
Draußen strömte der Regenguß.
Schon blies der Trompeter vor der Kaserne in der benachbarten Großgörschenstraße: ›Zu Bett – zu Bett!‹
So spät?! Sie rannte eiliger.
Noch nie hatte sie so wenig Zeit zu dem Weg nach der Bahnstraße gebraucht – da war schon der Bretterzaun! Sie keuchte an ihm entlang, dem Regen, dem Wind entgegen, der ihr den Atem raubte. Nur rasch, rasch!
Jetzt ging es doch nicht mehr so geschwind, der Bretterzaun war endlos – da – eine trübe, im Wind flackernde Laterne zeigte kaum das Eingangspförtchen.
Sie stolperte hastig hindurch, von innen trat ihr jemand entgegen, eine weibliche Gestalt in Heilsarmeetracht.
»Singen se noch?« stieß Grete atemlos heraus.
»Aus,« sagte die Heilsarmeesoldatin. »Heute hat die Versammlung schon früh geendet.«
»Oh –!« Grete, einen schmerzlichen Ruf der Enttäuschung ausstoßend, taumelte zurück an den Laternenpfahl.
»Kommen Sie morgen, Sie sind uns jederzeit willkommen,« sprach gewinnend die Heilsarmeesoldatin.
»O, Leutnant Naëmi!« Jetzt erkannte Grete die Sprechende. »Leutnant Naëmi, kennen – Se – mir noch?!«
»Halleluja, Margarete du?!« Das junge blonde Gesicht der Heilsarmeesoldatin, die bei den Aufführungen den Engel gespielt, lächelte über und über.
»Wir haben dich sehr vermißt. Halleluja!« Sie umfaßte Grete und küßte sie auf den Mund.
Man hatte sie vermißt –! Eine überwältigende Freude ergriff Gretes hungriges Herz. Im Laternenschimmer sah sie des Engels mildes, blaues Auge freundlich auf sich gerichtet, mit beiden Händen umklammerte sie seinen Arm. »Laß mich – bei dir bleiben! Ach – laß mich!«
»Komm mit mir,« sprach der Engel mit sanftem, halb singendem Tonfall. »Ich gehe aus, um Seelen zu retten.«
Die Heilsarmeesoldatin trug unterm Arm ein ganzes Bündel Kriegsrufe, das sie sorgsam mit ihrer Pelerine vorm Regen schützte. »Heute ist schlechtes Wetter, es werden schon viele früh in den Lokalen sitzen. Jesus gibt Gnade, daß ich sie erwecke. Ich will unermüdlich wandern.«
Sie sprach es harmlos heiter, als sei das gar nichts, Stunde um Stunde bis lange nach Mitternacht, bis gegen Morgengrauen, von Tür zu Tür zu ziehen, von Bierstube zu Weinstube, von dunstiger Kneipe zu hochelegantem Restaurant.
»Wie kalt du bist,« sprach sie und zog den Arm der fröstelnden Grete fest in den ihren. »Bald wirst du nich mehr frieren, Sieg ist mit uns!«
»O wir rufen Halleluja
Auf dem Weg nach Zion hin,«
begann sie halblaut zu singen. Ihre Füße hoben sich in marschmäßigem Tempo.
Grete fiel mit ihrer schwachen Stimme in den Gesang ein.
So zogen sie Arm in Arm aus, Seelen zu retten.
Der Dunstschleier der Regennacht hüllte sie ein. Tapfer marschierten sie, die einsameren Straßen lagen bald hinter ihnen, näher und näher kamen sie den belebten Lichterzeilen, den elektrischen Lampen, die am hellsten vor den Restaurants glänzen.
Der weite Weg hatte Grete nicht ermüdet, eine belebende Kraft strömte von ihrer Gefährtin in sie über. Sie fühlte sich getragen, gehoben von einer stillen Begeisterung. Das unbedeckte Haar, die Stirn dem Regen preisgegeben, marschierte sie mit. Halleluja, auf dem Wege nach Zion hin!
Leutnant Naëmi ging ins erste Restaurant, Grete folgte ihr auf dem Fuß. Nur daß sie sich nicht mit zwischen den Tischen durchdrängte; sie blieb unweit der Türe stehen, aber ihr Blick hing unverwandt an der schlanken Gestalt im Kiepenhut, die sich durch das rauchverhüllte Gewimmel des Saales wand.
Manchem fiel das blasse Mädchen mit den großen entrückten Augen, die so unbeweglich neben der Tür lehnte, auf. Was wollte die?
Der Kellner, der in der gehetzten Geschäftigkeit kaum hinsah, zuckte die Achseln. Wahrscheinlich betteln oder Wachszündhölzchen verkaufen?!
»Sie da, das is hier nicht erlaubt,« rief er Grete zu und wedelte abweisend mit der Serviette.
Sie wich nicht.
Und so zogen sie von Restaurant zu Restaurant, aus einem Lokal ins andre. Leutnant Naëmi hatte noch nicht viel Ausbeute gehabt, aber sie lächelte. So lächelte sie auch bei jedem dreisten Witz, den man ihr zurief, bei jedem Spott, der ihrem Anbieten des Kriegsrufes antwortete. Der helle Blick ihres Auges hatte sich nicht getrübt. »Jesus gibt Gnade, diesen Abend noch, diese Stunde noch! Halleluja!«
Grete stützte sich schwerer auf den Arm der Gefährtin; sie war nun doch müde geworden, und als Leutnant Naëmi wieder an zu summen fing:
»O wir rufen Halleluja
Auf dem Weg nach Zion hin!«
stimmte sie nicht mit ein. Sie atmete schwer, eine Last drückte ihre Brust.
Mitternacht war längst vorüber. Grete hatte jetzt die Müdigkeit wieder überwunden, sie dachte auch nicht an zu Hause; wie ein abgeschiedner Geist, losgelöst von allem Irdischen, wanderte sie durch die Nacht.
Jetzt traten sie in ein Restaurant, das war eleganter als alle, in denen sie vorher gewesen. Viel Vergoldung und Palmen und Sammetdiwans und Riesenspiegel, die in ihrem kristallnen Schliff den Glanz von hunderten von Flämmchen zurückwarfen. Vor tiefen Nischen hingen Sammetportieren, die, hie und da zurückgeschlagen, elegante Paare sehen ließen hinter gedeckten Tischchen.
Der Portier, im langen, roten Rock, mit Dreimaster und goldnem Stock, hatte der Heilsarmeesoldatin den Eintritt verweigern wollen, aber mit ihrer heitren Ruhe schob sie ihn zur Seite; und Grete folgte ihr nach.
Ein übermütiges Gelächter wurde da und dort laut beim Anblick des Kiepenhutes. Aber das hübsche Gesicht, das darunter auftauchte, entwaffnete manchen Spott. Jetzt machte man andre Bemerkungen; bei keiner, welcher Art sie auch sein mochte, zuckten die blonden Wimpern.
Junge elegante Herren, an einem Tisch zusammensitzend, kauften gleich einen ganzen Pack Kriegsrufe. Sie wollten sich gerne retten lassen. Freundlich, als ob sie den Spott nicht merke, lud die Heilsarmeesoldatin zur nächsten Versammlung ein.
Jetzt näherte sie sich einer der Nischen im Hintergrund, mit sichrer Hand schob sie den Vorhang zurück.
Gelächter, Männergelächter, und jetzt ein Frauenlachen. Es drang durch den ganzen Saal bis hin nach der Tür zu Grete.
Dieses Lachen – dieses Lachen! Gretes große Augen wurden noch größer, lauschend streckte sie den Kopf vor.
Dieses Lachen – dieses Lachen! Wer hatte doch so gelacht, ganz ähnlich so – ein wenig hoch, ein wenig spitz, und ein Trillern darin, wie von einem Kanarienvogel?! Wer – –?!
Unwillkürlich machte Grete Schritt für Schritt vorwärts; mit zitternden Fingern strich sie sich das nasse Haar zurück, das ihr über die Augen hing. Wer lachte da?!
Sie sah: da war ein gedeckter Tisch, bestellt mit Gläsern und Flaschen; zwei Herren mit stark geröteten Gesichtern saßen daran, und zwischen ihnen eine – eine – eine Dame.
An den einen Herrn lehnte sie sich, den andren, der sich nah zu ihr beugte, blinzelte sie an.
Einen weißen Hut mit vielen, auffallenden Federn hatte sie sich ganz nach hinten geschoben. Jetzt stemmte sie beide Ellbogen auf den Tisch und, mit müden, schwarzgeränderten Augen die Heilsarmeesoldatin betrachtend, lachte sie. Und nun gähnte sie, daß man all ihre Zähne blinken sah.
Grete unterdrückte einen Schrei; sie neigte sich ganz vornüber, laut ging ihr erregter Atem – war das nicht – war das nicht – – –?!
Wie eine Vision stand vor ihren überreizten Sinnen plötzlich der Schwester Bild. So lachte die. So hatte die gegähnt des Morgens früh, wenn sie, indessen ihre Brennschere heiß wurde, die Arme auf den Herdrand gestemmt und verschlafen ins Küchenlämpchen gestiert.
Nein! Es konnte doch nicht Trude sein – ach nein! Die hatte ja braunes Haar gehabt, und diese hier hatte leuchtendes, metallisch schimmerndes, goldblondes.
Ein Zucken ging durch Gretes Herz, ein immerwährendes Zittern lief ihr über den Körper. Sie fühlte keinen festen Boden mehr unter den Füßen; der schwankte, zerfloß in Nebel unter dem Tritt. Um sie her der glänzende Saal war auch von Nebeln verhüllt. Nah, und doch weit, ganz weit der Schwester Bild; unbestimmt wie ein Schatten, flüchtig wie eine Erinnerung. Keine Ähnlichkeit mehr zwischen der da, der üppigen Person, und der schmächtigen Mädchengestalt Trudes. Und doch –!
Grete taumelte vorwärts, wie eine Blinde gegen die Stühle anstoßend; sie wollte hin, hin zu der da, sie am seidnen Kleid fassen, zu ihr sprechen, sie anrufen, schreien: ›Rette, rette deine Seele!‹
Ein heisrer Laut entrang sich Gretes blassen Lippen, die Nächstsitzenden wurden aufmerksam und drehten sich nach ihr um; schon eilte ein Kellner auf sie zu. Da floh sie scheu.
Blitzschnell erreichte sie die Tür – horch, – noch einmal das Lachen! Sie zögerte wenige Sekunden. Nein, so hatte Trude nie gelacht, so laut, so frech!
Sie strauchelte über die Schwelle, und nun war sie draußen. Mit einer verwirrten Gebärde faßte sie sich an die Stirn – was, was war denn? Was war denn gewesen –?!
Sich mit beiden Händen den Kopf haltend, stürzte sie wie sinnlos davon in die finstre Nacht.
Als Mutter Reschke, gegen halb zwei Uhr morgens, sehr vergnügt mit Elli von der Geburtstagsfeier bei der Konkurrenz zurückkehrte, fand sie Grete, zusammengekauert, in einem Winkel der Blaulackierten.
»Ik denke, der Schlag rührt mer,« erzählte sie am andren Tag. »Sitzt se da, quatschnaß, un janz dammelig. Keen Wort aus se rauszukriejen, keene – wat paßte denn ooch nich besser uf ihr uf,« unterbrach sie sich und schrie ihren Mann an. »Du has jewiß wieder den janzen Abend verduselt?! Habe ik nich verboten, se soll nich nach de Heilsarmee? Natürlich, da is se jewesen; da machen se ihr noch janz verrückt. Jotte ne, ik sage schonst, wat hat man for'n Kreuz mit de Kinder! Nu muß man an'n Ende noch jar en Dokter holen; als ob det allens nischt kostete! Man kommt jar nich aus 't Bezahlen raus!«
Grete lag im Küchentischbett und fieberte stark. Meist lag sie still mit geschlossenen Augen. Aber dann kamen Stunden, in denen sie sich wand in wilden Phantasieen. Nichts, niemanden erkannte sie; alles schien ausgelöscht in ihrem armen, verwirrten Hirn, jede Erinnerung weggewischt. Nur eines stand vor ihr, in grausamer Gewißheit: Trude! Und sie war nicht gerettet!
Dann schrie sie auf, so gellend, so herzzerreißend, daß die Kellerwände widerhallten.
Jeder, der in den Laden kam, wurde von Mutter Reschke ans Krankenbett geführt. Jeder gab andren Rat. Mit neugierig aufgerissenen Augen umstanden die Besucher das armselige Lager. Dieses Anstarren, dieses Befühlen, dieses heimliche Wispern steigerte die Unruhe der Leidenden. Bei jedem Belfern und Kreischen der Klingel fuhr sie hoch auf; heute wurde der Laden ordentlich gestürmt.
Ob man einen Doktor holte oder nicht? Ach, es würde schon ›von alleine‹ besser werden. »Ik bin nich for de Quacksalbereien,« sagte die Reschke. Und sie kochte einen recht kräftigen Pfefferminztee, der trieb Schweiß und mit dem Schweiß auch die Krankheit aus.
Am Abend kam Mine; erschrocken stand sie an Gretes Bett und sah mitleidig auf den hagren Körper, der sich unter der dünnen Bettdecke abzeichnete. Sie beugte sich nieder. »Grete,« sagte sie freundlich.
Aber das Mädchen gab kein Zeichen des Erkennens und rührte sich nicht, nur der Atem der noch kindlich flachen Brust ging stürmisch aus und ein.
Da ging Mine wieder mit ihrem schweren Tritt – sie hatte auch keine Zeit übrig – und zog die Schwiegermutter mit hinter die Tür. Da hatten sie noch eine längere Unterredung. Mine hatte den ganzen Kopf voll von der Idee, Bertha bei Fräulein Haberkorn anzubringen; was die Schwiegermutter wohl dazu meinte?! Sie selber würde die Aufwartstelle doch aufgeben; jetzt, wo der Arthur so gut verdiente, brauchte sie sich ja nicht so zu hetzen. Es würde ihr auf die Dauer auch ein bißchen viel, wie sie in einem etwas verlegenen Ton sagte, erst die Aufwartung zu machen und dann noch den ganzen Tag zu waschen. Ob sie mal mit Fräulein Haberkorn deswegen sprechen sollte?
»I natürlich!« Die Reschke war sehr einverstanden. »Wenn du ihr nur los bis! Is det'ne Manier, sich so lange euch uf'n Hals zu setzen?! Na, mir soll die Bertha man kommen! Nich so ville, jar nischt is an ihr! Hab ik se nich de scheensten Stellen verschafft?! Aber ne, Dank is nich! Meine Meinung wer' ik se aber nich vorenthalten – so 'ne faule Liese, so 'ne Naschkatze, so 'ne –«
»Pst, stille!«
Mutter Reschke war so laut geworden, daß Vater Reschke den Kopf zur Küchentürspalte herausstreckte. »Pst, man leise! Det regt Jreten so uf!«
»Ja, ja! Nich mal in'n eignen Hause darf man ›piep‹ sagen. I, ik jehe ja schonst!« –
Nun war es ruhig geworden, das Kommen und Gehen hatte endlich aufgehört. Es ging schon in die Nacht hinein.
Der alte Reschke saß ganz allein bei der Kranken. Er hatte ihr dünnes Händchen gefaßt, sich über sie gebeugt, die Brille auf die Stirn geschoben, und versuchte nun beim spärlichen Lämpchenschein ihr Gesicht zu erforschen.
Da sah sie ihn voll an. »Vater,« hauchte sie schwach, »Trude –!« und fing an zu weinen.
Und der alte stumpfe Mann fing auch an zu weinen, er wußte eigentlich gar nicht weshalb, legte seine stopplige Wange neben sie auf das Kissen und schluchzte mit: »Trude!«