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Silbergeklapper, Porzellangeklirr, Gläserklingen, Pfropfenknallen, feinste Eßgerüche. Bei Selingers war Gesellschaft.
Bertha eilte flüchtig wie der Wind vom Eßzimmer in die Küche, aus der Küche ins Eßzimmer. Nur ein Augenblick des Zögerns vor der Tür, ein hastiges Umherblicken, dann ein Hineinfahren mit zwei spitzen Fingern in den künstlichen Aufbau des Kochs, ein Hinunterschlingen des glühenden Leckerbissens, daß das Wasser in die Augen schoß und das Feuer im Magen brannte.
Vierzehn Tage hatte sich Bertha bezähmt, die ungestillte Gier hatte sie fast krank gemacht; jetzt konnte sie nicht mehr widerstehen: Genießen, genießen!
Ihre Wangen glühten, ihre Augen glänzten. Es war ihr gelungen, hinter dem Rücken des Lohndieners, von dem süßen Wein zu nippen, der zur Suppe gereicht wurde; nun lauerte sie auf den Champagner.
Heut würde Frau Selinger nicht kontrollieren können. Welch unzählige Süßigkeiten zwischen den Blumen der Tafel! Es war nichts gespart: Kandierte Früchte und Sahnenschokolade, petits fours und Kognakkirschen, Eiswäffelchen und seidenbandumwundene Röllchen, Malagatrauben und französische Pfirsiche, sizilianische Mandarinen und kalifornische Ananas. Und in der Mitte ein Baumkuchen, wie ein Turm der Süßigkeit, mit knusprigen Zacken, starrend in seinem Zuckerguß.
Berthas Augen schlossen sich halb und verschwammen, wenn sie ihn ansahen. Sie fühlte dann eine lähmende Willenlosigkeit, ein Hingeben ihres ganzen Seins; nur ein Wunsch war in ihr rege: ›Dem da eine Zacke abbrechen, hineinbeißen, daß der Guß knirscht!‹
Sie schüttelte sich. Sie seufzte tief.
Heute würden sie draußen in der Küche doch auch etwas davon abbekommen, es war ja so viel da!
Mit einem bösen Seitenblick schielte sie nach Frau Selinger, als diese nach aufgehobener Tafel, während die Gäste in den Salon gingen, zurückblieb, um die Süßigkeiten zu verschließen. Bertha selbst mußte ihr noch Tellerchen und Schälchen zureichen. Sie stand hinter ihrer Herrin, die kaum die Schätze alle im Büfettschrank bergen konnte, und biß die Zähne aufeinander, während ihr das Wasser im Munde zusammenlief, und ballte die Linke zur Faust in den Falten des Kleides. Eine Wut erhob sich plötzlich in ihr, ein tödlicher Haß gegen die Herrin, die ihr eins nach dem andern entzog.
Gleich darauf hätte sie weinen mögen vor ungestilltem Verlangen. Sie mußte was davon haben!
Und dann half sie doch dem Lohndiener, dem armen Kerl, die Naschreste von den Tellern der Herrschaften für seine Kinderchen zusammensuchen; er hatte ihr erzählt, daß die immer sehnsüchtig auf seine Rückkehr harrten und weinten, wenn der Vater nichts mitbrachte.
Jetzt, als sie in ihrem Bette lag und nicht schlafen konnte, ärgerte sie sich über ihre Gutmütigkeit. In ohnmächtigem Grimm biß sie in den Zipfel ihres Kissens. Wenn ihr der junge Herr nicht ein Glas Champagner gebracht hätte, so wäre ihr auch der entgangen. Aber so – plötzlich erheitert kicherte sie in sich hinein – so hatte sie gleich ordentlich was gekriegt, ein ganzes großes Wasserglas voll. Der ungewohnte Trank hatte sie nicht müde gemacht, im Gegenteil, sie wunderte sich, wie sie danach hatte schaffen können; die Arbeit flog ihr nur so unter den Händen.
Das Blut prickelte ihr in den Adern, sie fühlte ordentlich, wie es mit heißem aufgeregtem Fluß in ihr auf und nieder wallte. In den Schläfen hatte sie ein Pochen, in den Ohren ein Sausen. Ha, war das drückend! Ungebärdig schleuderte sie die Decke von sich und saß mit einem Schwung auf dem Rand ihres Lagers; es tat ihr wohl, die glühenden Fußsohlen auf die kalte Diele zu stellen.
Der Gesellschaft wegen hatte man sie heute ausquartiert, ihr Zimmerchen neben Frau Selingers Schlafgemach war Garderobe geworden; so lag sie diese Nacht in dem kleinen Käfterchen neben dem Eßzimmer, in dem sonst Porzellan und Gläser auf den Borden aufbewahrt wurden.
So nah dem Eßzimmer! Sie glaubte den Duft des Süßen durch die Tapetentür bis hier hinein zu spüren. Mit angehaltnem Atem saß sie da. Sie streckte den Hals vor und bohrte die Blicke in die Finsternis – drüben auf der anderen Seite des Eßzimmers führte die Tür in die Stube des jungen Herrn. Der schlief.
Nichts zu hören! Aber stärker, immer stärker der süße Duft. Ja, das war der Kuchen, der so roch!
Sie blähte die Nasenflügel schnuppernd auf und tat einen tiefen, zitternden Atemzug.
Sie sah ihn noch auf der Tafel stehen, den Turm der Süßigkeit, mit seinen knusprigen Zacken, starrend in seinem Zuckerguß. Ach, nur eine Zacke abbrechen, zerbeißen, daß der Guß knirscht!
Fest setzte sie die Zähne aufeinander.
Greifbarer, immer greifbarer erhob sich der Baumkuchen vor ihr. Sie konnte es nicht mehr aushalten. Wenn sie nun Licht anzündete, mal leise hineinginge?! Schon flammte ein Streichholz auf.
Es fröstelte sie. Scheu sah sie sich um und warf rasch einen Rock über. Sie hatte doch Angst, aber die Gier war größer, es riß sie förmlich da hinein. Sie gab nicht einmal sonderlich acht, daß die Tür nicht knarrte-
Das Licht tröpfelte, sie merkte es nicht. Mit langer Schnuppe flackerte es und warf ihren Schatten riesengroß an die Wand.
Da war das Büfett. Nein, es war keine Einbildung, der Kuchen duftete durchs Holz! Durch jede Fuge kam ein Strom von Süßigkeit. Aufmachen – aufmachen! Eine Zacke abbrechen, nur eine einzige!
Steckte der Schlüssel auch in der Ecke am Bücherspind, der so bequem zum Büfett paßte?!
Wild fuhren ihre Augen umher. Wenn die Selinger den abgezogen hätte? Aber nein, der blieb ja immer stecken.
Gott sei Dank, sie hielt ihn in der Hand! Mit zitternder Hast probierte sie ihn am Schlüsselloch des Büfettschranks; er schloß nicht gleich, sie war zu hastig; sie biß sich auf die Lippen – aber nun – ah, ah!
Auf ihrer Unterlippe perlte ein Tröpfchen Blut, flink leckte das Züngelchen es weg. Sie war wie berauscht.
Ein Lachen kam über ihre Lippen, ein halblautes, unbesonnenes Lachen. Mit beiden Händen packte sie zu – da, eine Zacke ab! Schon stopfte sie die in den Mund. Noch eine!
Endlich, endlich! Ihre Zähne malmten; sie schmatzte und schluckte und schlang gierig.
Da – der Bissen blieb ihr in der Kehle stecken, mit einem unartikulierten Laut fuhr sie zusammen – eine Hand hatte sich auf ihre Schulter gelegt.
Entsetzt starrte sie in Herrn Leos schwarze Augen.
»Nanu?«
Sie brachte kein Wort heraus.
»Also Sie sind die Näscherin. Sieh mal einer an!« Er verschlang sie fast mit seinen schwarzen Augen, fest drückte sich seine Hand in ihre weiche Schulter.
»Lassen Sie mich doch los!« Ihre zitternden Lippen konnten kaum die Worte formen.
»Nein, Diebe hält man fest!«
»'ne Diebin bin ich nich!«
»Na, was denn?« sagte er gleichmütig. »Die Tür mit 'nem Nachschlüssel aufmachen – über verschlossene Sachen gehn – mitten in der Nacht – na, wenn das nicht Diebe tun?! Ich kann nicht schlafen – ich höre ein Kraspeln – ich schleiche an die Tür – ich denke: bricht einer ein? Ich mache leise auf und traue meinen Augen nicht – ne, ne, reden Sie nur gar nicht erst, ich weiß es doch! Sie haben ja noch den Mund voll.«
»Seien Sie still! O bitte, bitte, seien Sie still!« Bertha zitterte am ganzen Leibe; krampfhaft hielt ihre Hand noch ein Stückchen Kuchen.
»Na warten Sie nur!« Er hielt sie immer fester.
Sie stieß ihn von sich.
»Pfui, schämen Sie sich! Ich werde es Mama sagen!«
»Ach nein, nein!«
»Natürlich! Es ist ja ganz unerhört von Ihnen. Was haben Sie denn hier mitten in der Nacht im Büfett zu suchen?!«
»Ich – ich –« Sie konnte nicht weiter sprechen; alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. »O bitte, Herr Selinger,« sagte sie mit aller Anstrengung, »bitte!«
Er stellte sich sehr zornig und konnte doch nicht umhin über ihre Angst zu lächeln.
»Mama wird sich schön wundern,« sagte er sanfter.
»Sagen Sie nichts,« ächzte sie, ließ das Stück Kuchen fallen und hob flehend die Hände. »Bitte, bitte!«
»Na, wir wollen mal sehen. Wenn Sie's nicht wieder tun –«
»Nein, nein!«
»Und mir versprechen –« Er sprach nicht weiter, er musterte nur die notdürftig bekleidete Gestalt, der das schöne Blondhaar lang um die Schultern fiel. Seine Blicke glitzerten.
Jetzt erst wurde sie sich ihres Aufzuges bewußt. Mit einem leisen Aufschrei flüchtete sie hinter den Eßtisch.
Er ihr nach.
Sie wollte in ihre Kammer. Er drängte sich mit hinein. Sie drängte ihn wieder hinaus. Es war ein stummes Ringen auf der Schwelle. Kein lauter Ton.
»Lassen Sie mich los,« flüsterte sie.
»Morgen früh weiß es Mama!«
Ihre Kraft erlahmte vor Schrecken, er benutzte es, um sie zu küssen. Aber, als er, kühn gemacht, sie fester umschlang, setzte sie sich wie eine Wilde zur Wehr.
»Lassen Sie mich in Ruh – ich sag es Ihrer Mutter!«
»Das lassen Sie lieber sein, der hab ich entschieden mehr zu sagen!«
Sie brach in ein trocknes, wütendes Schluchzen aus, mit der Faust stieß sie ihn vor die Brust, daß er zurücktaumelte.
»Donnerwetter! Bertha, seien Sie doch vernünftig, sonst –«
Er riß ihr die Tür, die sie hinter sich zuziehen wollte, aus der Hand.
Sie riß sie wieder an sich.
Das Licht, das bis dahin auf dem Büfett geflackert, erlosch plötzlich stinkend; es war nur ein Stümpfchen gewesen.
Stockdunkelheit.
Ohne Laut, die Zähne zusammenbeißend, alle Kraft anwendend, suchte sie ihre Tür zuzudrücken.
Er drängte dagegen. »Bertha,« flüsterte er drohend, »ich sag's!«
Keine Antwort. Verzweifelt strengte sie sich an. Jetzt schnappte die Tür ins Schloß – jetzt schob sie innen den Riegel vor – sie lachte kurz auf. Mochte er klopfen!
Aber die Kniee zitterten ihr, wankend sank sie auf den Haufen der gebrauchten Tischwäsche, die hier am Boden lag. Sie lauschte – was machte er jetzt draußen?!
Sie hörte ihn davon schleichen. Lange danach erst kroch sie in ihr Bett zurück und zog sich schaudernd die Decke bis hoch hinauf. Ihr Atem flog, ihr Kopf glühte, rasend pochte ihr Herz – ob er sie verriet?!
Sie mußte ausdenken, wie sie ihn verschwiegen machte, ohne sich doch allzuviel zu vergeben.
Und sie sann und sann; der Morgen graute längst, und noch war keinen Augenblick Schlaf über sie gekommen. Der Kopf schmerzte ihr, sie war wie zerbrochen an Leib und Seele. Halb triumphierte sie, halb fürchtete sie, und dabei mußte sie noch immer an das Stückchen Kuchen denken, das ihrer Hand entfallen war.
Ehe die andren aufstanden, würde sie da sein, es vom Teppich auflesen und es essen.
Fehlerhafte Kapitelnumerierung ab hier korrigiert. Re. für Gutenberg