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XXXIV

Möbelwagen ziehen noch am dunklen Abend durch die Straßen, und dann wieder am Morgen früh, wenns auch kaum hell ist. Kältender Sprühregen stäubt nieder, und in den geöffneten Hausfluren lassen breite, schmutzige Stiefel breite, schmutzige Tappen zurück. Schlechtes Wetter ist's zum großen Ziehtag.

Vor dem Hause der Bahnstraße, in dem die jungen Reschkes wohnten, stand am Nachmittag des ersten Oktober ein Handwagen, zur Hälfte schon hochbepackt, und Arthur und Bartuschewski setzten eben auf die noch freigelassene Hälfte den Kleiderschrank nieder und stopften, damit er nicht schwankte, Betten dagegen. Der Regen stäubte immer eindringlicher.

»Lausewetter! Na, ik bin bloß froh, det ik heite nich ziehn muß,« sagte Bartuschewski und schlug mit der nassen Hand auf die Betten. »Bis Se damit nach de Alvensleben kommen, sind die quatschnaß.«

»Verflucht!« Arthur zog seinen Überzieher aus und warf ihn über die Betten. »So. Daß man wenigstens trocken schlafen kann, wenn man schon weiter nischt hat. Los! Sind wer denn nu endlich fertig?«

Bartuschewski sah sich um; auf dem Trottoir, gegen die Hauswand gelehnt, stand nur noch einsam der leere Küchenrahmen: er ergriff ihn und schleuderte ihn obenauf. »Na, allzuville haben Se ja nich ufzuladen,« sagte er mit einem spöttischen Lächeln.

Arthur brummte etwas Unverständliches und wischte sich dann mit der verkehrten Hand den Schweiß und Regen von den Wangen. »Ich bin janz alle. Das Schleppen de fünf Treppen runter war kein Spaß. Gut, daß es in de Alvensleben parterre is!«

»Jehn wer doch mal erst 'n Momang hier nebenan,« schlug Bartuschewski vor und wies nach der nahgelegenen Kneipe. »'ne kleene Herzstärkung haben wer redlich verdient, was?«

»Jehn Sie man immer vor! Ich muß erst hier die Strippe fester ziehen.« Arthur war in Verlegenheit und beschäftigte sich angelegentlich mit dem Strick, mit dem die Sachen verschnürt waren. »Ich kann doch auch nich allens hier so alleine lassen!« Er warf einen scheuen Seitenblick auf Bartuschewski – wenn der doch nur schon ginge, dann würde er sich rasch mit dem Wagen auf und davon machen!

Aber Bartuschewski schien ihn zu durchschauen, lachend schlug der ihn auf die Schulter. »Ne, Männeken, dünne machen is nich! Nanu, Se haben wohl Manschetten vor die Jnädige?! Na, ik wollte meiner kommen! De Hucke voll! So 'ne ollen Tunten!«

Arthur sagte nichts, ein Frösteln lief ihm über den Rücken – brrr, war das ungemütliches Wetter! Eine Erwärmung in der Kneipe würde ihm gewiß ganz gut tun! Aber hatte er Mine nicht sein Wort gegeben? Ehe sie heute mittag in die Alvenslebenstraße ging, um die neue Wohnung zu reinigen – Fridchen, die auch schon etwas tragen half, an der einen Hand, in der andren Schrubber und Eimer und Besen – hatte sie ihn so eigen angesehen.

»Komm nich so späte mit de Sachen,« hatte sie gesagt, »daß mer noch einräumen kann, so lang 's noch helle is. Un Bartuschewski gibste lieber fufzig Pfennige for'sch Runtertragenhelfen. Laß der nur sonst nich mit ihm ein. Du weißt schon, in de Kneipe sitzen kost viel mehr. Un wer haben's doch jetz nich derzue!« Sie hatte geseufzt und nach seiner Hand gegriffen. »Gelle, Arthur? Du setzt der nich in die Kneipe?!«

»I, wo wer' ich,« hatte er erwidert, »sei man janz beruhigt.«

Recht hatte sie, sie hatten 's jetzt nicht dazu. Lief er doch nun schon vier Wochen herum und suchte Arbeit und hatte bis jetzt nichts gefunden. Überall, wo er hinkam, wurde gerade das verlangt, was er nicht konnte. Schon zu allem möglichen, zu Beschäftigungen ganz unter seiner Würde, hatte er sich angeboten, nur um Mines stumm fragenden, erwartungsvollen Blicken zu entgehn. Aber zu derlei Arbeiten fehlten ihm die Körperkräfte; die Leute maßen seine schmächtige Gestalt mit den Blicken und hießen ihn gehen.

»Brrr!« Er schauderte wieder zusammen. Das konnte Mine doch wahrhaftig nicht wollen, daß er sich erkältete. Sie hatte ja auch nur gemeint, nicht in der Kneipe ›sitzen‹; wenn er stehenden Fußes rasch einen zur Erwärmung trank, hatte sie wahrhaftig nichts dawider, dazu war sie ja ein viel zu verständiges Weib. Wenn er sich wieder den Husten holte und Fieber, vielleicht gar im Bett liegen mußte, nicht nach Arbeit gehen konnte, was dann?!

Seine Hände ließen den Strick fahren, an dem sie gebastelt; unruhig trappste er von einem Fuß auf den andren. Sie brauchte es ja nicht einmal zu erfahren, daß er in der Kneipe gewesen war; wer sollte es ihr erzählen?! Er sicher nicht; nicht, daß er sich vor ihr fürchtete – oho, da wollte er schon zeigen, wer Herr im Hause war! Aber es genierte ihn jetzt öfter, wenn er sah, wie sie sich plagen mußte. Der Alte, in seiner Dämlichkeit, hatte doch nicht so ganz unrecht, als er letzthin grämelte: ›Möchte wohl wissen, was wär, wenn de Mine nich wär!‹

Mit einem Laut, halb Ausruf des Ärgers, halb Seufzer, fuhr sich Arthur über die Stirn und zuckte zugleich zusammen. Pfui Teufel, da hatte er doch ein schönes Andenken behalten! Bei Regenwetter schmerzte die Narbe noch immer.

Ach, und Mine würde am Ende nicht mal böse sein, wenn er ihr offen sagte, daß er in der Kneipe gewesen; im Grunde war sie ihm doch ganz gut!

Sinnend stand er und betrachtete seine Stiefel, die nicht ganz wasserdicht waren; aber die warmen Strümpfe, die sie ihm Sonntags, in der freien Zeit, gestrickt, hielten doch die Nässe ab. Nein, nein, er wollte es ihr auch nicht antun, in die Kneipe zu gehen! Das dauerte dann wieder so lange, und sie würde in der öden Wohnung auf die Sachen warten; nicht mal einen Stuhl hatte sie, um sich hinzusetzen. Und wenn sie dann am Ende, von Ungeduld getrieben, hier ankam –?!

Ein dicker Tropfen fiel ihm auf die Nase. »Verflucht!« Er schlug mit der Faust auf die Wagenkante, daß die Sachen klapperten und schütterten.

»Nanu,« sagte Bartuschewski, »schlechte Laune?! Eenen Schluck, un denn is allens jut. Se kommt ja noch lange nich. Um zwölwe is se nach de Alvensleben jejangen, was? Da waren die Leute man eben raus. Die hat noch lange auszumisten. Seien Se froh, det oben Ihre Stube nich ooch jleich bezogen wird, denn konnten Se sehn, wo Se so lange mit Ihre Sachen blieben. Aber det habe ik schonst so jedeixelt. Sagen Se mal, warum ziehn Se eejentlich nich bei Ihre Ollen in 'n Keller? Da muß doch jetz 'ne Masse Platz sind, un Sie haben 't billig!«

»Meine Frau will nich.«

»Will nich, was, will nich?! Haha, Sie sind mer 'n scheener Held! Nu kommen Se aber man jleich fix mit! Det Herz bibbert ein'n ja in'n Leibe. 'nen kleenen Kümmel oder 'nen Lippentriller, was? Denn helfe ik Ihnen ooch nachher 'n bißken schieben, Se bleiben ja sons doch unterwegs liejen, Sie Schwachmatikus!«

Arthur widerstrebte noch.

»Na, man voran, Mensch, man voran! Sons muß ik wahrhaftig annehmen, Se wollen mir for alle Freundschaft, die ik for Ihnen jehabt habe, nich mal traktieren?«

Diesen Verdacht konnte Arthur doch nicht auf sich sitzen lassen – alles, nur nicht ›poplig!‹ Seine Gedanken mit einem Ruck abschüttelnd, den Hut auf die Seite schiebend, faßte er Bartuschewski unter den Arm.

Verlassen stand der bepackte Handwagen. Der Regen hatte etwas nachgelassen, aber Tisch und Schrank und Stuhl und Bett waren doch schon feucht. Wenige Menschen gingen vorüber, keiner schenkte dem ärmlichen Krempel einen Blick; nur ein neugieriger Hund schnoberte um die Räder und schnappte nach einem herunterhängenden Strickende.

Eine Viertelstunde war vergangen, noch immer stand die Karre allein.

Jetzt näherte sich eine Frauengestalt. Sie kam eilig längs der Häuser gelaufen, ihr Rock, ihre Schürze und ihr unbedecktes Haar wehten im Wind; sie mußte sich nicht Zeit genommen haben, irgend etwas Schützendes umzubinden. Auch war sie in niedrigen Hausschuhen, bei jedem hastigen Tritt klappten die Pantöffelchen.

Es war Bertha. Wie ein flüchtiger Schatten verschwand sie im Torweg.

Ein Wind hatte sich aufgemacht, recht ungehindert pfiff er über den freien Bahndamm und die leere Straße. Eine feine Dämmerung fing an niederzusinken, wie wehende Nebel jagten unruhige Wolken am Himmel.

Und wie durch einen Nebel sah Bertha alles, als sie nach einer Weile aus dem Torflur wieder heraustrat. Ihr Gesicht war blaß und langgezogen in einer großen Enttäuschung – Mine war nicht da!

Ein eisiger Schrecken hatte sie ergriffen, als sie oben die Tür sperrangelbreit offen gefunden, die ganze Stube leer, ausgeräumt bis aufs letzte. Im Öfchen glimmte kein Fünkchen glühender Asche mehr; kalt war alles, ausgestorben. Sie war an den kahlen Wänden entlang geirrt, hatte dann lange am Fenster gestanden und in die graue herbstliche Luft hinaus gestarrt. Wo war Mine? Wenn die doch jetzt hereinträte, wenn sie sich an die kräftige Gestalt klammern könnte: ›Du, Mine, verlaß mer nich, wir sind ja aus einer Heimat!‹ – – – – –

Noch nie hatte Bertha der Heimat gedacht, Berlin war ja so viel schöner. Aber als sie jetzt so einsam am zugigen Tor stand und mit unruhigen Blicken die Straße hinauf und hinab spähte, dachte sie an daheim. Aber hatte sie denn ein ›Daheim‹? Kein Stückchen Acker, an dem die Seele hängt, zu eigen; im Häuschen wohnten sie zur Miete. Und die Mutter, halb Bäuerin, halb Städterin, und ewig aus dem Haus! Und wenn sie wiederkam und überwacht, angestrengt, durchfroren, durchgerüttelt vom Bauernwägelein stieg, mußte sie eins trinken zur Beruhigung, und dann schlief sie ein, und dann trank sie nach dem Erwachen abermals eins, um sich wieder zu beleben, ›Mumm‹ zu kriegen für eine neue Verantwortlichkeit, die ihr Gewerbe mit sich brachte.

Bertha schüttelte sich: nein, nicht nach Hause! Aber wohin denn, was wollte sie denn eigentlich?!

Sie war verzweifelt. Heute hatte sie von ihrem Küchenfenster aus gesehen, wie die Dienstmädchen ihre Sachen gepackt – sie zogen fast alle im Hause – wie die Paketfahrt kam, die Körbe und Kommoden und Kasten abzuholen. Nur sie, sie allein mußte bleiben! Aushalten, verkommen in dieser Ödenei! Aber warum denn?! Warum suchte sie keinen andren Dienst? Ha! Die Finger in die Haare gekrallt, hatte sie zu den andren hinübergestarrt.

Die hatten noch Hoffnung. Hoffnungen auf einen besseren Dienst, auf höheren Lohn, auf freiere Tage. Ä was, das war ja alles ›Mumpitz‹! Ein neuer Dienst und wieder ein neuer Dienst und wieder einer, und doch alles immer dasselbe. Sie hatte keine Hoffnung mehr.

Und eine wilde Verzweiflung war über sie gekommen, die ihr die Tränen in die Augen trieb, und ein scheinbar gegenstandsloser, dumpfer Haß, der danach verlangte, sich in lauten, irren Schreien auszutoben.

Wenn sie doch wenigstens Mine mal sprechen könnte! Eine heiße Sehnsucht überfiel sie nach deren ehrlichem Gesicht, ihrem ruhigen Wort.

Sie hatte plötzlich einen Drang in sich gefühlt, einen Drang, der Ketten sprengen will; den Riegel der Hintertür zurückschiebend, war sie davongestürzt ohne Erlaubnis. Weg!

Und nun war Mine nicht einmal da. Die Sachen, die man da auf die Karre gepackt, waren das am Ende die ihren? Sie trat näher: ja, das war Mines Schrank, das ihr Bett, der ganze ärmliche Hausrat!

Eine Frau, mit einem Korb am Arm, wollte eben in das Tor einbiegen; da vertrat ihr Bertha den Weg. Hastig fuhren ihre Augen umher, mit erregter Stimme fragte sie nach Reschkes.

Die Frau zögerte mit der Antwort. Mißtrauisch betrachtete sie das Mädchen – wie sah die aus?! Das war gewiß eine, die nichts Gutes im Schilde führte. Vielleicht schuldeten ihr Reschkes was, oder – die Frau dachte an Arthur: der war so ein richtiger Durchgänger – vielleicht gar die Liebste von dem Mann! Der armen Reschken, mit dem verarbeiteten Gesicht und dem kleinen Mädel mit den unschuldigen Augen, wollte sie doch den Krach ersparen; so sagte sie widerwillig:

»De Reschkes sind schonst lange fort!«

»Wohin denn?«

»Weeß nich.«

»Aber das sind doch ihre Sachen?«

»So?«

»Wohin verziehn se denn, sagen Se doch?«

»Weeß ik nich. 'n Abend!«

Unschlüssig zögerte Bertha noch, dann irrte ihr wilder Blick nach rechts und links – keine Mine zu sehen! Nur grauere und grauere Dämmerung. Und dann schoß es ihr plötzlich durch den Sinn: Fräulein Haberkorn würde sie vermissen! Und sie setzte sich in Trab und rannte übers Trottoir, an den Häusern entlang; mit wehendem Rock, mit wehender Schürze und wehendem Haar. Der Wind schnob hinter ihr drein.

Sie rannte sich außer Atem, sie zitterte vor Furcht, und zugleich empörte sich alles in ihr: Nur heute keinen Vorwurf! Sie fühlte es, heut durfte ihr die nicht eklig kommen; die sollte sich nur unterstehen, ein scheeler Blick, und – –! Hatte sie als Kind eine Ohrfeige bekommen, so hatte sie sich auf der Erde gesielt und mit Händen und Füßen gestrampelt und laut geschrieen; nicht immer kam das so, aber zuweilen.

Und heute –? Sie knirschte mit den Zähnen, vor ihren Augen tanzten lauter rote Funken. Die Kniee bebten ihr, die Zunge lag ihr trocken im Munde – ha, nur einen Schluck! Gut, daß die Flasche noch halb voll war, heut früh hatte sie sie erst frisch füllen lassen. In solcher Stimmung war sie des ›Süßen‹ doppelt bedürftig. Ansetzen, prosit! Austrinken bis zum letzten Tropfen, und dann vergessen, schlafen, liegen wie tot!

Sie leckte sich über die Lippen, die aufgesprungen und wie vertrocknet waren. Rasch einen Schluck! Die Gier hetzte sie; zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte sie die Treppe hinan.

Plötzlich stutzte sie, mit einem Aufschrei griff sie nach dem Geländer – aus der Nische löste sich eine schwarze Gestalt, pflanzte sich vor sie hin – –

»Fort, fort!« Ächzend stieß Bertha um sich.

Keuchend langte sie oben an.

Aha, die Tür verschlossen! Sie war vermißt worden. Sich ein impertinentes Gesicht aufzwingend, stand sie und wartete – sie hatte schon mehrmals geklopft, jetzt auch leise an die Klingel gerührt, – aber ihr Herz pochte ängstlich.

Endlich schlurften innen Tritte.

»Wer ist da?«

»Ich, die Bertha!« Bertha hatte dreist antworten wollen, aber ihre Stimme klang kleinlaut auf den eisigen Ton der Frage. Sie fühlte es, so wie sie in die Nähe der Alten kam, legte sich's auf sie wie ein Bann. Kaum daß sie den Hauch dieser Wohnung spürte, diesen eigentümlichen Geruch nach Moder und eingeschlossener Luft, so wurde sie bedrückt, scheu, zaghaft, von einem unerklärlichen Grauen überschlichen. Wie ein Krampf schnürte es ihr die Brust zusammen.

Vorsichtig, Riegel nach Riegel zurückschiebend, öffnete die Haberkorn. Sie fuhr zurück, Bertha prallte förmlich gegen sie an und sah sich um, mit unsteten, glitzernden Blicken.

»Wo waren Sie?« Das sollte nicht unfreundlich klingen, aber die unangenehme Empfindung, die das Fräulein bei des Mädchens Blicken überschlich, gab dem Ton etwas Knappes, Herausgestoßenes. Warum sah die sie so an?! Fräulein Haberkorn wich ein, zwei Schritte rückwärts. Ihre Hand, die das Lämpchen hielt, zitterte. Auf ihren hagren Backenknochen brannten zwei rote Flecke. Sie wäre gern losgefahren – hatte sie doch vorhin die Tür offen gefunden, und Bertha fort! Hatte sie doch vergebens gewartet, zehn Minuten, eine viertel, eine halbe, eine ganze Stunde, noch länger!

Aber Fräulein Haberkorn traute sich jetzt doch nicht recht. »Wo waren Sie?«

Keine Antwort.

Sie sahen sich an, beide unruhig und scheu.

Bertha hatte die Tür zugedrückt; jetzt ging sie, ganz mechanisch, an den Küchentisch, auf dem noch das gebrauchte Kaffeegeschirr stand, und schickte sich an, es abzuwaschen. Die Frage des Fräuleins hatte sie kaum beachtet, sie war an ihrem Ohr vorübergeglitten, wie ein leerer Schall. In ihrem Kopf sauste und surrte es; mochte die sagen, was sie wollte, wenn sie nur bald wieder ins Zimmer ging, daß sie einen Schluck zur Stärkung nehmen konnte! Sie fühlte sich dessen so bedürftig. Ach, nur einen Tropfen!

In Fräulein Haberkorns Gesicht zuckte und arbeitete es; ein paar Mal hatte sie schon den Mund geöffnet und doch wieder geschlossen. Wenn sie nur nicht so allein gewesen wäre, dann würde sie der unverschämten Person einmal ordentlich den Standpunkt klar machen! Aber so! Einen scheuen Blick warf sie nach Bertha hin – wenn die frech wurde?!

Die hielt zwar den Kopf gesenkt, anscheinend demütig; aber traue einer den Dienstboten! Wie eine Katze, die sich duckt vorm Sprung! Die Blicke des Fräuleins wurden immer stechender, immer wachsamer: nur der tückischen Person aufpassen, die durfte man ja eigentlich keinen Moment aus den Augen lassen!

Langsam zog sich die Haberkorn gegen den Korridor, der ins Zimmer führte, zurück. Sie stand auf der Schwelle der Küche, da hob Bertha blitzschnell den Kopf – aha, ging die Alte endlich?! Ihre Augen flammten auf, ein triumphierendes, gieriges Lächeln verzog ihren Mund.

Fräulein Haberkorn hatte Blick und Lächeln bemerkt, und wie eine plötzliche Aufklärung kam's über sie: halt, die hatte etwas vor! Die durfte man nicht allein lassen!

»Kommen Sie herein,« sagte sie schnell und versuchte, ihre ängstliche Verwirrung durch einen möglichst harten Stimmklang zu verdecken. »Ich werde Ihnen die Wäsche vorzählen, die Sie morgen zu waschen haben.«

Fräulein Haberkorn pflegte immer die Wäsche vorzuzählen, aber so umständlich, wie heute, hatte sie es noch nie getan; bei jedem Stück gab sie eine lange Belehrung, wie es zu waschen sei, ob zu blauen, ob zu stärken oder nicht. Und dabei blieb immer der belauernde, unausgesetzt von der Seite stechende Blick.

Berthas Hände fingen an zu zittern, ein paar Mal entglitt ihren Fingern ein Wäschestück. Röte und Blässe jagten sich auf ihrem Gesicht; diesen Blick konnte sie nicht mehr ertragen, er machte sie nervös, nein, mehr als nervös, er beunruhigte, er erregte sie fieberhaft. Eine grenzenlose Ungeduld packte sie. Wenn die doch nur rasch machen wollte – rasch, rasch – daß sie heraus kam in die Küche, an ihre geheime Speisekammer eilen konnte und schlürfen, schlürfen!

Sie fühlte sich ganz schwach werden.

So rasch sollte sie noch nicht loskommen. Das Fräulein ließ sie vorderhand nicht aus den Augen, folgte ihr in die Küche und wieder ins Zimmer, und aus dem Zimmer wieder in die Küche. Sie war keinen Augenblick frei. Als sie den Tisch zum Abendbrot deckte, ging die Haberkorn mit ihr ab und zu, und wenn sie gehofft hatte, die Herrin würde dann drinnen bleiben und essen, so hatte sie sich auch hierin getäuscht. Das Fräulein erklärte, noch keinen Hunger zu haben und eine Weile warten zu wollen; Bertha sollte ihr einstweilen einen verfitzten Strang Garn halten.

Die peinvolle Ungeduld, die gierige Sehnsucht Berthas nach dem erlösenden Schluck, wandelte sich allmählich in stumme, verbissene Wut. Als ob die's geahnt hätte und sie nun zum Tort nicht locker ließ, sie quälte bis aufs Blut!

Ihre Zähne preßten sich auf einander; unachtsam hielt sie das Garn, sah nicht die Schlingen, ließ ganze Strähnen von den Händen gleiten und verzögerte so das Entwirren nur immer mehr. Aber das merkte sie nicht; ihr einziger Gedanke war nur: Wie komme ich los?! Der Süße, der Süße! Nur einen Schluck!

Jetzt hatten sich die Fäden ganz fest um ihre Hände geschlungen, sie hielten die unruhig zuckenden Finger förmlich umwunden. Bertha stieß einen dumpfen Laut aus – ha, sich jetzt losreißen mit Gewalt, die Zähne zu Hilfe nehmen, die Fäden durchbeißen, wenn's nicht rasch genug ging! Nur los!

Unwillkürlich zeigte sie ihre scharfen, spitzen Zähne, ihre Arme machten eine krampfhaft zuckende Bewegung, ihr Gesicht verzerrte sich vor Ungeduld.

Und Fräulein Haberkorn, die vor ihr auf dem Stuhle saß, wickelte und wickelte, langsam und bedächtig: steckte hier den Knäuel durch eine Schlinge und da wieder, zupfte dort mit spitzen Fingern und löste jetzt ein besonders festes Knötchen mit der Nadel.

Bertha unterdrückte ein Stöhnen – oh, wie schlecht war ihr! Der Magen schien ganz leer, ganz verschrumpft, und dabei war ihr übel, übervoll. Inwendig, Kehle, Hals und Brust waren nur mehr eine ausgebrannte Furche, die nach einem Tropfen lechzt. Und ganz von unten herauf stieg es ihr wie ein Knäuel, an dem sie würgen mußte; in der Mundhöhle lief ihr der Speichel zusammen, trotzdem fühlten sich Zunge und Gaumen ganz trocken an. Sie konnte auf einmal nicht schlucken und mußte es doch unausgesetzt versuchen; ein Angstgefühl stellte sich dabei ein.

Und gerade mitten auf der Brust zog sich's ihr krampfig zusammen; wie mit einem Messer bohrten sich ihr da Stiche ein, furchtbare, entsetzliche, quälende Stiche. Und immer rascher folgten sich die Stiche, von dem Mittelpunkt schnitten sie herüber nach den Schultern und fuhren weiter herum nach dem Rücken. Ihre ganze Brust war ein Weh, das Kreuz wollte ihr durchbrechen. Und dabei die Angst, die fürchterliche Angst. Kalter Schweiß brach ihr aus. Sie schnappte nach Luft – der Atem blieb weg. Jetzt schreien, schreien dürfen!

Ihre tief erblaßten Lippen zitterten, ihre Augen wurden ganz stier. Nur nicht mehr die Fäden sehen, dieses ewige Knüpfen und Zupfen und Durchstecken! Füße und Hände, durchkribbelt von tausend Ameisen, waren ihr wie gelähmt und eiskalt. Die Stube fing an, sich mit ihr im Kreise zu drehen. Ach, nur schnell einen Tropfen, sonst wurde sie ohnmächtig!

Die Wanduhr schlug neun. Fräulein Haberkorn schlang den letzten Rest Faden um den Knäuel. »So, nun bringen Sie mir den Tee!«

Bertha wankte nach der Küche. An der Wand tastete sie sich entlang, sie sah nichts mehr, sie konnte kaum stehen, aber die Gier gab ihr Kraft. Hastig riß sie die Flasche hinter der Kiste hervor. Den Pfropfen heraus – schon der Duft belebte sie neu – schnell ansetzen – –

Etwas Eigentümliches ließ sie inne halten. Sie sah es nicht, aber sie fühlte es, ein Auge ruhte auf ihr; sie hörte nichts, und doch war da jemand. Erschrocken fuhr sie herum –

Da stand Fräulein Haberkorn, lang und schwarz und regungslos, und starrte sie an.

Berthas Kniee knickten ein, die Hand, die die Flasche hielt, sank schlaff herunter.

»Was trinken Sie denn da?«

»Ich – ich –!« Weiter brachte Bertha nichts heraus, sie war betäubt von Schreck. – – – – Oh, die furchtbare Schwarze! Die furchtbaren Augen!

Alle Schauer abergläubischen Entsetzens, alle Schrecken einer verirrten Phantasie überrieselten das Mädchen. Wie war die da hinter sie gekommen, so lautlos, ohne Tritt, ohne Atemzug?! Die schwarze Gestalt wurde zum Riesenschatten, der immer höher und höher wuchs.

Bertha fürchtete sich; ohne Widerstreben ließ sie sich die Flasche aus der Hand nehmen.

Das Fräulein roch daran. »Was, Schnaps? Sie trinken Schnaps?!«

Bertha stand wie eine Gerichtete; jetzt sank sie wimmernd auf den Küchenstuhl und schlug die Hände vors Gesicht, sie zitterte am ganzen Leib.

Die Haberkorn betrachtete das Mädchen stumm mit ihren schwarzen Augen – was würde die nun sagen?! Minuten vergingen. Bertha sprach kein Wort; nur ihr Zittern wurde immer stärker.

Ei, die hatte ja Angst! Das Fräulein reckte sich mutig auf. »Was, Sie schämen sich nicht, in meinem Hause Schnaps zu trinken? In einem anständigen Hause! Und bei Ihrer Jugend?! Haben Sie denn gar keine Achtung vor sich selber? Nehmen Sie keine Rücksicht auf Ihre Herrschaft, auf Ihre eigne Zukunft? Wissen Sie denn nicht, im Branntwein steckt der Teufel?! Also daher die schlechten Zeugnisse und immerfort das Wechseln?! Trinken Sie schon lange? Sie trinken wohl oft?«

Keine Antwort.

»Eine Säuferin! Also eine komplette Säuferin! Pfui! Wollen Sie den Weg gehen, den leider so viele aus unteren Ständen gehen? Trunksüchtige Männer, trunksüchtige Weiber. Trinken ist aller Laster Anfang, es führt zum Verbrechen. Oh –!«Das Fräulein schauderte nun doch und sah sich um, als lauere schon einer auf sie.

»Wo haben Sie das Geld zum Schnaps her? Von Ihrem Lohn werden Sie 's schwerlich genommen haben!« Ein früherer Argwohn schien in Fräulein Haberkorn wieder rege zu werden, ihre Augen fuhren spähend umher. »Daß man so vertrauensselig ist! Jetzt bin ich sicher, ich habe mich nicht getäuscht, als ich manches vermißte. Ist das der Dank dafür, daß ich Sie genommen habe, trotz Ihrer miserablen Zeugnisse, nur auf der Reschke ihre Empfehlung hin?! Die soll mir aber kommen! Mir eine solche Person ins Haus zu bringen, ein Mädchen, das Schnaps trinkt! Aber das spielt eben alles unter einer Decke. Sie gehören eigentlich in ein Korrektionshaus, da könnten Sie noch von dieser unseligen Leidenschaft geheilt werden!«

Bertha ließ ein dumpfes Wimmern hören.

Fräulein Haberkorn vernahm es mit einer gewissen Genugtuung – hatten ihre Worte bereits so gewirkt, bereute das Mädchen?! Das klägliche Wimmern stimmte sie milder. »Ich werde einmal mit einem Geistlichen und mit dem Vorstand des Rettungsvereins Rücksprache nehmen. Sie sind noch so jung –«

Erneutes Wimmern Berthas.

»Sie können noch auf den rechten Weg gebracht werden. Schnaps, Schnaps – pfui!« Kopfschüttelnd hielt sie die Flasche gegen das Licht, beroch sie wieder und ging dann ins Zimmer zurück. Die Flasche nahm sie mit.

Bertha blieb sitzen, sie hatte nicht die Kraft, aufzustehen. Von allem, was die Haberkorn gesagt, hatte sie nichts gehört. Ihre Brust wurde unausgesetzt von dem Krampf zusammengeschnürt; das war ein Wühlen da innen, ein Quälen, eine Pein – wie sollte sie nur aushalten? Sie ließ die Hände vom Gesicht sinken und sah sich verzweifelt um.

Sie war allein. Die Küchenlampe warf zitternde Kringel gegen die weißgetünchte Decke; der Petroleumkocher qualmte und dunstete, das Wasser im Kesselchen kochte längst, strudelte über und stieß mit seiner Gewalt den Deckel herunter, daß er auf die Diele kollerte. In nervösem Schreck fuhr Bertha hoch auf. Ah, das Wasser kochte, die Haberkorn wollte jetzt Tee trinken! Trinken – – –! Ihre Zunge drängte sich zwischen den zusammengepreßten Zähnen durch und fuhr lechzend über die Lippen.

Ha, die Flasche – suchend rollten die Augen umher – wo war sie?! Weg! Die Haberkorn hatte sie fortgenommen. Wild schlug Bertha mit den Händen um sich: »Mein Süßer!« Und sank dann wieder in sich zusammen.

Das Wasser brodelte und quackerte und lief über; zischend und schwelend erlosch die Petroleumflamme und füllte den Raum mit häßlichem Gestank.

Bertha erhob sich; in gekrümmter Haltung, sich am Herdrand weiter tastend, schlich sie zum Kocher. Sie goß den Tee aus, wie alle Tage, wartete die Minuten richtig ab, die er zum Ziehen brauchte; aber sie wußte nicht, daß sie's tat, sie war eine Maschine.

Trinken, trinken, nur mal einen Tropfen lecken! Immer lechzender hing ihre Zunge. Die Kehle war ihr wie ausgebrannt, hatte sich förmlich verengt. »Oh –!« Sie stieß ein langes, zitterndes Stöhnen aus. Die Pein war zu groß. Nur den Süßen, den Süßen her!

Ihre Hand hielt das Tablett unsicher, es schwankte, das Teekännchen rutschte hin und her. Ihr ganzer Körper bebte; da war kein Glied, kein Muskel, kein Nerv, der nicht zuckte. Mit wankenden Schritten erreichte sie die Stubentür. Sie nahm sich zusammen; möglichst geschickt wollte sie das Tablett vor Fräulein Haberkorn hinstellen, aber sie konnte es nicht mehr halten, es entglitt ihren Händen, unsanft gelangte es auf den Tisch.

Berthas Augen flogen suchend umher. Trinken, trinken – wo war die Flasche?! Auf dem Tisch nicht, auf der Kommode nicht, auf dem Büfett nicht. Aber da! Fast hätte sie einen Freudenschrei ausgestoßen. Da auf dem Bord, gerade über Fräulein Haberkorns Kopf, stand ihr Süßer!

Schon der Anblick verschaffte ihr Erleichterung, der Krampf ließ etwas nach. Ah, Aussicht auf Erlösung! Jetzt rasch einen Schluck, sonst mußte sie umfallen.

In heisren Lauten stammelte sie: »Kann ich – darf ich – meine Flasche?!«

Das Fräulein sah sie kalt an mit ihren schwarzen Augen.

»Ich muß – 'nen Schluck – ich bin krank!«

Des Fräuleins kalter Blick ruhte noch immer auf ihr.

»Nur 'nen Schluck – o meine Brust, mein Magen, mein Leib!« Wimmernd krümmte sich Bertha zusammen.

»Legen Sie sich warme Stürzen auf!« Anscheinend ruhig goß das Fräulein den dünnen Tee ein, aber ihre Hände zitterten auch. Wenn ihr die hier am Ende Zufälle bekam?! Die war ja so seltsam!

»Hier, trinken Sie!« Sie schob dem Mädchen eine Tasse Tee hin. »Trinken Sie das mal recht heiß, das wird Ihnen gut tun!«

»Ne, ne!« Mit Ekel stieß Bertha die Tasse zurück. »Meine Flasche! Einen Schluck!«

»Schnaps –?!«

»Es is kein Schnaps – Medezin! Fräulein Haberkorn, liebes Fräulein, bestes Fräulein, geben Se mir de Flasche! 's is Medezin! Nur heute – einen Schluck – sonst trink ich ja garnich – mir is so schlecht – so furchtbar schlecht!« Das aufgeregte Mädchen fing an, heftig zu schluchzen.

Fräulein Haberkorn rückte unruhig hin und her. »Sie sind ja ganz sinnlos, Bertha,« sagte sie, »nehmen Sie sich doch zusammen! Ich werde Ihnen Baldriantropfen geben.«

»Ne, ne! Ach, einen Schluck! Jeses, Fräulein, seien Se doch nich so!« Unverwandt starrten Berthas Augen auf die Flasche.

Die Haberkorn stand vom Sofa auf. »Wie kann ich Ihnen so was geben?! Es ist das reine Gift für Sie!« Sie ging, um die Flasche ins Büfett zu verschließen. Bertha vertrat ihr den Weg. Ohne Wort, aber mit fordernder Gebärde streckte sie die Hände aus.

Das Fräulein schüttelte den Kopf, wich zur Seite und öffnete die Tür des Seitenschrankes. Hastig stellte sie die Flasche hinein. »Damit sie Ihnen nur aus den Augen kommt!«

Rasch wollte sie die Tür zudrücken, aber Bertha riß sie wieder auf.

»Se is mein – ich hab se mer gekauft!«

Jede der beiden Frauen faßte nach der Flasche; Fräulein Haberkorn hatte den so viel längeren Arm, sie hielt sie hoch.

»Aber, Bertha, was fällt Ihnen ein?!« Unwillkürlich stieß sie einen Schrei aus, Bertha war in die Höhe gesprungen; wie eine Katze, die nach dem Vogel schnappt, so packte sie des Fräuleins dürren Arm und riß ihn herunter.

»Mein Süßer!« keuchte sie. Ihre grünlichen, schielenden Augen sahen wild die Herrin an. »Das soll ich mer auch noch gefallen lassen?« kreischte sie und drängte der Zurückweichenden nach. »Eingesperrt haben Se mich! Fast verrückt bin ich hier geworden! Meine Sachen haben Se mer visitiert, un jetz – denken Se vielleicht, ich laß mer das auch noch gefallen?! Von mei'm Geld hab ich'n gekauft – geben Se her – mein Süßer, her!« Wie ein wütendes Tier fauchte sie, ihr blondes Madonnengesicht hatte sich zur Fratze verzerrt.

Fräulein Haberkorn stieß einen zweiten durchdringenden Schrei aus. Was, die wagte es, sie anzufassen?! Entsetzen packte sie – sie war allein, ganz allein mit dieser Person! Todesangst überkam sie, schon fühlte sie einen würgenden Griff an ihrem Halse. Ächzend stieß sie heraus: »Was fällt Ihnen ein?!«

»Meine Flasche!«

»Lassen – Sie – los!« Die schwarzen Augen des Fräuleins drangen fast aus den Höhlen. Zu Hilfe! Das war ja Mord, Mordlust, was aus den Augen der Magd flackerte!

Des Fräuleins Hand hielt die Flasche nicht länger – krach, da lag sie.

Lauter Scherben, und das Naß lief hin über die Diele. Ein betäubender Alkoholdunst flog durch die Stube.

Sie schrieen alle beide auf, die Herrin und die Magd.

Bertha war zurückgefahren; wie entgeistert starrte sie auf das sich rasch nach allen Seiten hin verlaufende Naß.

Den Augenblick benutzte die Haberkorn; mit einem Satz war sie nebenan im Schlafzimmer, schlug die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. –

Der Tee auf dem Tisch war längst kalt geworden, die Wanduhr hatte zehn geschlagen, noch immer war Bertha starr, mit erschrocknen, weit aufgerissenen Augen.

Jetzt fuhr sie sich, wie erwachend, mit der Hand über die Stirn und fiel dann neben den Scherben auf die Kniee. Wie sie auch die Scherben untersuchte, wohin sie auch mit dem Finger tunkte, kein Tröpfchen zum Ablecken war geblieben, der ganze Alkohol verdunstet; nur ein großer, dunkler, klebriger Flecken haftete auf der Diele.

Mechanisch ging sie und holte den Scheuerlappen und rieb und wischte, und als kein dunkler Fleck mehr die Stelle bezeichnete, die Scherben auch weggeschafft waren, kam's über sie mit jäher Erkenntnis – was hatte sie getan?! Nun wurde ihr gekündigt, das war sicher. Nein, mit Schimpf und Schande wurde sie aus dem Dienst gejagt, morgen schon, und wenn sie nicht stille ging, würde ihr die Haberkorn mit der Polizei kommen.

Der Krampf war fort, die furchtbare Erregung hatte nachgelassen, sie war sich wieder ihrer selber klar bewußt.

Oh, was hatte sie getan! Das Zeugnis, das würde so schlecht ausfallen, wie noch keines zuvor. Keinen andren Dienst würde sie danach mehr bekommen. Und der Winter war vor der Tür. Und die Lust zur Arbeit auch nicht da – nein, gar keine Lust!

Ganz fassungslos, schwach wie ein Kind, sich auflösend in tränenreiches Weinen, kauerte sie auf einem Schemel im Winkel der Küche. Und das Weinen wurde wieder zu einem Krampf, zum lauten, schluchzenden, schreienden Gejammer; sie konnte gar nicht aufhören damit, es schüttelte sie und stieß sie und rüttelte sie durch und durch. Und dann mußte sie lachen, über sich selber lachen, daß sie so laut weinte. Es war doch komisch gewesen, die Angst von der Haberkorn zu sehen! Ja, viel hätte nicht gefehlt, und es wäre der an den Kragen gegangen. Als sie die Knochen der Alten unter den Händen gefühlt, da war's wahrhaftig gewesen, als sollte sie die an der Gurgel packen, ihr die Kehle zuhalten, bis sie nicht mehr schreien konnte – ha, nicht einmal mehr japsen!

Bertha hörte auf zu weinen und zu lachen. Aus ihrem Winkel aufschnellend, reckte sie sich in ihrer ganzen schlanken Jugend.

Hier war's aus, ja – aber es war doch noch nicht alles aus! Sie war jung, jung und hübsch. Ging's hier nicht mehr, ging's wo anders. Aber wo – –? Nach Hause –?! Ein häßliches Lächeln zog Berthas Mundwinkel herunter: da konnte sie ja mit der Mutter zusammen schnapsen. Nein, nein!

Aber wohin denn?! Vor Berthas umherfahrenden Augen stand plötzlich ein Bild. Sie sah sich im Gewühl des Mietsbureaus und sah den Dicken vor sich stehen und hörte deutlich seine Stimme. – – – – ›Achtzig Taler! Wenig Arbeit! Und wenn's Ihnen oben zu langstielig wird, dann kommen Sie eben runter, da is immer was los. Wer weiß, Sie machen da noch Ihr Glück!‹ – – – – – – – – – – – – – –

Warum nur war sie so töricht gewesen, dies Anerbieten auszuschlagen, sogar fort zu rennen?! Oh, so dumm!

Sie fing nun wieder an zu weinen, schlug sich vor den Kopf und schluchzte herzbrechend. Ratlos saß sie da.

Drinnen dröhnte die Wanduhr elf. Von der Haberkorn war kein Laut zu vernehmen, die ließ sich nicht mehr sehen, das war auch gut, sonst –!

Bertha ballte die Fäuste, die ganze, unbezähmbare Wut kam wieder über sie, in ihren Augen glitzerte es drohend. Die, die war schuld daran, wenn sie auf die Straße kam!

Auf die Straße – – –! Plötzlich war der Gedanke da. Ohne Anklopfen war er eingetreten, und nun stand er vor ihr, jeder Hülle bar, ganz nackt, und grinste sie an.

Und sie sah die Straße. Im Wind flackerten die Laternen, am zerfetzten Himmel blitzten die Sterne mit kaltem, grausamem Funkeln. Vereinzelte Frauengestalten wankten übers Trottoir, standen beim Laternenpfahl still und sahen sich suchend um. An der Ecke tauchte ein Schutzmann auf – und man sah seine Knöpfe blinkern – da wankten die nächtlichen Gestalten weiter, huschten fort, vom Winde getrieben.

Auf der Straße – huh! Sie fühlte einen Schauer und rang die Hände. Aber was blieb ihr sonst übrig? – – –

Und wieder stand Herr Lehmann vor ihr. Er lächelte sie breit an und zwinkerte ihr vertraulich zu; und doch war's ein geschäftskundiger Blick, mit dem er sie taxierte. Hatte er nicht recht, paßte sie nicht dazu, einzuschenken, zu kredenzen, zu animieren? – –

Da war's warm, da pfiff der Wind nicht, wie auf der nächtlichen Straße, und kein Schutzmann jagte einen auf. Und wenn die andren tranken, konnte man selber auch trinken – Bier, Wein, Likör – ha, viel, viel! Trinken: Sauren trinken, Süßen trinken, wonach es einen gelüstet! Lechzend fuhr ihre Zunge über die vertrockneten Lippen.

Nicht mehr dienen! Ehe sie wieder dienen ging – lieber sterben!

Auf der weißen Küchenwand zog's an ihr vorüber: Schatten, Schatten, müde Schatten. Da war manch eine darunter, die sie gekannt. War sie nicht auch selber dabei?!

Mit einem tiefen Seufzer schlug sie die Hände vors Gesicht und bebte in fröstelnden Schauern.

Wie die Schatten sie quälten! Sie sah sie auch bei geschlossenen Augen. – – – Sie reichten sich die Hände, sie schlossen einen Kreis um sie. ›Dienen, dienen, ewig dienen,‹ ächzten sie ihr ins Ohr. – – – – – – – – – – – – – –

Nein! Sie schrie laut auf. Nicht mehr dienen! Auch einmal herrschen, wie andere herrschen! Sich einmal nicht mehr schinden, sich nicht mehr hin- und herjagen lassen, sich nicht mehr ducken, sich nicht mehr die Nägel abarbeiten: nur um das bißchen tägliche Brot! Auch genießen!

Ein Haß hob sich in ihr, sie wußte selbst nicht gegen wen; und eine unbestimmte Vorstellung von: ›herrschen, herrschen‹.

Sich dehnend, reckte sie die Arme gegen die getünchte Küchendecke, an der die zitternden Lichtkringel tanzten. Ein kaltes, grausames Lächeln hob ihre Oberlippe: sie dachte an all die Männer, die ihr schon nachgestellt hatten. Nun würde sie ihre Macht erproben können ›im Restaurant mit Damenbedienung‹. ›Bedienung‹?! – O nein! Den Fuß wollte sie ihnen auf den Nacken setzen und – herrschen!

Ein harter, stählerner Glanz veränderte das Blau ihres Auges. An den Herdrand gelehnt, die Arme über der Brust gekreuzt, leise mit der Fußspitze wippend, stand sie sinnend. Das alte, grausame Lächeln blieb auf ihrem Gesicht.


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