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Im Mietsbureau in der Jägerstraße hatte Mine den Dienst gefunden.
Herr Müldner selber hatte sie gemietet. In seinem etwas schäbigen Überzieher und dem blank gebürsteten hohen Hut war er rastlos durch die überfüllten Räume des Vermietungs-Lokals gestrichen. Unter all den Mädchen und Frauen, die sich drückten und stießen und vordrängten, hatte er sie herausgefunden, sie, die bescheiden in einer Ecke stand und krampfhaft fest ihr Zeugnisbüchelchen in der Hand hielt. Er hatte sich ihre Atteste angesehen, während sie verlegen an ihrer Schürze zupfte – glänzend waren die ja nicht! Aber er hatte mit keiner Wimper gezuckt. Wenn man keine großen Mittel hat, darf man keine hohen Ansprüche machen, noch dazu, wenn fünf Kinder im Hause sind. Mit heimlicher Besorgnis hatte er sie beobachtet – würde sie sich's übernehmen?! Daß das Jüngste erst acht Tage alt war, verschwieg er.
Mit heimlicher Besorgnis hatte auch sie einen scheuen Blick auf ihn gewagt – würde er sie nehmen! Trotz der Zeugnisse?! Wenn der sich schon daran stieß, wo sollte sie dann wohl einen Dienst herbekommen? Und sie mußte doch einen Dienst haben! Alles Blut wich ihr aus dem Gesicht, zitternd stand sie auf ihren Füßen, die noch schwach waren von der Entbindung und geschwollen von der Anstrengung des weiten Weges und des langen Stehens.
Eine Last fiel ihr vom Herzen, als er sagte: »Ich gebe fünfundvierzig Taler!« Sie atmete tief auf.
Da sie nicht sofort sprach, nahm er an, sie zögre, die Fünfundvierzig seien ihr nicht genug, und so setzte er hastig hinzu: »Fünzig! Das ist aber auch das Alleräußerste.«
Sie waren beide froh, daß sie sich gefunden hatten. Gern hatte Mine ihre letzte Mark an der Kasse bezahlt und dann den Mietstaler, den Herr Müldner einem dünnen Portemonnaie entnommen, wie ein Riesengeschenk mit glücklichen Augen betrachtet. – – –
So war Mine nun schon über ein Jahr im Müldnerschen Hause. Die blasse Frau Müldner, die ein ewiger Husten quälte, hatte noch kein so gutmütiges Mädchen gehabt. Hier war Mine ganz an ihrem Platz; von der ersten Stunde an, in der sie mit dem schweren Tritt ihrer knarrenden Schuhe an das Lager der noch kranken Frau getreten und dieser das schreiende Kind aus dem schwachen Arm genommen, bis heute, da sie noch immer mit der gleichen Unermüdlichkeit Windeln wusch.
Herr Müldner hatte bessere Tage gekannt; guter Leute Kind, hatte er ein eignes Geschäft besessen; es war nicht seine Schuld, daß es damit bergab gegangen war. Er hatte Unglück gehabt; trotz allen Fleißes ließen sich gehabte Verluste nicht ausgleichen. Und er war, wie praktische Leute tadelnd sagten, von einer unglaublichen Vertrauensseligkeit, die seine sonstige Tüchtigkeit lahm legte. Dazu fünf Kinder, ziemlich rasch hintereinander, und eine kränkliche Frau! Er mußte froh sein, jetzt eine Stelle im Statistischen Bureau gefunden zu haben.
Die Müldnersche Wohnung war nur klein, parterre, in einem sogenannten Gartenhaus der Eisenacherstraße gelegen; es war immer ziemlich dunkel dort und auch etwas feucht. Im größten Zimmer, das durch eine Gardine in zwei Hälften geteilt war – in der einen Hälfte wurde gegessen, – schliefen Frau Müldner und die drei ältesten Kinder. Auf dem Flur, in einer dunklen Kabuse, stand Herrn Müldners Bett. In einem kleinen Stübchen, neben der Küche, schlief Mine mit den beiden Jüngsten. Dann hatten sie noch den Salon mit den hellblauen Ripsmöbeln; der war ein Heiligtum.
Mine hatte sich nach und nach zu einer gewissen Autorität aufgeschwungen, die Kinder hingen ihr an wie die Kletten und fürchteten doch den Schlag ihrer arbeitsrauhen Hand, durch den sie oft die schwache Mutter vertrat. Hier in dem arbeitsvollen Einerlei eines beschränkten Haushaltes hatte sich Mine entfaltet; nicht zu einer Blume, wie sie in freier Luft und Sonne gedeiht, aber zu einem harten, zähen Gewächs, das Hitze und Kälte gleich gut verträgt, das auch hinter Mauern, auf dem kleinsten Fleck Erde fortkommt.
Wenn Mine sich an ihrem Ausgangssonntag in dem Spiegel sah, wunderte sie sich selber, daß sie erst Mitte Zwanzig war. Schon so viel Falten in der Stirn! Die Hüften stark, der Rücken breit. All ihre Kleider hatte sie mit Mühe und Not weiter gemacht, denn Neues anzuschaffen, dazu langte es jetzt nicht. Nur ihr schwarzwollnes Staatskleid, in dem sie einmal einen seligen Sonntag verlebt, war noch unverändert. Das hatte sie in den Schrank der Herrschaft hängen dürfen; an der Wand ihrer Kammer wäre es sonst stockig geworden. Sie holte es nur vor, um es, wegen der Motten, ab und zu zu klopfen. Sonntags es anzuziehen, wenn sie, mit sämtlichen Kindern und dem Kinderwagen, in den Tiergarten zog, dazu war es ihr viel zu schade. Und an ihrem freien Sonntag, wenn sie in Mathildes Stube ihr Kind auf dem Schoß wiegte, da tat es auch noch das alte Golmützer Blaue, dessen Taille sie ganz ausgelassen und mit dunkleren Flicken unter den Armen ausgebessert hatte; dem schadete es nicht mehr, wenn es auch einmal naß gemacht wurde.
Mines kleine Frida – Mathildes ›Bräutigam‹ hieß Friedrich, daher der Name – war ein munteres Mädchen, und wenn man sagte: »Fridchen, kille, kille,« und sie mit zwei Fingern vorn am Hälschen zwickte, quiekte sie laut vor Vergnügen. Sie konnte schon lange lachen. Und wie dick sie war! Ordentliche Hängebacken. Viel dicker, als die kleine Irma von Müldners; und sie war doch nur vierzehn Tage älter als die.
Mine verglich im stillen immer die beiden Kinder mit einander. Und dann wußte sie doch nicht, ob sie sich so darüber freuen sollte, daß ihre Frida dicker war als die Irma; sie liebte beide. Auch klüger war Fridchen. Wunderbar genug; denn während sie sich Tag und Nacht mit der Irma beschäftigte, mit ihr schäkerte, ihr vorsprach und vorsang, lag Fridchen die ganzen Vormittage allein in ihrem Kissen in der verschlossenen Stube.
Mathilde hatte sich entschließen müssen, eine Aufwartstelle für den halben Tag anzunehmen; das, was Mine geben konnte – und sie gab alles, was sie verdiente – reichte nicht für beide.
Heut brachte Mine einmal wieder ihren Monatslohn hin; dann ging sie immer mit besonderer Freudigkeit. Sie konnte es sich nicht versagen, unterwegs ein halbes Pfündchen Kaffee für Mathilde und eine Kuchenschnecke für ihr Kind zu kaufen. Da die Läden heut, am Sonntag nachmittag, geschlossen waren, ließen der Kaufmann und der Bäcker sie hinten herum herein.
So lief sie mit ihren Schätzen nach der Colonnenstraße. Es war gar kein so weiter Weg, kleine dreiviertel Stunden, aber heute kam er ihr endlos vor. Sie war so freudig ungeduldig, so sehnsüchtig erregt. Vierzehn Tage hatte sie ihr kleines Mädchen nicht gesehn! Jetzt fing es schon an, sie zu kennen, sich zu freuen, wenn sie kam.
Beschwingten Schrittes eilte sie weiter. Wie die Leute hinaus ins Freie strömten! Alte und Junge, alle geputzt. Bei einem kleinen Mädchen in weißem Kleid, mit gewelltem blondem Haar, fiel ihr Elli ein; und bei Elli dachte sie an Reschkes, und so auch an Arthur. Wie es ihm wohl gehen mochte? Hoffentlich gut. Ob er sich wieder zu Hause angefunden hatte? Und wenn schon, und wenn er ihr auch einmal begegnen würde – das war doch jetzt alles schon so lange her, aus und vorbei.
Eine Köchin mit ihrem Schatz – er noch ein ganz junger Mensch – streiften an ihr vorbei; sie stürmten eilig in der Richtung gen Wilmersdorf. Da gedachte sie, ohne sonderliche Erregung, jenes Sonntags, an dem sie mit Arthur dorthinaus in die Felder gewandert. Wie die Zeit verging! Das waren nun schon zwei Jahre her.
Und ihre Gedanken glitten wieder zurück in die Gegenwart. All das, was gewesen, lag wie ein Traum hinter ihr, sowohl Freud als Leid. Sie wußte kaum mehr, daß ihr das alles einstmals sehr nahe gegangen war. Wozu auch daran denken?! Man hatte genug zu denken; so viel zu sorgen für jeden kommenden Tag, für so viel wichtige Sachen. Herr Müldner sagte dies, Frau Müldner das, die Kinder wollten jenes. Jetzt mußte gekocht werden, und jetzt gescheuert, und jetzt gewaschen, und jetzt die Kleinen ausgefahren, und jetzt die Stiefel geputzt, und jetzt Feuerung getragen, und jetzt Gott weiß was. Da blieb einem keine Zeit, über das nachzudenken, was nun einmal war, wie es war, und sich doch nicht ändern ließ.
Endlich war sie angelangt. Vergnügt eilte Mine die Treppen hinauf. Auf dem zweiten Stock schon glaubte sie Fridchens Stimme zu vernehmen; ei, krähte das kleine Ding nicht vergnügt? Sie hatte sich doch getäuscht; als sie oben im vierten Stock anhielt, um vor dem Eintreten Luft zu schöpfen vom eiligen Steigen, drang ein Wimmern an ihr Ohr.
Fridchen weinte –?! Rasch, ohne anzuklopfen, öffnete sie die Tür.
Mathilde stand übers Bett gebeugt und machte: »Su su.« Jetzt richtete sie sich auf. »St!« Sie legte den Finger an die Lippen und flüsterte dann, die Augen weit aufreißend: »Es is krank. Jottchen, ich jlaub, es hat de Krämpf!«
Die Kaffeedüte und die Kuchenschnecke entfielen Mines Hand; rasch trat sie näher.
Da lag in dem großen Bett das kleine Kind, zwischen den schweren, blaurot gewürfelten Kissen fast verschwindend. Sein Mündchen stand offen, seine Augen waren auch geöffnet, aber der gläserne Blick sah nicht die Mutter.
»Fridchen! Fridchen!« Sie rief das Kind an und schüttelte es; dann raffte sie die Kuchenschnecke auf und hielt sie ihm dicht vors Gesicht: »Kuck mal, Fridchen, kuck mal!« Und führte sie ihm an die Lippen: »Beiß mal, Fridchen, da beiß mal!« Aber die kleine Zunge leckte nicht; die Händchen, zu Fäusten geballt, den Daumen eingekniffen, streckten sich nicht aus.
»Es is krank,« sagte Mathilde mit ihrer sanften Stimme. »Ach Jottchen, so war meins auch, eh's starb; nur daß das noch kleiner war.«
»Jeses,« flüsterte Mine; sie konnte gar nicht laut sprechen, die Stimme versagte ihr. »Seit wann is se denn krank?« Sie sank vor dem Bett auf die Kniee.
»So an acht Tag. Immer abwechselnd, mal so, mal so. Se kriegt de Augenzähnchen. Stunden is se janz munter, da krabbelt se auf'm Boden rum. Heut zu Mittag hat se noch von mein Kaffee jetrunken und von meine Wurststulle jeknabbert. Nu is 's wieder nich zum besten mit se. Ja, ja, so 'ne Kinderches sind jleich weg, wie jarnischt!«
Mine sagte kein Wort; sie hob das kranke Kind aus dem Bett und fühlte in das offne Mäulchen. Ihr arbeitsharter Finger strich über das heiße geschwollene Zahnfleisch. Wimmernd preßte das Kind die Lippen aufeinander, bäumte sich und zuckte mit den geballten Fäustchen; sein ganzer brennender Körper zuckte, seine glasigen Augen verdrehten sich.
Mine stieß einen tiefen Seufzer aus – krank! Und sie hatte sich so auf ihr Fridchen gefreut! In einer Aufwallung heißer Zärtlichkeit drückte sie ihr Kind an die Brust. Als ob es sich da wohler fühle, so hörte es auf zu wimmern; das Zucken hörte auch auf, ruhig lag es.
Sie trug es ans Fenster, setzte sich auf den Stuhl beim Myrtenstock und prüfte, angstvoll befühlend, jedes einzelne Glied.
Nein, sehr abgefallen war Fridchen noch nicht! Besonders der kleine Bauch war dick. Und die Bäckchen auch noch schön dick, wenn auch ein wenig blaß. Sie drückte schallende Küsse, rechts und links, auf das gedunsene, schwammige Fleisch, und, als besäßen diese Küsse Zaubermacht, so fixierte sich jetzt der umherrollende Blick des Kindes – er heftete sich auf die Mutter.
Nun fing Mine an zu weinen. Und unter Tränen stammelte sie: »Fridchen, nu freu der! Ich bin bei der, Fridchen, deine Mamma!«
Das Mündchen verzog sich; sie nahm's für ein Lächeln. Glücklich ließ sie das Kind auf ihrem Arm tanzen.
Mathilde kam und brachte ein Kissen, Mine wickelte Fridchen hinein und hielt sie dann auf ihrem Schoß und wiegte sie sacht hin und her und summte dazu, bis die matten Äugelchen zufielen. Das Kind schlief. Die Mutter wagte keinen Laut. Unverwandt sah sie nieder auf das dicke Gesichtchen, das eine Leichenfarbe trug und tiefe Schatten um die Äugelchen zeigte, scharfgezeichnete, blaue Adern an den Schläfen und über der kleinen, aufgestülpten Nase.
Stunden vergingen so. Schon längst schien die Sonne schräger auf den Myrtenstock. Kein Laut. Niemand im Hof, niemand auf der Treppe, das Haus wie ausgestorben; jeder hatte heute das Freie gesucht.
Mathilde hatte sich aufs Bett gelegt, die letzten Nächte waren ihr durch des Kindes Unruhe schlaflos verstrichen; aber auch jetzt schlief sie nicht. Die Blicke starr gegen die Stubendecke gerichtet, träumte sie mit offenen Augen und lauschte dabei doch mit allen Sinnen in die Stille. Bald mußte ›er‹ kommen – bald, bald! Das Buch sagte es ihr ja täglich, immer wieder, so oft sie 's auch fragte.
»Mathilde!« rief Mine; sie hörte nicht. Das lange stumme Blicken auf die Züge ihres Kindes hatte die Mutter ängstlich gemacht; es dämmerte schon, und das ungewisse Licht ließ das bleiche noch bleicher erscheinen. Sie war froh, als Mathilde jetzt endlich angeschlorrt kam.
»Ob wer doch nich lieber mal mit ihm bei den Herr Dokter gehn?« wisperte Mine.
»Mit wem denn?« Mathilde war gänzlich zerstreut.
»Na, doch mit Fridchen! Ach Gott!«
»Aber nei! Was weiß so 'n Dokter! Ich bin damals auch nich bei 'n Dokter jegangen. 's Buchchen weiß besser Bescheid, das wer' ich mal fragen.«
»Oder wenigstens ins Klinik,« sagte Mine ängstlich. »Da kost's ja nischte!«
»Wer leben soll, der lebt; un wer sterben soll, der stirbt. Un vons Klinik kriegen Sie 's Kindchen jar nich wieder, da behalten sie 's jleich da.«
»Ne, ne, denn ja nich!« Mine preßte ihr Kind so fest an sich, daß es mit einem Aufschrei erwachte. Aber es war wohler, blieb aufrecht sitzen, griff mit matten Händen um sich und ließ sich von der Kuchenschnecke ins Mäulchen stopfen.
Mine war ganz versunken in ihr Spiel mit Fridchen. Sie lachte und schäkerte mit dem Kind; ohne recht zuzuhören, ließ sie Mathildes wunderliches Geschwätz an sich vorüber gleiten. Die war heute seltsamer denn je; nicht einmal einen Kaffee hatte sie gemacht. Unaufhörlich sprach sie von ihrem Friedrich, von der Trauung in schwarzer Seide, von der Hochzeitskutsche, und dann von dem Grab, darin die Schwester begraben war. Sie riß die Tür auf bei jedem Geräusch, das die heimkehrenden Nachbarn auf der Treppe verursachten, und fuhr hoch auf bei jedem Ruf, der vom Hof herauf schallte. Sie war von einer fröhlichen Geschwätzigkeit, einem zwischen kindischer Wichtigtuerei und geheimnisvollem Ernst schwankenden Wesen.
Voller Mond schien schon durchs Fenster, als sich Mine erinnerte, daß sie ja um zehn zu Hause sein müßte. Es war schon fast so spät. O weh, wie würde die kleine Irma nach ihr schreien!
Hastig legte sie ihr Kind nieder. »Schreiben Se mer ooch«, bat sie Mathilde.
»Wenn ich nur Zeit hab,« sagte diese verträumt.
»Na denn, wenn's Fridchen gutt geht, brauchen Se mer ja nich zu schreiben; aber wenn se wieder krank wird, ach, nich wahr, dann schreiben Se mer gleich?! Denn komm ich. Sonst erscht in vierzehn Tagen. Se vergessen's ooch nich, Mathilde, nich wahr? Mathildchen!« Sie rüttelte die Versunkene.
»Ja, ja.«
Mine stürzte fort. Nicht einmal zu einem Kuß auf Fridchens dicke Bäckchen hatte sie sich mehr Zeit gelassen!
Und doch, als sie die Treppe schon fast hinunter war, zögerte sie – sollte sie noch einmal umkehren? So sauer war ihr der Abschied noch nie geworden.
Ganz traurig ging sie nach Hause. Jetzt eilte sie nicht einmal sehr, das Herz war ihr so eigentümlich schwer, sie hatte daran zu schleppen. Fröhlich schwatzende Menschen, vom Vergnügen heimkehrend, streiften sie auf dem Trottoir; ach, so vergnügt war sie heute auch ausgegangen! Mit der verkehrten Hand wischte sie sich unter der Nase her und dann über die Augen. Das hätte sie nie geglaubt, daß ihr so bange nach dem Kinde sein könnte!
In der Eisenacherstraße wurde sie schon sehnsüchtig erwartet. Da sie keinen Hausschlüssel besaß, hatte sie noch eine gute Weile stehen müssen und warten, bis zufällig ein Hausbewohner aufschloß; die fünfundzwanzig Pfennige, die der Portier oder der Wächter fürs Einlassen bekam, konnte sie doch nicht daran wenden.
Die kleine Irma war schon den ganzen Nachmittag grämlich gewesen; sie zahnte und vermißte dazu noch die ihr gewohnte Wartung. Jetzt schrie sie aus vollem Halse, obgleich der Vater sie unermüdlich hin und her trug. Die ganze enge Wohnung war erfüllt von dem Geschrei; kein Mensch konnte schlafen, die größeren Kinder sielten sich in ihren Betten und fingen aus Langerweile an, sich gegenseitig mit den Kissen zu werfen.
Die schwache Frau Müldner war schon ganz erschöpft, mit einem stumm vorwurfsvollen Blick sah sie die so spät Heimgekehrte an.
Herr Müldner sagte gutmütig: »Na, Mine, heut haben Sie sich aber mal ordentlich amüsiert!« Und dann mit einem leisen Seufzer, nachdem sich die Tür hinter der Magd geschlossen, die den Schreihals mit sich nahm, fügte er hinzu: »Ja, so Mädchen haben's noch gut!«
In dieser Nacht fand Mine keinen Schlaf. Es war ihr gelungen, durch sanftes Schaukeln auf den Armen die schreiende Irma einzuschläfern; aber kaum legte sie sie in den Kinderwagen, so wachte sie schon wieder auf. Es half nichts, daß sie ihr den Lutscher in den Mund steckte, eine Flasche Milch warm machte, auch Zuckerwasser half nicht – Irma schrie.
Ihr quäkendes Gekreisch gellte durch die Stille der Nacht. Sie wollte gefahren sein, immer auf und nieder. Unausgesetzt schob Mine den Wagen; zuletzt, als sie in den Waden einen Krampf bekam vom langen Stehen, setzte sie sich auf ihren Bettrand, hakte den Fuß in ein Rad und stieß so den Wagen hin und her. So suchte sie ein wenig zu ruhen; aber es ging doch nicht, trotzdem ihr die überwachten Augen zufielen und der Kopf nach der Richtung des Kissens hin schwankte.
Gedanken kamen und quälten sie, die sie sonst noch niemals gequält hatten; Gedanken an ihre kleine Frida. Ob die jetzt schlief? Oder ob die jetzt weinte? Mathilde würde doch gut gegen sie sein? Ja, gut war die schon, aber ob die auch aufpaßte? Und mit einem Mal erschien ihr Mathilde so sonderbar, und alles, was ihr bei ihrem Dortsein nicht aufgefallen war, fiel ihr jetzt auf. Die war doch gar zu zerstreut. Und wenn die nun so den ganzen Vormittag auf ihre Aufwartstelle ging und Fridchen einschloß?! Der Angstschweiß brach Mine aus, sie saß wie erstarrt. »Ach, Fridchen, Fridchen!«
Irma quäkte unwillig auf, sie wollte weiter gefahren werden.
»Ss – ss – schlaf, schlaf!« Unausgesetzt schob Mine wieder den Wagen, immer auf und nieder, immer hin und her, bis das Morgengrau sich durch die Spalten der Jalousie stahl.
Es fröstelte sie, obgleich sie sich einen Unterrock übergeworfen hatte, und die Luft in dem engen Stübchen neben der Küche sehr drückend war. Alle möglichen Stellungen versuchte sie, der Rücken war ihr ganz steif, das eine Bein auch, die Füße waren ihr eingeschlafen, die Arme eiskalt. Da nahm sie das Kind aus dem Wagen und kroch, es im Arme haltend, in ihr Bett. Weich bettete sie es an ihre Brust.
Und da war es endlich zufrieden. Tappte mit den kleinen Händen an ihr herum, reckte die Beinchen, schmiegte sich wohlig an, stieß einen glucksenden Laut des Behagens aus und wurde dann ganz still.
Mine fühlte ein warmes Wohlgefühl durch ihre Glieder rinnen; die Angst, die sie die ganze Nacht gequält, wich. Fest drückte sie das schlafende Kind an sich und beugte sich ganz darüber in selbstvergessener Hingabe. Sie hielt ja ihre kleine Frida im Arm.
So kam auch ihr noch der Schlummer für eine kurze Stunde.