Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
So viel hatte Mine kaum je geredet, als da sie Fräulein Haberkorn Bertha als Dienstmädchen anpries.
»Vor der brauchen Se keene Bange zu haben, die is aus meine Heimat. Un wenn de Bertha ooch keene so gutten Zeugnisse hat, desto mehr wird se sich nu derzu halten.«
Und Bertha schlug, als Mine sie vorstellte, die Augen nieder und trug die Haare wieder so glatt gescheitelt, wie damals, als sie vom Dorf in die Stadt kam.
Eine Raffinierte war das wenigstens nicht; und sanft sah sie aus. Das und Mines treuherzige Versicherungen halfen Fräulein Haberkorn, ihre Scheu, einen zweiten Menschen in ihre einsame Häuslichkeit aufzunehmen, zu überwinden; sie entschloß sich, nach langem Zögern, Bertha zu mieten. Aber mehr wie fündundfünfzig Taler wollte sie durchaus nicht geben. »Einem Mädchen mit solch schlechten Zeugnissen auch noch höheren Lohn?!« Sie feilschte um jeden Groschen; zu mehr wie fünfundfünfzig Taler ließ sich das Fräulein nicht bringen, trotzdem Mine ihr zuredete, wie einer störrischen Ziege.
Bertha stand dabei und sagte kein Wort; sie hielt beharrlich die Lider gesenkt.
Mine strahlte, die Sache zustande gebracht zu haben, trotzdem Bertha nicht mit besonderer Lust die Stelle anzutreten schien. Aber das half nichts, sie würde sich schon eingewöhnen, die Alte war gar nicht so schlimm, wenn man sie zu nehmen wußte. Daß Mine froh war, die Freundin nicht länger durchfüttern zu müssen, sagte sie natürlich nicht. Das besorgte Mutter Reschke ganz gründlich; die machte großen ›Krach‹ und seitdem waren sie und Bertha Todfeinde.
Zu Beginn war Bertha freundlich und gefällig im neuen Dienst; sie hatte es sich nun einmal klar gemacht, so rasch durfte sie nicht wieder wechseln. Auch redete ihr die Dame nicht in ihre Arbeit herein, ließ sie unbehelligt in ihrer Küche und saß meistens still drinnen im Zimmer an dem großen Zylinderbureau mit den vielen Schubfächern. In der ganzen Wohnung war kein Laut, kein Wort; nur das Ticken der Wanduhr ging einförmig durch die Stille.
Nach stürmischen Dienstzeiten, in denen ihr kaum eine Minute für sich selber übrig geblieben, tat die Stille Bertha anfänglich gut. Ihre hastigen Bewegungen wurden gelassener; ihre Nerven, vom spät bis in die Nacht Aufbleibenmüssen, vom abhetzenden Getriebe der Tage, vom steten die Zähne Zeigen, wie vibrierende Saiten in unaufhörlich zitternde Schwingungen versetzt, beruhigten sich allmählich.
Aber nicht lange, und die Ruhe der Umgebung, die erst so wohltuend auf sie gewirkt, führte zur Abspannung. So viel hatte Bertha noch nie in ihrem Leben gegähnt, wie jetzt hier in der einsamen Küche; da konnte sie es ja wahrhaftig besser vertragen, Nacht für Nacht, bis gegen Morgengrauen, aufzusitzen. Es lag auf ihr wie ein Alp der Langenweile.
Tag für Tag begann sie die Stille peinvoller zu empfinden. Wenn sie wenigstens noch öfter ausgekommen wäre! Aber das Fräulein hatte es in der Gewohnheit, die meisten Einkäufe selber zu besorgen; mit ihrem verschabten Ledertäschchen am Arm strich sie gegen Dunkelwerden, wie eine Fledermaus, durch die Straßen und spähte billige Kauf-Gelegenheiten aus.
Es wurde sehr einfach, sehr knapp gekocht. In der ersten Zeit hatte Bertha, ausgehungert durch die Wochen ihres Aufenthaltes bei Mine und den eignen Geldmangel, versucht, der mageren Kost einigen Geschmack abzugewinnen; aber kaum hatte sie den ersten Monatslohn erhalten, so schüttete sie nach alter Gewohnheit ihr Essen in den Mülleimer und deckte es mit Asche zu. Vor den Butterbroten, die ihr die Alte drinnen am Tisch selber strich, grauste ihr; immer sah sie, wie die dürren Finger die Scheibchen des Belages anfaßten. Der Ekel schüttelte sie.
Hinter der Kiste mit Feuerung, die in der Küche aufgestellt war, richtete sie sich eine eigne kleine Speisekammer ein; da hielt sie sich, je nach Gelüst, Schokoladentafeln, Bonbondüten, Stachelbeertörtchen, Windbeutel mit Schlagsahne und dergleichen mehr. Auch eine Flasche süßen Likörs war dort verborgen.
Die Abende waren so einsam. Um acht schloß Fräulein Haberkorn selber die Tür, die nach der Hintertreppe führte, zu, legte die Riegel vor und nahm den Schlüssel mit in die Stube. An ein Hinunterhuschen und ein abendliches Schwätzchen vor der Haustür war nicht zu denken. Bertha kam sich vor, wie eine Gefangene. Einer stillen, stetigen Handarbeit war sie längst entwöhnt, die hatte so wie so niemals zu ihren besondren Liebhabereien gehört; jetzt standen ihr die Finger gar nicht mehr danach.
So saß sie untätig am Küchentisch; es war zum Verrücktwerden vor Langerweile, wäre ›der Süße‹ nicht gewesen! Von dem nahm sie dann ein Schlückchen und noch eins, bis eine angenehme Empfindung des Fliegens sie überkam, ein Gefühl des Enthobenwerdens; sie war der Umgebung entrückt. Nichts mehr von Totenstille, nichts von Einsamkeit – wie ein leichter Schleier fiel es über ihre Gedanken, zarte Rosen blühten auf ihren Wangen auf, und ihr Mund lächelte. –
Eines Tages kam Mine für ein paar Augenblicke herauf. »Ne, Mädel,« sagte sie vorwurfsvoll, »warum läßte der denn gar nich sehen? Ich denk schon, du bis krank; oder biste mer beese?«
Bertha, die die Tür nur ein Ritzchen geöffnet hatte, gerade weit genug, um Mine hereinschauen zu lassen, schnitt eine häßliche Grimasse. »Die Olle,« sagte sie finster, und ein tückisches Funkeln glomm in ihren Augen auf, »die läßt mer ja nich! Wenn ich das gewußt hätte! Eingespunden, begraben bei lebendigem Leibe –«
»Bertha!« rief aus der Stube Fräulein Haberkorns scharfe Stimme, »mit wem sprechen Sie denn da?«
Bertha drückte geschwind leise die Tür zu. »Ich?! Ich spreche mit mer selber!« – –
Draußen war Frühling. Fräulein Haberkorn schickte ihr Mädchen jeden Sonntagnachmittag in die Kirche, aber was nützte der die dadurch gewonnene Stunde?! Eine schläfrige Nachmittagspredigt anzuhören, fiel ihr nicht ein; allein herumzubummeln durch die sonntäglichen Straßen, war ebensowenig ein Vergnügen, man kam sich ganz verlassen vor, wie ausgestoßen. Alle Mädchen waren zum Vergnügen mit ihren Schätzen. Selbst Mine traf sie nicht daheim; mit Reschkes war sie böse – wohin sollte sie? Sie würde sich doch noch ›einen‹ anschaffen müssen; aber selbst das würde ihr nichts nützen, mußte sie doch an ihrem freien Sonntag, ehe um zehn das Haus geschlossen wurde, wieder da sein. Darauf ging keiner ein; das lohnte ihm erst gar nicht.
In zornigem Ingrimm ballte Bertha die Hand, ihr Fuß trat heftig auf. Kündigen! Ja, kündigen, rasch! Man verdüsterte hier ganz, seltsame Gedanken suchten einen heim in dieser ewigen Einsamkeit.
Oft schon hatte Bertha in der ersten Wut vorgehabt, dem Fräulein den Dienst vor die Füße zu werfen; aber dann kamen wieder Stunden, in denen sie so müde war, so unglaublich müde und unlustig, daß es ihr vor allem Neuen grauste. Wieder ein neuer Dienst, wieder eine neue Plackerei. Hier konnte sie wenigstens ungestört ihren Süßen nippen. Und sie nahm Schluck um Schluck, bis ihr Unbehagen eingelullt war. So kam es, daß sie doch immer wieder in dieser Stelle blieb.
Heute, am Nachmittag eines wunderschönen Maisonntags, war Fräulein Haberkorn ausgegangen. Eine Dame war kürzlich dagewesen und hatte sie, die bekannte Wohltäterin, aufgefordert, an den Bestrebungen eines Vereins teilzunehmen, der es sich, unter andrem, zur Aufgabe machte, am Sonntag nachmittag alleinstehende junge Mädchen um sich zu versammeln und ihnen ein Heim und angenehme Unterhaltung zu bieten.
Ja, da paßte die gerade hin! Der reine Hohn! »Haha!« Bertha lachte so gellend auf, daß die einsame Wohnung widerhallte. Huh – ganz allein! Nicht mal ein Vogel war da, nicht mal ein kleiner Hund oder ein Kätzchen! Sie sah sich scheu um, und dann lief sie ans Fenster und lehnte sich weit hinaus. Aber was sah sie in dem engen Hof?! Nichts wie rußige Wände und oben drüber ein ganz kleines Stückchen Himmel. Kein Mensch erschien auf dem Hof, an all den Küchenfenstern zeigte sich kein Gesicht; sie waren ja alle, alle aus und genossen den Sonntag.
Wenn sie doch wenigstens hätte auf die Straße sehen können! Aber Fräulein Haberkorn hatte die Vorderzimmer zugeschlossen. Auch das nicht mal! Und das Wetter war so herrlich! Der Sonnenstrahl, der sich durchs winklige Fenster des Berliner Zimmers stahl, glänzte wie lauteres Gold; das Stückchen Himmel, das Bertha sehen konnte, war tiefblau. Oh – noch nie hatte sie eine solche Gier gehabt, nach Luft, Luft, Freiheit, Lustigkeit!
Wie eine Wilde lief sie vom Zimmer in die Küche und wieder aus der Küche ins Zimmer. Sie reckte die Arme über den Kopf und dehnte sich, und dann stieß sie Schreie aus, laute Schreie – sie wollte auch lustig sein, immer lustig, warum sollte sie nicht lustig sein?! – Etwas hören, wenn's auch nur die eigne Stimme war! Aber die eigne Stimme erschreckte sie; zusammenschauernd schwieg sie und kauerte sich auf einem Stuhl zusammen. Doch nicht auf dem Stuhl am Fenster – dann schon lieber gar nichts sehen, als das bißchen, das nur die Sehnsucht weckt und doch nicht befriedigt, – nein, auf dem Plätzchen am Ofen, im Winkel. Da saß sie lange, scheinbar wie ein Hase mit offnen Augen schlafend.
Dann, nach einem endlosen Gähnen, sprang sie plötzlich auf und fing das ruhelose Umherwandern wieder an, und bei dem Umherwandern stöberte ihr rastloser Blick bald hier, bald dort. Viel war ja auch nicht zu sehen, sie kannte alles längst, aber da – da hatte ja die Haberkorn den Schlüssel stecken lassen zur Mittelschublade des Zylinderbureaus!
Eins, zwei, drei – da saß sie auch schon davor. Wie interessant! Ihre Finger wühlten in den Papieren. Zum Lachen, die Alte hob sich alle Rechnungen auf, von Gott weiß wann! Und da waren Quittungen und da Schuldscheine und da Kurszettel! Und da eine Pappschachtel mit lauter Kupferpfennigen und da eine mit lauter Zwanzig-Pfennigstücken! Wie Fischschuppen glänzten die winzigen Dinger. Wer doch auch so recht viele davon hätte! Die waren auch gutes Geld. Wohlgefällig ließ Bertha die Silberschuppen von einer Hand in die andre gleiten. Sie saß einmal wieder ganz auf dem Trocknen; wer sollte denn auch mit dem bißchen Lohn auskommen?! Von dem Süßen kostete die große Flasche eine Mark und fünfundzwanzig Pfennige; eine kleine lohnte es sich erst gar nicht herauf zu holen.
Sie konnte den Blick nicht von den Silberschuppen wenden, es mußten ihrer eine Unmasse in die Pappschachtel gehen. Wieviel mochten es wohl sein? Sie fing an zu zählen, aus der Schachtel in ihre Hand, und aus der Hand in ihre Schürze. Ein ganz nettes Spielchen – da – draußen rappelte es an der Korridortür, ein Schlüssel wurde eingesteckt, jetzt herumgedreht! Die Alte! Da war sie schon.
Bertha hatte gerade noch so viel Zeit gehabt, die Münzen in die Schachtel zu werfen und den Schub zuzustoßen.
Fräulein Haberkorn musterte das vor Überraschung rot gewordene Mädchen; sie schien erstaunt, Bertha in der Stube zu finden. Argwöhnisch durchsuchte ihr Blick das Zimmer – jetzt blieb er auf dem Zylinderbureau haften – der Schlüssel steckte! Ihre Pupillen erweiterten sich, mit dem Ausdruck ängstlichen Mißtrauens fuhren ihre Augen vom Schreibtisch zu dem Mädchen, und wieder von diesem zum Schreibtisch. Aber sie sagte nichts.
Am andren Nachmittag bot sie Bertha mit ungewohnter Freundlichkeit an, die gute Luft zu genießen und mit einigen kleinen Besorgungen einen Spaziergang zu verbinden. Bertha griff zu, sie hatte ein wahnsinniges Verlangen, jemanden zu sprechen; Mine würde sie wohl kaum antreffen, aber vielleicht war wenigstens Fridchen daheim!
Als sie schon die Straße zu Ende gegangen war und ein Weilchen vor einem Schaufenster getrödelt hatte, fiel ihr ein, sie hätte doch gleich die leere Flasche vom Süßen mit herunter nehmen und sich drüben beim Destillateur an der Kirchbachstraßenecke neu füllen lassen können. Diese alte Bekanntschaft hatte sie längst wieder aufgefrischt, aber es kam immer nur zu ein paar flüchtigen, abgestohlnen Worten; heute würde sie ordentlich Zeit haben, vorm Schenktisch zu ständern und den Duft einzuziehen, den sie so sehr liebte.
Rasch kehrte sie noch einmal um und schlüpfte die Treppe herauf. Geräuschlos schloß sie die Küchentür auf – daß nur die Haberkorn nichts hörte! Mit offnem Mund, wie angewurzelt blieb sie stehn. Ein Blick genügte.
Die Tür, die von der Küche in ihr Kämmerchen führte, stand halb offen, durch den Spalt sah sie's: da kniete die Haberkorn vor ihrem geöffneten Korb. Kaum daß sie das Haus verlassen hatte, mußte die sich darüber hergestürzt haben, denn die Sachen waren schon teilweise herausgerissen und lagen auf dem Boden. Und die Alte wühlte und wühlte.
Was machte die, was suchte die da?! Ein Wutschrei wollte sich Berthas Lippen entringen. Sie war doch keine Diebin, die sich visitieren lassen mußte – oho! In ihren Augen funkelte es auf; die Zähne zusammenbeißend, daß sie knirschten, ballte sie beide Hände zu Fäusten und schwang sie in der Luft. Sich auf die stürzen, die am Halse packen: ›Was unterstehst du dich? Wart, ich werd dich lehren! Wart, du!‹
Eine furchtbare Drohung lag in Berthas Haltung, ein wildes Flackern war in ihren Augen, ihr tief erbleichtes Gesicht verzerrte sich – draufzu, die packen!
Aber jetzt sanken ihr die Arme, wie in plötzlicher Lähmung, herunter; ihre Augen verloren allen Glanz, ihre sich aufbäumende Gestalt wurde schlapp, alle Energie schien gewichen. Wozu denn alles? Sie bekam ja doch kein Recht. Hatte die Frau im Chambregarnie ihr recht gegeben? Hatte damals Frau Selinger ihr geglaubt? Nein, niemand! Und wenn sie die da packte und behandelte, wie sie's verdiente –?! Nein, nein – mutlos senkte sich ihr Kopf – Recht würde sie auch nicht bekommen.
Einen Augenblick noch stand sie zögernd, finster sinnend, dann schlüpfte sie wieder hinaus, so geräuschlos, wie sie gekommen.
Von nun an gingen Herrin und Dienerin um einander herum, wie zwei tückische Hunde, die sich, mit eingekniffnem Schwanz, umschleichen, anscheinend friedlich, anscheinend harmlos, und doch immer einer vor dem andren auf der Hut.
Bertha veränderte sich von Tag zu Tag mehr. Nichts von der früheren leichten Anmut war mehr in ihren Bewegungen. Sie schlorrte daher, als sei ihr alles zu viel, jegliches Tun zu mühsam. Ihr Blick war matt, oft ganz verglast. Ihr, die sonst hundertmal Lärm geschlagen und ihre Zunge flink gerührt hätte, bei all dem, was ihr nicht paßte, versagte jetzt das Wort. Das Schweigen um sie her, mächtig das ewige Einerlei der Tage beherrschend, drückte auch ihr den Mund zu. Die Lautlosigkeit kam aus den Ecken auf sie zugekrochen, legte ihr die schweren Tatzen auf die Schultern und drückte sie nieder. Eine grenzenlose Hoffnungslosigkeit hatte sich ihrer bemächtigt. Es konnte ja nie besser werden! Auch nie anders; ob in dieser Stelle oder jener, immer die gleiche, freudenarme Aussichtslosigkeit!
Immer tiefer, tiefer sank, wie ein unentrinnbares Netz, eine Lethargie über sie, aus der es kein Aufraffen gab.
Selbst im Schlaf holte sie sich keine Frische. Da träumte sie von Fräulein Haberkorn; die war stärker als sie. Die beugte sich über das Bett mit ihrem dürren Hals, ihre dünnen Lippen waren in eisigem Schweigen geschlossen; sie streckte die Hand im schwarzen Glacéhandschuh aus und legte sie ihr auf die Brust. Die Hand drückte wie ein Alp. Weg, weg!
Die Schlafende stöhnte, rang nach Luft und stieß mit Händen und Füßen. Sie bäumte sich, sie wehrte sich, sie rang um ihr Leben – weg, weg!
Die schwarze Hand drückte noch immer – da – Bertha packte zu und erwachte zugleich von dem langgezogenen Schrei, den sie ausstieß.
Von einem nervösen Zittern befallen, von einem schrecklichen Herzklopfen gepeinigt, saß sie ächzend im Bett. Um sie her war alles still – einsam – war niemand! Und doch schauerte sie zusammen in plötzlicher Furcht, krallte die Finger in die Haare und sah um sich mit scheuen, verwilderten Blicken.
Kahl, leer, freudlos, ereignislos verstrichen die Tage.
Zuweilen kam ein Orgeldreher auf den Hof, dann stürzte Bertha ans Fenster in erregter Hast. Aber Fräulein Haberkorn schalt soviel herunter auf das Gedudel, daß der Wirt im Torweg ein Plakat anschlagen ließ:
›Betteln, Hausieren, Musizieren bei
Polizeistrafe verboten.‹
Nun kamen die Orgeldreher auch nicht mehr.
Eines Abends brannte der Dachstuhl eines benachbarten Hinterhauses; eine arme Frau, die hoch oben eine Mansarde inne hatte, schrie mit ihren Kindern um Hilfe.
In grausenvollem Entzücken stand Bertha auf dem Küchenfensterbrett, den einen Arm ums Fensterkreuz geschlungen, und beugte sich weit über. Ihre Kleider vom Zugwind erfaßt, wehten wie eine Flagge; einzelne Funken, vom brennenden Dach herübergetrieben, stoben ihr ins Gesicht. Ihre Nüstern blähten sich, ihre weißen Zähne entblößten sich in einem Lächeln – ha, nur eine Abwechselung, nur eine Abwechselung, um jeden Preis!
Es betrübte sie fast, daß die Feuerwehr den Brand schnell löschte und die erregten Schreie der Furchtsamen nicht mehr ihr Ohr kitzelten. Bald war die einförmige Stille wieder da.
Aber Bertha lag wachend in ihrem Bett, die ganze Nacht; ihre aufgereizten Nerven konnten noch immer nicht zur Ruhe kommen. Sie fühlte sich belebter, aufgerüttelt aus ihrer stumpfen Gleichgültigkeit – oh, wie gut ihr die kleine Abwechselung getan hatte!
Lieber das Schrecklichste, nur nicht dies tötende Einerlei. Wenn der Süße nicht gewesen wäre! Sie trank immer häufiger davon, oft schon am frühen Morgen, und immer größere Schlucke. Aber sie hatte im halben Umnebeltsein nicht mehr die angenehme Empfindung fröhlichen Entrücktwerdens, wie nach früherem Genuß; jetzt machten ein paar Schluck gar keinen Eindruck, sie mußte mehr nehmen. Und dann wurde ihr Körper schwer, die Gedanken vergingen ihr; sie schlief ein, auf dem Küchenschemel sitzend, den Kopf hintenüber an die Wand gelehnt. Wenn sie dann auffuhr aus bleiernem Schlaf, war sie gereizt und übellaunig; sie hätte alles zusammenschlagen können, ihre Hände zitterten, ihre Mundwinkel zuckten in verhaltner Erregtheit. Ihr war schlecht zu Mut, und doch trank sie – es war ihre einzige Zerstreuung. –
Das Frühjahr war geschieden. Ob Frühling, ob Sommer, Bertha bemerkte den Übergang nicht. Sonntags ging sie nicht mehr aus; es ärgerte sie so, wenn sie Leute froh sah. In sich gekehrt und verbissen hockte sie daheim, oder sie warf sich in ihrer Kammer aufs Bett und verschlief Stunden des langen, hellen Sommernachmittags.
Ihr Spiegel zeigte ihr ein blasses Gesicht und matte, umschattete Augen; dann brach sie in Tränen aus, in brennende, fressende, zornige Tränenströme und ließ sich vor ihrem Lager auf die Kniee fallen und vergrub den Kopf in den Kissen. So blieb sie liegen, matt, zerknickt, ganz kaputt gemacht.
Fräulein Haberkorn hätte zufrieden mit dem häuslichen Mädchen sein können, aber sie war es doch nicht. Wer sagte ihr, was diese Stille dachte?! Marder zu trauen?! Mitunter fing sie einen Blick dieser blauen, leicht von unten herauf schielenden Augen auf, der sie beunruhigte. Sorgsam wachte sie darüber, daß ihre Magd mit niemandem im Hause verkehrte. Kein Mensch durfte in die Küche; auch Mine nicht, seit sie die kürzlich in vertrauter Unterhaltung mit Bertha betroffen. Warum kam die so heimlich angeschlichen? Einen Korb trug sie noch dazu am Arm, recht geeignet, um etwas wegzuschleppen.
»Was wollte die Reschke hier?« hatte Fräulein Haberkorn gefragt, als Mine, gekränkt von deren mißtrauischem Blick, sich rasch gedrückt hatte. »Sie besuchen –?! Besuche in der Küche und Unterredungen auf den Hintertreppen sind mir nicht erwünscht. Bei solchen Klatschereien kommt nichts heraus; schlechte Zeugnisse sind die Folge. Das sollten Sie doch wissen!«
Schlechte Zeugnisse! Bertha zuckte zusammen – sie hatte schlechte Zeugnisse. Wenn nur die Haberkorn davon nicht reden wollte! Davon konnte sie nicht hören. Und immer kam die in letzter Zeit damit, als hätte sie es gerade darauf abgesehen, sie zu reizen. Ein grobes Wort schwebte ihr auf der Zunge, aber die Kraft fehlte ihr, es auszusprechen. Sie senkte den Kopf und schielte nur mit einem raschen, finstren Blick von unten herauf die Herrin an.
Fräulein Haberkorn legte ihr, seit sie selber allsonntäglich an der Vereinigung teilnahm, die jungen alleinstehenden Mädchen an freien Sonntagnachmittagen ein Heim und Unterhaltung bot, Bücher in die Küchentischschublade. »Lesen Sie darin, es wird Sie interessieren, und es wird Ihnen zugleich gut sein!«
Aber Bertha warf bald die ›langweiligen Dinger‹ in einen Winkel oder trampelte sinnlos heftig darauf herum, von einem ihrer stummen Wutanfälle gepackt. Was da drin stand, interessierte sie garnicht. Das war von solchen geschrieben, die ja gar nicht wußten, wonach ein Mädchen verlangt.
Wenn sie doch wenigstens Mine hätte einmal sprechen können! Die war aber nur spät zu Hause zu treffen. Eine unerklärliche Sehnsucht nach Mine ergriff sie. Am Abend, als sie dem Fräulein den Tee hereingebracht – Fräulein Haberkorn trank immer, ob's Winterkälte, ob's Sommerhitze war, ihren dünnen Tee – fragte sie, ob sie eine Stunde ausgehen dürfe?
»Jetzt, am Wochentag –?! So spät abends –?!«
Also ›nein‹! Fräulein Haberkorn war noch gar nicht fertig mit ihrer Verwunderung, da wendete sich Bertha auch schon ab. Ohne abzuwarten, ohne ihrer Bitte noch ein weiteres Wort hinzuzufügen, verließ sie das Zimmer in stummem Trotz.
In der Küche war es stickig und schwül; dumpf und brütend. Kein Lufthauch wehte von dem engen Hof herauf. Von irgendwo kam Mägdegesang, unrein und larmoyant.
Mit einem unartikulierten Laut riß sich Bertha das Kleid am Halse auf und rang nach Luft, den Mund weit aufgerissen, die Arme emporgereckt.
Dann fiel sie schwer auf ihren gewohnten Platz am Küchentisch. Mit der rechten Faust die Wange stützend, kaute sie an den Nägeln der linken Hand. Ihre Stirn, über der das seidene Blondhaar gescheitelt lag, war in tiefe Falten gekrampft.
Die Sommernacht wurde dunkler und dunkler, jedes Licht hinter den Fenstern des Hauses erlosch.
Noch immer saß sie unbeweglich. Ihre Gestalt war in der Finsternis nur zu ahnen durch die noch finstreren Umrisse und das glitzernde Weiß der rastlos hin und her rollenden Augäpfel. –
Als an einem Vormittag der folgenden Woche Fräulein Haberkorn einen ihrer gewohnten, geheimnisvollen Gänge zum Bankier antrat, hatte sie kaum das Haus verlassen, als Bertha die Küchentür hinter sich zuschlug und die Treppen hinabflog. Mochte das Gemüse anbrennen, die Suppe überschäumen – Menschen, Menschen, sie mußte Menschen sehen!
Ein paar Tage lang war sie krank gewesen, hatte sogar im Bett liegen müssen; was ihr eigentlich fehlte, konnte sie nicht sagen. Die Gier nach Leben, nach Menschen. O, nur nicht mehr diese furchtbare Einförmigkeit! Diese Einsamkeit, in der Gedanken aufstanden aus allen Winkeln, die einen anstierten mit irren, bösen Augen, bis man selbst ganz irr und wirr wurde. Die zu einem sprachen, mit flüsternden Stimmen, und doch so eindringlich, so deutlich, daß man jedes Wort verstand. Man hörte die, auch wenn man beide Hände gegen die Ohren stemmte und in der Küche auf und nieder rannte; immer hin und her, wie ein wildes Tier, immer hin und her.
Mit einem tiefen Seufzer atmete Bertha die freie Sommerluft vor der Tür. Gut, daß sie sich endlich aufgerafft und des Fräuleins Fortsein wahrgenommen! Und doch fühlte sie sich gleich so matt, so niedergeschlagen, daß sie am liebsten wieder hinaufgegangen wäre. Jedes Knarren eines Wagens, jedes Hundegekläff erschreckte sie und ließ sie nervös zusammenschauern.
Sie lehnte am Türpfosten mit verdrossenem Gesicht, die Arme über der Brust gekreuzt; in müder Gleichgültigkeit blinzelten ihre Augen in den Sonnenschein. Das heitre Leben der heute so freundlichen Straße interessierte sie nicht mehr.
Unweit der Tür, auf dem Trottoir, hatte sich ein ganzes Rudel Kinder zusammengefunden; mit neugierig aufgerissenen Augen umstanden sie die kleine Elli Reschke. Diese hatte über ihr buntes Kleidchen ein schwarzes Tuch der Mutter gehängt, dessen Zipfel hinten lang über den kurzen, roten Rocksaum schleifte. Mit den Händen in der Luft fuchtelnd, mit allerlei Gesten ihre Erzählung begleitend, schilderte sie augenscheinlich etwas mit erregter Wichtigkeit. Auf ihrem altklugen Kindergesicht lag ein sonderbarer Ausdruck: ein Gemisch von stolzer Wichtigmacherei und scheuer Furcht.
Und vor Reschkes Keller ballte sich ein ganzer Knäuel Erwachsener: nur einzelne Männer, vorzugsweise Frauen, und sämtliche Dienstmägde der Nachbarschaft. Sie verstopften den Treppenabstieg, tuschelten halblaut, wiesen in den Keller hinunter, zogen bedauernd die Achseln hoch, schüttelten die Köpfe und tuschelten wieder.
Da war ein Unglück passiert! Da mußte man dabei sein! Wie ein Pfeil schnellte Bertha empor – nichts mehr von Gleichgültigkeit, sie war ganz Neugier. In ihren Augen funkelte es auf; rasch und geschmeidig schlich sie sich heran, den Kopf vorgestreckt, das Näschen in die Luft gehoben.
»Was is los?! Is was passiert?!«
Niemand antwortete ihr, aller Aufmerksamkeit war auf eine Frau gerichtet, die eben jetzt auf der untersten Stufe erschien. Alle Stimmen riefen durcheinander:
»Na, man los, Frau Büxenstein, erzählen Se!«
»Is es denn wirklich wahr? Ne, die Reschkes, so'n Pech!«
»Is es denn möglich, so ufn Plotze!«
»Haben Se ihr jesehn?!«
»Ob ik ihr jesehn habe,« sagte Frau Büxenstein und wischte sich mit dem Taschentuch über das feiste Gesicht. »Ui je, die Hitze! Ik stehe doch mit die Reschken sozusagen uf ›du un du‹. Un ihr habe ik ufwachsen sehen. Ne, det arme Mädel, in de scheensten Jahre! Wer det jedacht hätte! Jestern abend saß se noch hier!« Sie zeigte auf die oberste Stufe der Treppe, und alle wichen zurück und betrachteten interessiert das Plätzchen.
»Hier war et. Da saß se noch jestern abend und schnappte en bißken Luft. Ne, det sollte mich eener gesagt haben!«
»Elend genug sah se aus,« rief ein hübsches rosiges Dienstmädchen, »wahrhaftig!« Sie schlug mit der Hand an den blendend weißen Schürzenlatz, der sich über ihren Busen spannte. »Haut un Knochen, man konnte bange vor ihr werden!«
»Ich mochte ihr ganz jerne,« sagte irgend jemand.
»Ich auch!«
»Ich auch!«
»Bei uns kam se öfter!«
»Oh, bei uns alle Tage!«
»Mir hatte se besonders jerne,« sagte die Büxenstein und wischte wieder mit dem Taschentuch. »Se war ja man en bißken maulfaul, aber mir machte se immer en Knix: ›Tag, Frau Büxenstein!‹ So'n jutet Mächen – ne, ik sage schon!«
»Ich bin bloß neugierig,« flüsterte die blasse, verhungerte Frau des Sargtischlers aus der Kirchbachstraße einer neben ihr Stehenden zu, »ob se bei meinen Mann den Sarg nehmen, oder ob se ihn den Verdienst vertragen nach eens von die jroßen Majazine. Billiger kriegen se da ooch nischt: aber in'n Stande wären se dazu.«
Die Büxenstein hatte das Geflüster gehört. »Ne, wie Sie ooch sind, so happig,« sagte sie mit einem strafenden Blick. »Die armen Leute, se is ja man kaum kalt! Jleich an so wat zu denken!«
»Na, Sie haben't ja ooch nich nötig,« sagte giftig die Tischlerfrau, »Sie sehn schon, wo Se bleiben!«
»Nanu?!« Die große Dicke stemmte die Arme unter und sah auf die kleine Magre herab. »Wollen Se Krach machen?!«
Ein Zank schien unausbleiblich, aber die Neugier war mächtiger. Eins der Mädchen hatte es nicht mehr aushalten können und war in den Keller hinabgelaufen; nun drängten die andren nach. Nur ja nicht einer den Vorrang lassen!
Auch Frau Büxenstein kehrte noch einmal um. Das hastete und schob und quetschte sich die enge Treppe hinunter; jeder Fuß betrat die verräterische Stufe, und die verborgene Klingel lärmte und schrillte und keifte.
Bertha war den andren nachgeschlichen. Wenn auch die Reschke böse mit ihr war, und sie selbst geschworen hatte, den Keller nicht mehr zu betreten – heute, jetzt, das war eine Ausnahme! Ihr Züngelchen leckte rasch über die röter gewordenen Lippen.
Unten waren ein paar Körbe umgestoßen worden. Der halbdunkle Laden war gedrängt voll Menschen. Jetzt hüpfte auch noch Elli nach, hastig zwängte sie sich durch die nur angelehnte Tür der Wohnstube; sie wollte doch auch dabei sein.
Innen erklang Frau Reschkes lautes Heulen.
Außen die Teilnahmsvollen stießen sich an.
»Se soll sich man nich so haben,« flüsterte die Büxenstein. »So lange se lebte, konnte se ihr nich jut besehn. Nanu – na, na, man sachte!«
Frau Reschke schien sich einem neuen Gefühlsausbruch hingegeben zu haben, man hörte Mines Stimme, die ihr beruhigend zusprach.
»Wo is denn der Olle?« fragte neugierig eins der Dienstmädchen. »Von dem hört man ja gar nischt!«
Ja, wo mochte Vater Reschke sein? Wie der's wohl nahm?! Nun war kein Halten mehr, die vordersten klopften an, die hintersten drängten nach; kaum das ›Herein‹ abwartend, traten sie ein, eine ganze Prozession, mit den Mienen tiefster Bekümmernis.
»Ne, Reschken, so'n Unjlück, so'n Unjlück!«
»Det liebe Mädel, det allerliebste Mädel!«
»Sagen Se bloß, wie konnte det so rasch kommen?!«
»Jotte doch, Jotte doch!«
Allgemeines Seufzen und Händezusammenschlagen.
Die Mutter, die neben dem Gardinenbett gesessen hatte, kam den Eintretenden mit wankenden Schritten entgegen. Ihr Gesicht war aufgedunsen, die Augen nur noch Schlitzchen. Sie weinte immerfort, aber als sie die vielen Besucher sah, glitt doch ein Schimmer des Lächelns, mit dem sie Käufer zu begrüßen pflegte, über ihr verquollnes Gesicht.
Man drückte ihr die Hände, man umringte sie und warf dabei forschende Blicke nach dem Gardinenbett.
Da hatten sie sie hingelegt.
»St, st!« Die Neugierigen schlichen auf den Zehenspitzen näher.
Der abgezehrte Körper Gretes zeichnete sich unter dem Leintuch ab, das man über ihn gebreitet. Das Köpfchen war zur Seite gesunken, die Wimpern der geschlossenen Lider ruhten auf den bleichen Wangen, wie im sanften Schlummer.
»So haben wir ihr heute morjen in de Küche jefunden,« schluchzte die Mutter. »Es muß ihr über Nacht überkommen haben; se war schonst kalt. Ik schickte Reschken noch rasch bei 'n Dokter – allens umsonst! Jrete, Jrete, det's de uns ooch det antun konntst! Keenen Ton nich – jar nischt nich mehr – Jrete, Jrete!«
Laut schreiend, warf sie sich über die Leiche.
Der Alte, der in der Sofaecke saß, rührte sich jetzt.
»Mutter,« sagte er, »Amalchen,« und versuchte, aufzustehen. Aber die Füße versagten ihm den Dienst; er mußte sich auf die Schwiegertochter stützen, die ihn zum Bett leitete.
Auf Mines Gesicht lag ein tiefer Ernst; sie hatte nicht geweint. Als sie jetzt Bertha erblickte, nickte sie ihr traurig zu. Ein zweiter Blick streifte dann Fridchen, die auf dem Fußbänkchen saß und einen mit bunten Fetzen umwickelten Stiefelknecht als Puppe im Arm wiegte. Rasch nahm Mine ihr Kind vom Boden auf und drückte es an die Brust.
»For Grete is es so besser,« flüsterte sie und schaute nachdenklich, mitleidsvoll auf die Tote.
»Jrete, Jrete,« schrie die Reschke und warf sich mit ihrem schweren Gewicht von neuem über das Bett.
Sie ließ sich nicht halten von den Armen der teilnehmenden Frauen, sie gebärdete sich wie eine Rasende.
Alle waren tief ergriffen von solchem Schmerz; die Taschentücher wurden gezogen, man hörte weinen und schluchzen.
»Bande,« schrie plötzlich Lorchen, der Papagei, der auf seiner Stange vergessen im Winkel hockte. Und dann noch einmal, so gellend, daß die Trauernden zusammenschreckten: »Bande!«
Das abscheuliche Tier! Mine warf rasch ein Tuch über den Käfig.
Der alte Reschke stand ganz still mit ineinandergeschlungenen Händen, mit gekrümmtem Rücken, neben seiner Frau; er hatte sich herangeschleppt, um sie zu trösten, nun wußte er nicht, was er sagen sollte. Verlegen blickte er auf sie, verlegen blickte er in die Runde.
Sie hatten sich alle dicht herangedrängt.
Elli schlüpfte zwischen den Eltern durch und stand nun nächst dem Bett. Sie war sehr blaß geworden und zitterte beim Anblick des wachsbleichen Gesichtes und riß doch die Augen überweit auf.
»Bringt man Ellin weg,« flüsterte irgend jemand.
Frau Reschke hatte es gehört. »Ne, ne,« schrie sie auf, »meine eenzigte Dochter!« Riß die Kleine an sich, die sich wie ein flatterndes Vögelchen in dieser Umschlingung sträubte, und küßte sie ab.
»Meine eenzigte Dochter! Meine kleene Elli! Mein eenzigtet Jlück!«
»Reschken, regen Se sich doch nich so uf,« sagte die Büxenstein. »Kommen Se, stehn Se man uf!«
Viele hilfsbereite Arme zogen die verzweifelte Mutter in die Höhe. Den Kopf an die Schulter der Freundin gelehnt, Elli fest an der Hand haltend, wankte die Reschke durch die Stube.
»So, so. Kommen Se zu sich,« redete die Büxenstein zu. »Kommen Se man en bißken raus hier, Reschken, seien Se doch verständig! Schnappen Se man Luft, jenießen Se man en Happen, Se haben jewiß noch nischt in 'n Leibe! So.« Mit einem Seufzer der Befriedigung schob sie die Wankende in den Laden. Der ganze Schwarm drängte hinterdrein.
Hier war die Luft besser, nicht ganz so dumpf; von der offnen Blaulackierten her zog es.
Frau Reschke war auf die umgestülpte Tonne gesunken. Angesichts ihres Ladentisches kam sie allmählich wieder zu sich. Sie fand Worte.
Es erleichterte sie, umständlich zu erzählen, nur von dem ›Ach‹ und ›Oh‹ des interessierten Zuhörerkreises unterbrochen.
Was Grete gestern noch getan, was sie gegessen, was sie gesprochen, wie sie heute morgen auf dem Küchentischbett gelegen – alles wurde berichtet.
»Un ik jehe nach Küche, Uhrer sechs, halb sieben – un ik will Kaffeewasser ufsetzen – se schläft noch. Un ik sehe ihr an; soville ik bei de schlechte Beleuchtung sehen kann: so komisch! Un ik rufe ihr an: ›Na, Jrete?!‹ Un ik fasse ihr bei de Hand: ›Wat is dich denn schonst wieder? Jrete!‹ – – – – Janz kalt. – – – – – Wenn ik det geahnt hätte! Ik hätte ihr ja allens, allens zuliebe jetan!«
Die Mutter brach wieder in erneutes, heftiges Schluchzen aus und verbarg das Gesicht in dem durchnäßten Taschentuch.
»Traurig, traurig,« seufzten die Zuhörer.
»Traurig –?!« sagte das hübsche, rosige Dienstmädchen mit dem blendenden Schürzenlatz und stieß mit ihrem Korb eine andre Magd in die Seite. »Was, Fräulein, wenn wir krank werden, das is noch viel trauriger. Nach uns kräht kein Hahn. Wir können tot und begraben sein, eh die zu Hause was von zu wissen kriegen. Auf meiner vorigten Stelle kriegt ich den Gelenkreißmathismus –«
»Auweh,« unterbrach jemand, »da haben Se woll in 'n Badezimmer jeschlafen?«
»Erst hab ich mich geschleppt, nichts gesagt – man will doch nich so kränklich sein – denn, als ich nich mehr konnte, wollten se mich im Krankenhaus schaffen –«
»Jawoll, Krankenhaus, allens voll, was?!«
»Acht Tage mußt ich erst bei de Herrschaft liegen – se waren sehr aufmerksam, das muß man sagen – aber die Frau hatte nu selber alle Hände voll zu tun. 's war auch kein Ofen im Zimmer, un Winter, un ich so steif, ich konnt mich nich rühren, se mußten mich füttern.«
»Das 's noch gar nischt,« schrie eine andre drein, »wie ich bei Bülows war, kriegt ich's Nervenfieber: gleich die erste Nacht wollt ich aus'n Fenster springen. Festbinden mußten se mir!«
»Un mir haben se mal vier Stunden in de Stadt rumfahren müssen mit'n zerbrochnen Bein, eh daß se mir in eenen Krankenhaus los jeworden sind!«
»Was Se nich sagen?!« –
»Schändlich!« –
»Ne, so was!«
Die kleine rosige Magd wurde immer wieder unterbrochen, jede wollte von eignem Leid berichten. Endlich konnte sie sagen: »Un wie ich denn im Krankenhaus kam, mußt ich noch fünf Wochen liegen auf einem Fleck. Un denn – in Stellung konnt ich doch noch nich wieder gehn – denn fuhr ich nach Hause. Meine Mutter is Witfrau – un noch sieben kleinere Geschwister – die Freude war nich groß! O je, die Reise vergeß ich mein Lebtag nich! Nich sitzen können, nich stehen; nich wissen, wie ich aushalten soll. Un denn noch 'ne Stunde mit der rumpligen Karre von de Bahn nach'm Dorf fahren, durch Regen un Schnee.«
»Sind Se denn nu wieder janz gesund?« fragte eine Frau.
»I ja. Bloß 'n kleinen Herzfehler hab ich behalten!«
Das junge Ding lachte vergnügt und sah dann erschrocken nach der Reschke hin, ob die auch das Lachen nicht übel genommen.
Aber diese war viel zu sehr bei der Sache; aufmerksam hörte sie zu. Verschiedne ähnliche und unähnliche Fälle wurden aufgetischt; die Unterhaltung kam in vollen Gang. –
Vater Reschke und Mine und Bertha waren allein in der Stube zurückgeblieben. Sie standen alle drei am Bett. Der Alte noch immer in seiner vorigen Haltung, den Rücken gekrümmt, die Hände ineinander geschlungen. Aber sein verlegen umherirrender Blick war stetig geworden, starr ruhte er auf den stillen Zügen seines Kindes. Keine Muskel rührte sich in seinem faltigen Gesicht, dabei schütteten ihm die Tränen aus den Augen. Er schien sie gar nicht zu bemerken, er ließ sie rinnen.
»Vater, du weinst der ja blind!« Mine faßte seine Hand; jetzt mußte sie auch weinen. »Vater, laß ihr, es is so am besten for ihr!«
»Ja, for Jreten is es wohl so am besten,« sagte der Alte mit einer seltsamen Betonung, »aber for –«
Er sprach nicht aus, und Mine wußte nicht, an wen er dachte.
Bertha stand dabei, ohne sich zu rühren. Ihre Blicke bohrten sich förmlich in das wächserne Gesicht. Ihre Wimpern zuckten nicht, keine Träne feuchtete ihr Auge. Sie war wie gebannt.
Also das war der Tod –?! Sie hatte noch keinen Toten gesehn, nur ein paar Mal, früher bei der Mutter, kleine tote Kinder; aber die glichen Puppen.
Hier der erste tote Mensch.
Sie atmete tief auf – das war doch gar nicht schlimm! Es ließ ihr keine Ruhe, sie mußte den Zipfel heben und die Gestalt betrachten, die da unter dem Leintuch starr gestreckt lag. Und ihre Finger mußten über die regungslose Brust fahren, und dann über die Hände, die Arme, den Hals, die Wangen. Alles eiseskalt. Aber sie empfand keine Furcht. Sie strich der Toten die Haare aus der Stirn. –
Als Bertha sich nach einer halben Stunde durch den Laden drückte, fand sie nur noch wenige Teilnehmende vor, die meisten waren wieder ihren Geschäften nachgegangen.
Auch Frau Reschke stand hinterm Ladentisch; ihre Rechte hielt einer Käuferin ein Bund Zwiebeln hin, ihre Linke wischte die noch immer sickernden Tränen.
Schon kam ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft und brachte für die tote Jungfrau den Myrtenkranz.