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XVIII

Den Montag traute sich Mine nicht auf die Straße, sie war froh, daß nichts einzuholen war. Sie glaubte, alle Augen müßten sich auf sie richten, die Steine, auf die sie trat, wie Nadeln stechen, die Spatzen von den Dächern immer nur das eine schirpen. ›Wohin mit dir?‹

Die früher so Vorsorgliche dachte nicht daran, ihre Sachen zu packen; alles hing noch umher in der niedlichen Mägdestube, in welche die Frühlingssonne freundlich hinein schien. Ein heller Glanz vergoldete die Wände und spielte ihr übers Gesicht, als sie auf dem Bettrand kauerte und stumpfen Blicks ins Leere stierte.

Es war still in der Wohnung, die junge Frau von ihrer Mutter für den ganzen Tag abgeholt; auch Herr Biek aß bei den Schwiegereltern. In all ihrer stumpfen Versunkenheit empfand Mine es doch: sie wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben, sie taten, als sei sie schon fort!

Ans sorgsame Aufpassen gewöhnt, horchte sie unwillkürlich jeden Augenblick auf den hellen Ruf der jungen Frau – ach, es war nur der Kanarienvogel, der drinnen im Wohnzimmer nach Futter schrie! Da stand sie auf, um ihm seinen Rübsamen zu geben.

Und dann machte sie sich daran, ihre Küche zu säubern, als sei das seit Monaten nicht geschehen; kein Gerät, das sie nicht scheuerte, keinen Kessel, den sie nicht blank putzte. Sie seifte die Wände ab. Sie sollten wenigstens nicht sagen, daß sie dem neuen Mädchen etwas schmutzig hinterlassen. Über der Arbeit vergaß sie sich ein wenig und spiegelte sich in den blanken Ofentüren, bis es sich auf einmal wieder wie mit Riesenlast auf sie wälzte: Wohin?! –

Übermorgen mußte sie fort – wohin – –?!

Sie hielt es nicht aus, eine Todesangst beklemmte ihr die Brust. Die Stille der Wohnung war wie ein Grab, sie lag darin, und kein Mensch fragte mehr nach ihr. Es trieb sie zur Reschke.

Als es dunkelte, erschien sie im Keller. Die Reschke ging gerade im Laden herum und begoß den welkenden Spinat und die Rhabarberstengel.

»Nanu,« sagte sie und setzte die Gießkanne unsanft nieder, »wat willste denn!« Sie war sehr schlechter Laune, der Kopf tat ihr weh von dem ›Mosel‹ am gestrigen Abend, und – was viel schlimmer – Herr Ladewig hatte sich trotz allem noch nicht erklärt.

Mine warf einen scheuen Blick umher: sie waren allein. Da faßte sie der Tante Hand und stammelte, Röte der Scham auf dem fahlen Gesicht: »Wohin –?! Tante – helfen Se mer – ich weeß nich, wo ich hin soll – bald is's so weit!« Sie glaubte in den Boden sinken zu müssen, als es heraus war.

Wider Erwarten blieb die Reschke ganz ruhig und sagte bloß: »Nanu wird's Tag,« und zog die Augenbrauen hoch. Und dann im Ton der Befriedigung: »Da habe ik mal wieder recht jehatt! Habe ik schonst lange jemerkt.«

»Tante, Tante, was soll ich machen?!«

» Machen! Da is nischt zu machen. Jeh nach Hause! Na ne, freuen werden se sich jrade nich; aber sei froh, detste ieberhaupt nach Hause jehn kannst.«

»Nach Haus –?! Ne, ne!«

Die Reschke zuckte die Achseln. »Ja, denn – det's ja 'ne scheene Jeschichte! Siehste woll, det kommt dervon! Wart, wenn de meine wärst, die Dresche! Schäm der!« Sie nahm wieder die Gießkanne auf und sprengte rings umher. »Wat det Jemüse jetz rasch welkt! Morjens aus de Halle geholt, abends futsch. Mer mecht reeneweg verzweifeln!«

»Tante!« Mine hielt sie am Kleid fest, eine furchtbare Hoffnungslosigkeit packte sie plötzlich, und mit der Hoffnungslosigkeit kam die Verzweiflung – wenn die hier sie auch im Stich ließ?! Die durfte sie nicht im Stich lassen, die mußte ihr helfen!

Der Reschke wild in das gleichgültige Gesicht blickend, schrie sie auf: »Du mußt mer helfen!« Sie hatte sonst immer ›Sie‹ gesagt, jetzt sagte sie ›du‹ – die war ja doch die Nächste dazu.

»De mußt!«

»Nanu, mußt –?!« Frau Reschke machte sich unsanft frei. »Bin ik derfor da, die liederlichen Frauenzimmer Vorschub zu leisten?! Ik bin 'ne anständige Frau, ik bemenge mir nich mit so wat.«

»Tante!«

»Tante?! Ä wat! Laß mer unjeschoren! Habe ik dir nich immer gesagt: halte der ordentlich! Aber ne, rumjealbert muß werden mit die Kerle, alle Sonntag, immer Pläsier, keene Erziehung, keen Ufsichhalten, keene Reellität, keene –« sie schnappte nach Luft, nach und nach hatte sie sich in Wut geredet. »Komm du mir man bloß! Habe ik dir nich ufjenommen wie mein leiblichtet Kind, dir 'ne anständige Stelle versorjt, dir vermahnt?! Aber ne, raus und los wie 'ne Wilde. Dir 'nen Kuckuck um deine Verwandten jescheert. Un nu, wo dich's Wasser an de Kehle sitzt, kommste anjeloofen: Tante hinten un Tante vorn. Jawoll, hat sich wat! Sieh, wie de nu alleene fertig wirst, jeht mir nischt an. Ik sage dir, reene jar nischt!« Ohne Laut hatte Mine zugehört; sie stand da wie vernichtet, den Kopf tief gesenkt, die Arme schlaff herunterhängend.

»Wie de nu dastehst! Wie 'n armer Sünder. – Wer is's denn?« fragte die Tante jetzt etwas milder. »Hat er denn wenigstens wat?«

Keine Antwort.

»Na, ik sehe schonst, en Herr Habenichts! Det kann ja niedlich wer'en. Na, so dumm! Denn sieh man zu, detste ins Scharretee kommst, da haste't wenigstens umsonst.«

In die Charité –?! Ein Schauder überlief Mines Gestalt – dahin, wo die jungen Doktors lernen?! Hatte ihr nicht schon die blasse Minna davon erzählt, und andere Mädchen auch?! Sie sprachen davon nur im Flüsterton, mit ängstlich emporgezogenen Augenbrauen. Dahin – wo sie alle einen begucken durften?! Das Entsetzen schüttelte sie, abwehrend streckte sie die Hände aus.

»Ne, ne, dahin geh ich nich! Hilf mer doch, behalt mer doch hier! Tante!« Sie packte die Reschke bei beiden Handgelenken und rüttelte sie mit aller Macht. »De mußt mer hier behalten!«

So rasch ließ sich die Reschke nicht einschüchtern, mit einem Ruck befreite sie ihre Hände. »Nanu, wat fällt dich denn in? Brustkrank, wat? Ik wer man Reschken rufen, der wird dich schonst den Standpunkt klar machen.« Schon erhob sie die Stimme: »Resch – –!«

Rasch legte sich Mines Hand auf ihren Mund. »Still,« sagte das Mädchen eigentümlich heiser. Und dann mit einer nicht mißzuverstehenden Bedeutsamkeit: »Arthur!«

»Athur – mein A – –?!« Der Mund blieb der Reschke vor Schreck offen.

Mine nickte. Sie sahen sich an mit weitaufgerissenen Augen, mit bleichen Mienen und zuckenden Lippen.

Jetzt schrie die Reschke auf, die Erstarrung von sich abschüttelnd: »Athur?! Det unschuldige Kind?! So'n Schwindel!« Sich auf Mine stürzend, packte sie sie vorn am Halse und schüttelte sie hin und her. »Du unterstehst der – mein Athur – ik wer der lehren – so 'ne Niedertracht – so 'ne Rumtreiber'n! Uf de Polizei mit se – Reschke, Reschke!«

Eine Flut von Schimpfworten entströmte ihrem Mund. Da floh Mine.

Sie konnte nicht rasch genug die Kellertreppe heraufkommen; noch toste der Wutschwall hinter ihr drein. Bis auf die Straße verfolgte sie das Geschrei.

Die Füße versagten ihr den Dienst, die Kniee knickten ihr ein, ihr war, als sollte sie zusammenbrechen. Da fühlte sie sich am Arm gefaßt.

»Ich geh ja schon,« stammelte sie erschrocken.

»Mine!«

Das war Gretes Stimme! Heut klang sie ihr wie Musik.

»Willste mit mer jehen, in de Bahnstraße, in den Saal? Komm doch! Komm!«

Willenlos ließ sich Mine leiten. Durch die hereinbrechende Frühlingsnacht ging sie, wie im Traum, an des Kindes Hand.

Jetzt pfiff es gellend. Sie gingen unten am Bahnkörper entlang, oben raste der Zug, die Maschine schnaufte, mit zwei glühenden Augen stierte das Ungetüm in die Nacht. Mine stieß einen Schrei aus – jagte es nicht ihr nach, packte es nicht sie und zermalmte sie unter seiner Wucht?! Sie war ganz verwirrt.

Nun kamen sie an einem Zaun vorüber, nun an ein Türchen. Hier war es schwer finden, aber Grete kannte sich aus. Durch das Pförtchen, das eine trüb brennende Laterne kaum erkennen ließ, schritt sie sicher hinein in einen langen dunklen Gang zwischen hohen Bretterwänden; ihr Fuß stieß an keinen Stein, sanft und doch unwiderstehlich zog sie die Cousine mit fort.

Mine sagte kein Wort. Wohin – ach, das war ihr jetzt gleichgültig; nur irgend wohin! Sie fühlte sich so verlassen, so jämmerlich, wie noch nie in ihrem Leben.

Der Gang war zu Ende, und da, zwischen den aufgestapelten Vorräten eines Holzplatzes, zwischen verräucherten Mauern düstrer Hintergebäude, helle Fenster, gleich freundlichen Augen in die Finsternis strahlend.

Gesang schallte ihnen entgegen, begleitet von den klappernden Akkorden eines alten Klaviers. Aber der Gesang übertönte die Begleitung, mächtig brauste er dahin in einem marschmäßigen Rhythmus und endigte in schallendem Händeklatschen.

»'s hat schon anjefangen!« Grete stieß Mine vor sich her, in zitternder Begier, ja nichts zu versäumen. »Eil der!«

Vor dem Eingang grüßte sie lächelnd ein blondes Mädchen in Heilsarmeetracht: »Halleluja!« Die sonst so scheue Grete begrüßte es vertraut.

Sie traten ein. Warm quoll es ihnen entgegen; der Saal war überfüllt.

Junge Burschen, die Hände in den Hosentaschen, die Mütze mit ›Heilsarmee‹ auf dem Kopf, flankierten die Tür; sie unterhielten sich ganz ungeniert mit lächelnden Mienen.

Auf allen Gesichtern ein Lächeln, wohin Mine auch sah.

Auch Grete lächelte, ihr blasses Gesicht strahlte und rötete sich, dreist ging sie bis vornehin und setzte sich in eine der ersten Bänke. Bereitwillig rückten die Leute und machten auch Mine dort Platz.

Hier war es noch wärmer: die große Lampe mit dem blanken strahlenwerfenden Metallschirm hing ihnen gerade über dem Kopf. Es summte und surrte, ein immerwährendes Raunen ging durch die Reihen der Zuhörer; sie hielten alle die Füße nicht still, sie rückten und rührten sich, wie in unruhiger Erwartung.

Lauter stumpfe, verarbeitete Gesichter. Mine glaubte verschiedne von ihnen zu kennen: kleine Handwerker, Arbeiterfrauen aus der Nachbarschaft. Aber doch kamen sie ihr wieder fremd vor; oder veränderte sie nur das vergnügte, aufklärende Lächeln so? Sie neigten sich zu einander und tuschelten; eine immerwährende Bewegung ging durch die Versammlung, als ob der Wind durch reifende Frucht streicht.

Hallelujamädchen gingen umher und teilten Blätter aus. »Liederbuch der Heilsarmee! Zehn Pfennige!«

Mine, die keinen Groschen hatte, schaute verstohlen bei der Nachbarin ein.

»Rette deine Seele!
Komme heute,
Heute ist der Tag des Heils,
Heut die angenehme Zeit.
Komme heute!«

Und da sie nicht gut weiter sehen konnte, reichte ihr die Nachbarin freundlich das Heftchen.

»O komm, o komm und geh mit mir,
Wo Freude ewig dein,
Wo du dann trägst die Sternenkron
Und sollst bei Jesu sein.«

Sie las es mühsam, mit Augen, die sich langsam mit Tränen füllten. Ach, sie wollte ja gar keine Sternenkrone, was sollte sie damit? Nur eine Zuflucht!

Mit schwimmenden Blicken sah sie sich um – hatten die denn alle eine Zuflucht gefunden? Ja, ja; sie schienen so froh. War wohl unter all denen einer, der eine Zuflucht so nötig gehabt hatte, wie sie jetzt?! Eine plötzliche Sehnsucht überkam sie; sie hob das Blatt nahe vor ihr Gesicht, noch einmal wollte sie's lesen, was da stand. Da schreckte sie auf.

Eine einzelne Stimme sagte laut: »O Heiland, ja, ich komme!«

Und mit dumpfem Gemurmel wiederholte die ganze Versammlung: »O Heiland, ja, ich komme!«

Alles stürzte auf die Kniee.

»O Heiland, ich komme, ich komme, ich komme!«

Mine hörte es in allen Stimmlagen, von Männern, Frauen, Mädchen, Jünglingen, Kindern. ›Ich komme, ich komme‹ – – leise begonnen in Gemurmel, steigerte es sich zu lautem Stimmgewirr; es pflanzte sich fort wie ein Kriegsgeschrei.

Die Hände falteten sich nicht, sondern klatschten lustig in einander. Nun stürzte jemand ans Klavier und trommelte darauf los, und ein Mädchen im Kiepenhut erhob seine durch Mark und Bein dringende Stimme:

»Freud, Freud, Freud, vor Herzensfreud ich singe,
Freud, Freud, Freud, der Teufel nimmt sie nie!«

Und alle stimmten ein:

»Freud, Freud, Freud!«

Das klang wie eine Polkamelodie; die Füße bewegten sich im Takt. Die Augen blitzten, als ginge es zum Tanz.

Und endlos, endlos, endlos ging das Singen weiter. »Freud, Freud, Freud!« Bald standen sie, bald saßen sie, bald lagen sie auf den Knieen, bald klatschten sie in die Hände.

Mines Nachbarin zur Rechten, eine ältliche Arbeiterfrau mit verrunzeltem Gesicht, hüpfte fast jauchzend: »Freud, Freud, Freud!«

Zur Linken lag Grete auf den Knieen, das heiß gerötete Gesicht, geschlossenen Auges, mit überreiztem, stumm verzücktem Ausdruck erhoben.

›Freud, Freud, Freud,‹ wohin man hörte. Überall Freude, lachende Gesichter, ein Torkel hatte sich aller bemächtigt. Der eine sprach, der andere sang, dieser flüsterte, jener schrie – es klang wie im Rausch: »Freud, Freud, Freud!«

Wie ein Fieber schlich es durch die Reihen, das ›Freud, Freud‹ steckte an. Nichts andres zu hören, nichts andres zu sehen, nichts andres zu denken. Es wollte auch über Mine wie eine Betäubung kommen; der Gesang flutete und brandete um sie in mächtigen Wogen.

Sie rückte näher zu Grete und stieß sie an. »Du, Grete, is's wahr?!«

»Halleluja?« murmelte Grete und rührte sich nicht.

Auf dem Podium erschienen jetzt drei Männer. Eine Stimme rief: »Hört den Gesang der Geretteten! Sergeant Kamp, Leutnant Grigowski und Kadett Frymann werden uns das schöne Lied von der geretteten Seele singen. Halleluja!«

»Halleluja!«

Und die drei erhoben einen Gesang:

»O, es ist so schön, gerettet zu sein,
Ein Leben voller Glück und Sonnenschein!«

Die Stimmen waren roh, der Gesang unharmonisch, aber die Zuhörer nickten sich entzückt zu.

Dann sprach Sergeant Kamp, ein nicht mehr junger Mann mit alltäglichem Arbeitergesicht, dessen stumpfe, stereotyp lächelnde Züge sich mehr und mehr belebten, rasch und eindringlich:

»Preis Gott, daß ›Er‹ mich hierher geschickt hat! Ich bin so glücklich, daß ich in der Heilsarmee bin, denn hier darf ich meinen Glauben bekennen. Ich darf bekennen, wie ich, ein arger Sünder, gerettet ward, wie ich zu Jesu kam, der für mich sein Blut vergoß – auch für dich, mein Bruder, auch für dich, meine Schwester! Auch für dich!

»Sage nicht: ›Für mich ist Jesus Christus nicht gekommen!‹ Für wen ist er gekommen? Für dich, für dich!«

Mine schien es, als fixiere der Redner sie ganz besonders scharf. Seine Stimme wurde eindringlicher, schmeichelnd stahl sie sich ins Ohr.

»Komm zu ihm! Er gibt dir Freude. Nicht nur Freude im Himmel – nein, Freude auf Erden, herrliche Freude, Ströme von Freude, Freude, Friede, Macht, Reichtum, Glück. Alles in Jesu. Komm, die du darbest und leidest! Komm zu ihm! Nicht übermorgen, nicht morgen – bedenke: du mußt sterben! – Nein, heut! Jetzt! Diese Stunde! Diese Minute! Diese Sekunde! Heil ist da für alle!«

»Halleluja!« murmelten die Zuhörer.

Das Auge des Redners öffnete sich weiter, fester bohrte es sich in die Reihen ein; es schien jeden einzelnen aufs Korn zu nehmen. Immer rascher sprach er, wie durchlodert von innerem Feuer.

»Er ist hier! Jesus Christus ist hier! Wer ist hier? Jesus Christus, dein Freund, dein Bruder – heut, jetzt, mitten unter uns!«

Ein entzücktes: »Ah!« hallte durch den Saal.

»Siehst du ihn nicht? – – – – Da steht er!«

Der Redner streckte den Arm aus, ein Zittern lief ihm bis in die Fingerspitzen. Und diese zitternden Finger wiesen immer auf einen Punkt. Mit Hartnäckigkeit wiederholte er immer wieder:

»Da steht er! Da steht er! Da steht er!«

Das klang wie eine Beschwörung. Die Köpfe vorgestreckt, die Augen starr auf den einen Punkt gerichtet, standen alle.

»Siehst du ihn?!«

»Halleluja!«

»Siehst du ihn – da steht er! Er lächelt dich an, er reicht dir seine Hand! Jesus liebt dich! Fühlst du seine Hand? Du fühlst seine Hand! Ergreifst du sein Kleid? Du ergreifst sein Kleid! Beugst du deine Kniee? Du beugst deine Kniee! Bereust du deine Sünden? Du bereust deine Sünden! Blickst du ihm ins Auge? Du blickst ihm ins Auge! Empfängst du seinen Kuß? Ja, du empfängst ihn! Du bist nicht mehr sündig, du bist nicht mehr arm – reich, reich, glücklich, gerettet! Tritt her, du Kind Gottes, du glückseliger Heilssoldat! Kämpfe unter der Fahne, gelb, rot und blau – Halleluja!«

Der Redner holte erschöpft Atem. »Halleluja, Halleluja!« brauste es durch den Saal. Eine große Aufregung hatte sich aller bemächtigt; kein Mensch saß mehr, jeder reckte sich auf den Zehen: wer würde sich heut als gerettet melden? Wie viele würden es diesmal sein?!

Über das Gemurmel, das Gewisper, das Gesurr hinweg erhob sich durchdringend die Stimme des Redners.

»Wo ist die erste Seele – wo – wo?! Bruder, Schwester, was ist dein Ziel, Himmel oder Hölle? Denk an die Ewigkeit! Rette deine Seele!« Bittend, drohend, beschwörend klang es: »Rette, rette deine Seele!«

Eine hohe Mädchenstimme intonierte:

»Weißer als Schnee, ja, weißer als Schnee!«

Und mächtig fiel der Chor ein:

»O wasch mich im Blute jetzt weißer als Schnee!«

Wieder rief der Redner:

»Der Teufel und die Heilsarmee hassen sich. Daß so viele Menschen die Heilsarmee verfolgen, kommt daher, weil sie in der Gewalt des Teufels sind. Seht hier! Engel und Teufel und arme Seele!«

Auf dem Podium erschienen drei Gestalten. Mine erkannte die hübsche Blonde vom Eingang; die hatte jetzt ein weißes Tuch über den Kopf gehängt, und ihr Kleid wurde verhüllt durch ein großes weißes Laken. Sie war der Engel.

Dem Engel gegenüber stand der Teufel, ein zottiges Fell um die Schultern, zwei Hörner an die Stirn gebunden.

Und zwischen beiden ein junges Mädchen, halb Kind, halb Jungfrau: die arme Seele.

»Wo führt der Weg?« sprach die Seele mit ängstlicher Stimme. »Ich wohne im Dunklen, da ist niemand, der mir ihn weist!«

»Ich weise dir den Weg.« Der Teufel verstellte die rauhe Stimme ganz fein. »Komm her, liebe Seele, reich mir deine Hand, dann wandelst du auf Blumen-Pfaden und sehr bequem! Ich gebe dir Schmuck und schöne Kleider, goldne Ketten und diamantene Ringe. Du sollst zu Bällen und Konzerten gehen, sollst singen und tanzen, du bist den Augen angenehm, du hast Freunde und Anbeter, dein Haar kräuselt sich in Locken, du hüpfest an der Freude Hand!«

»Wer bist du? O, sage mir, wer du bist, du lieber Mann!«

»Ich bin ein Fürst, ein Fürst gar mächtig. Mein sind die Länder von Sonnenaufgang bis Niedergang. Mein ist die ganze Welt –«

»Glaube ihm nicht,« fiel hastig der Engel ein, »wohl ist er ein Fürst, aber ein Fürst der Hölle. Arme Seele, leg nicht die goldnen Ketten und diamantnen Ringe an, sie sind die Schlingen, die die Hölle nach dir auswirft. Schmücke dich nicht mit schönen Kleidern, sie sind Gewebe der Sünde! Kräusele nicht dein Haar in Locken, sie sind Fallstricke, die die Arglist dir legt! Suche nicht Vergnügungen, sie sind Anstiftungen des Bösen! Höre nicht, was Freunde und Anbeter sagen, es ist der Teufel, der aus ihnen spricht! Er will dein Verderben. Er reißt dich in den Sumpf – immer tiefer, tiefer, tiefer sinkst du ein. Schon ist dein Herz versunken – immer höher, höher steigt der Schlamm. Jetzt geht er dir bis zum Hals – jetzt füllt er dir schon den Mund – du ächzst, du gurgelst, du erstickst – – – – und der Teufel ist schnell bei der Hand und nimmt deine Seele und wirft sie in einen glühenden Ofen, die Flammen der Verdammnis umlodern dich, deine schönen Locken werden zu feurigen Schlangen, die dein Haupt umzüngeln – o du arme Seele –«

Ein gellender Schrei ließ Mine aufschrecken. Grete hatte sich in die Höhe gebäumt, beide Hände vor sich streckend, schrie sie laut: »Trude!« Dann brach sie zusammen, vornüber, mit der Stirn die vordere Bank streifend.

Mine bemühte sich angstvoll um sie. Sie hielt sie im Arm; alle Glieder Gretes zuckten im Krampf, knirschend biß sie die Zähne aufeinander und verdrehte die Augen.

Hilfesuchend sah sich Mine um. Aber niemand nahm Notiz von ihnen, aller Aufmerksamkeit war auf das Podium gerichtet, wo Engel und Teufel die arme Seele hin- und herzerrten.

Atemlose Spannung. Fiebernde Anteilnahme. Endlich der Triumphgesang des Engels:

»Gerettet, gerettet! Kommet her zu mir, hier ist das Heil! Tretet ein in die Heilsarmee – wo ist die erste Seele – wo – wo –?!«

»Halleluja, Halleluja!« Eine junge, gutgekleidete Frauensperson stürzte auf das Podium.

»Ich war eine arge Sünderin,« rief sie und fiel auf die Kniee. »Ich putzte mich, ich ging zu Tanz. Halleluja, jetzt bin ich gerettet! O wie ist es schön, gerettet zu sein, gerettet, gerettet!«

»Sind noch mehr Seelen da?! Keine Seelen mehr?!«

Die Offiziere verteilten sich im Saal und durchforschten die Reihen.

»Keine Seele mehr? Rette, rette deine Seele!«

Und noch andere stürzten auf das Podium, Männer, Frauen, in buntem Durcheinander; und alle bekannten sie ihre Sündhaftigkeit und priesen das Glück gerettet zu sein.

Ein verzückter Jubel hatte sich aller Teilnehmer bemächtigt. »Halleluja, Halleluja!« tönte es von allen Ecken und Enden. Das Klavier dröhnte unter harten Akkorden, los schmetterte der Gesang, aus hundert Kehlen wie aus einer Kehle:

»Über mir, über mir, ja es rauschet,
In die tiefe Flut ich getauchet –
Über mir, über mir, ja es rauschet,
Waschend weiß wie Schnee!«

Fiel die Decke nieder? Es war Mine, als senke sich ein ungeheurer Druck herab – ha, die entsetzliche Luft hier! Verdutzt sah sie sich um: waren die denn alle verrückt? Wie konnte sie nur jemals hier eine Zuflucht finden wollen?! Wäre sie nicht so traurig gewesen, sie hätte gelacht.

Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich nun auf Grete. So leicht auch deren dürftiger Körper war, es kostete doch Mines ganze Kraft, sie in ihrer tiefen Ohnmacht bis zum Ausgang zu bringen.

Draußen schlug Grete bald die Augen auf.

Mine saß auf einem Balken und hielt ihren Kopf im Schoß.

»Grete, was haste denn nur?! Wie is der jetz?«

»Mich is oft so elend,« flüsterte das Mädchen. »Un denn hatt ich auch Hunger, un denn dacht ich an –«

Sie sprach nicht weiter, ein Schauer überlief sie.

Arm in Arm schlichen beide durch das dunkle Gäßchen zwischen den Bretterwänden. Nur einen begrenzten Ausschnitt des Himmels konnten sie sehen, mit mattflammenden Sternen daran.


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