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Vater Reschke hatte alle Jahre Weihnachtsbäume für die Kundschaft zu verkaufen gehabt, mehr aus Gefälligkeit, als wegen des Verdienstes, und weil er an den grünen Bäumen, die aus Wald und Heide stammten, sein Vergnügen hatte. Dieser Gewohnheit wollte er auch dies Jahr nicht entsagen. Eine Erinnerung an jenen schlanken, jungen Fichtenstamm, den er sich als Knabe allweihnachtlich aus dem Golmützer Forst stibitzt, beherrschte ihn ganz und gar; selbst hier unten, im modrigen Keller, glaubte er den harzigen Duft jener jungen Fichte zu spüren.
Diesmal hatte er nur Bäume für kleine Leute, kleines, krepliges Zeug, schief und knorrig gewachsen und halb abgenadelt, das die großen Händler, die gleich mit Wagen und Pferden an den Bahnhöfen erschienen, nicht mochten. Vor dem Kellereingang war ein Trüppchen aufs Trottoir gepflanzt, und der Alte stand auf der Treppe und bewachte mit halb zugekniffenen Augen seinen Wald. Mit geblähten Nasenflügeln witterte er den Tannenduft; er war so in Träumen verloren, daß er nicht merkte, wie Elli und die Straßenrangen, die zwischen den Bäumchen Zeck spielten, sie umrissen, trotz der Ständer, die er ihnen aus Kistendeckeln gemacht.
Das einzige hübsche Bäumchen, das frisch grün war und rundgewachsen, hatte Vater Reschke beiseite gestellt; wenn Leute das kaufen wollten – auf die andren hatten sie keine besondere Lust – sagte er jedesmal: »Bedaure, det is schonst verjeben!« –
Mine hatte sich von ihrem Schwiegervater ein Bäumchen ausbitten wollen, aber als sie am Morgen des vierundzwanzigsten hinkam, hatte er gerade das letzte losgeschlagen.
»Großvater, de hätt'st wohl ooch an Fridchen denken können,« sagte sie vorwurfsvoll. Verlegen sah der Alte umher.
Da stand ja noch ein Bäumchen, halb versteckt hinterm Türflügel. Ei, das war rund gewachsen und voll frischer, grüner Nadeln! Mine fuhr dem kleinen Baum über die krausen Zweige, wie sie ihrem Fridchen über die Haare streichelte. »Der is aber scheene!«
»Laß man,« sagte der Alte unruhig und trat unschlüssig zwischen ihr und dem Bäumchen hin und her. Man merkte ihm an, daß er schwankte. Aber dann gab er sich einen Ruck: »Ne, ne, laß man, mein Dochter, ich kann wahrhaftig nich – der is schonst verjeben!«
Mine ging traurig weg; wenn sie Fridchen auch weiter nichts bescheren konnte – nur ein Bäumchen mit ein paar Lichtern daran! Die träumte ja Tag und Nacht von einem ›Viellichterbaum‹. Aber auch dazu war kein Groschen übrig.
Noch nie war sich Mine ihrer Armut vollständig klar bewußt geworden; heute war sie zum ersten Mal ganz arm – ihr Kind bekam keinen Baum.
Umflorten Blicks, mühselig und beladen, wankte sie über die Bülowpromenade. Wo die hohen Edeltannen gestanden, lagen noch einzelne abgehackte Zweiglein; sie las sie auf, aber wie sie auch das Grün hin und her wendete und ordnete, zum Baum wollte es nicht werden. –
Am Nachmittag schritt Vater Reschke, den kleinen, runden Tännling unterm Arm, übers eisige Feld dem Kirchhof zu. Der Wind stemmte sich ihm entgegen und warf ihm Hände voll kristallisierten Sandes in die Augen; es war ein mühsames Gehen. Endlich hatte er das Gittertor erreicht, endlich – zwischen all den Hügeln – durchgefunden! Nun war er am Ziel; nun pflanzte er den Weihnachtsbaum auf Gretes eisiges Grab.
»Da, Jrete!«
Weiter sagte er nichts; aber er blieb eine lange Weile am Hügel stehn, den Hut zwischen den gefalteten Händen; und die rauhe Winterluft spielte mit seinem grauen Haar.
Es war zwischen Hell und Dunkel. Als er sich zur Heimkehr umwandte, kam's auf ihn zugeflattert wie eine große Krähe; das war ein wehender Kreppschleier, aber erst ganz in der Nähe erkannte er, wer ihn trug.
»Nanu – Mutter?!« rief er, mit den geröteten Augen blinzelnd.
Auch Mutter Reschke brachte ein Bäumchen, es war geputzt mit bunten Ketten, mit Goldpapiersternen und roten und blauen Kerzchen.
»Steck man an for Jreten,« sagte sie leise und reichte ihrem Mann eine Streichholzdose. Aber wie sich der Alte auch mühte, und die Frau sich als Windschirm vorstellte und die Kleider ausbreitete, die Lichter verloschen immer wieder.
Sie wollte schon ungeduldig werden, aber er sagte resigniert: »Laß man, Mutter, et muß ooch ohne Licht jehn!« Und dann faßte er nach ihrer Hand und zog sie neben sich: »Stell der man hierher, Amalchen!«
So standen sie beide Seite an Seite; sie sprachen kein Wort mehr. Er schneuzte sich nur einmal, und sie zog plötzlich ihren Kreppschleier, der ihr so viel zu schaffen machte, sich jetzt im Wind wie ein Segel blähte, sich wie ein Strick um ihren Hals schnürte, mit heftigem Ruck vors Gesicht. Und dann seufzten sie alle beide aus Herzensgrund.
Sie hatten es gar nicht eilig, nach Hause zu kommen – Elli vertrat sie ganz genügend – es war ja im Geschäft so wenig zu tun, fast gar nichts! – – – – – – – – –
Eine bitter kalte Dämmerung sank nieder, ein schneidender Nord sauste durch die Straßen. Das war kein festliches Wehen, und doch eilten die Menschen froh. Alle Mienen schienen erhellt, auf den Kindergesichtern schimmerte die Ahnung baldiger Herrlichkeit.
Mine hatte ihre Kleine auf den Arm nehmen müssen, die wäre sonst umgerannt worden. Vor den Kaufläden staute sich die Menge, jeder wollte noch rasch ein Geschenk erstehen, und Männer und Frauen eilten beladen, und Herren und Damen fuhren in Droschken und sahen kaum über alle Pakete weg. Weihnachtsstollen wurden getragen; wenn der Wind das weiße Tuch über dem Blech lüftete, wurden Fridchens Augen ganz groß.
Kinder kamen von einer Schulbescherung; Hand in Hand, das Trottoir mit ihrer langen Reihe versperrend, sangen sie aus hellen Kehlen ein Weihnachtslied. Der Wind riß ihnen die Worte vom Munde weg, aber wenn man die auch nicht verstand, man ahnte sie.
Die Glocken der Kirchen läuteten dazu. So viele Kirchen Berlin auch hat, heute schienen es ihrer noch mehr; die ganze Luft war durchzittert von Glockenklang.
Das müde, blasse Gesicht Mines rötete sich allmählich, aber nicht allein von der scharfen Luft; ihr Herz klopfte, und ihrem Herzschlag antwortete tief, tief innen ein anderer Herzschlag, leise, wie ein Ticken.
»Sei stille,« sagte sie zu Fridchen, die vor Hunger und Kälte zu wimmern anfing. »Paß uf, gleich stecken se de scheenen Lichterbäume an!«
Und das Kind hörte auf zu weinen, reckte sich und paßte auf.
Endlich hatte Mine ihre letzten Zeitungen ausgetragen; es war auch gut, daß sie fertig war, die vielen Treppen wurden ihr zu schwer, auf jedem Absatz mußte sie rasten, und sich, nach Luft ringend, am Geländer halten. Als sie nach Hause ging, brannten die Weihnachtskerzen schon in den Erkern hinter den Fenstern und warfen ihren Glanz hinaus in die Dunkelheit. Fridchen freute sich wohl, aber sie streckte die Händchen aus und wollte auch einen ›Viellichterbaum‹ haben.
»Quäl mer nich so,« sagte Mine endlich ganz erschöpft.
Sie kamen zu Hause an; die Küche war noch dunkel, auch in der Kammer brannte das Lämpchen nicht, und doch war Arthur schon da. Er saß beim kalten Herd; als Mine im Finstern nach den Streichhölzern tastete, faßte sie zufällig auf sein Haar.
»Jeses, Arthur!«
Er rührte sich nicht.
»Biste schon lange da?«
Er stieß einen unartikulierten Laut aus, ungefähr klang es wie: ›Ja.‹
»War's heut nischte mit 'nem Verdienst?«
Sie seufzte tief.
Er auch.
»Un 's is doch heute so viel los uf der Straße!«
»Jawoll, für den, der Jeld hat,« sagte er ingrimmig.
Sie merkte es an seinem Atem, er hatte etwas getrunken.
»Haste gar nischt?« fragte sie zögernd und streckte die Hand aus. Wenn sie doch wenigstens fünf Pfennig hätte, um Fridchen eine Kuchenschnecke zu kaufen! Es war doch Weihnachten! »Gar nischte –?!«
»Verhör mich doch nich so! Zehn Pfennig hat mer eine jejeben, der ich 'ne Droschke ranjeholt habe un de Pakete rein jelangt. Zehn Pfennig – haha! Ob du die hast oder nich, is janz schnuppe, langen tut's doch nich. Ich hatte noch nischt Warmes im Leibe jehabt, ich habe 'nen Schnaps for jetrunken.«
»Jeses, Arthur, nu habe ich gar nischte, ooch rein gar nischt for Fridchen!«
»Ich kann der nich helfen!« Aber seine Stimme zitterte, als er das sagte. Er rief Fridchen heran und nahm sie auf seinen Schoß, und sie saß da ganz still. Sie merkte es wohl: heut durfte sie nicht plappern.
Es war ein trauriges Schweigen in der kalten Küche. Mine trappte schwerfällig hin und her, zog den Tischschub auf, kramte im Schrank und durchsuchte die Taschen von Arthurs Überzieher. Kein Stück Brot mehr, kein Endchen Wurst und auch kein Pfennig! Nur im Korb war noch eine Handvoll Kartoffeln und in der Düte ein Restchen Kaffee.
Ihre Hände zitterten, als sie von den letzten Preßkohlen in den Herd steckte und mit alten Zeitungen Feuer anmachte. Sollte sie zur Nachbarin gehen und etwas borgen? Ach, die hatte ja selber nichts! Zu den Schwiegereltern? Bei denen ging's ja auch bald zu Ende! Wenn der Bäcker morgen nicht wieder borgte und der Kaufmann auch nicht, was dann – – –?! Heute hatten sie noch Kartoffeln, aber morgen –?!
Eine plötzliche Schwäche ergriff sie; was sie in der Hand hielt, fahren lassend, sank sie mit einem lauten Aufseufzen auf den nächsten Sitz.
Arthur hob den Kopf und sah sie an, ohne Wort, mit einem Blick, vor dem sie erschrak.
Ein klägliches Lächeln erzwingend, sagte sie: »Weißte, Arthur, zu Neujahr krieg ich doch Trinkgeld!« So versuchte sie, ihm und sich Mut einzusprechen.
»Wenn wer bis dahin nich krepiert sin,« murmelte er finster, ließ Fridchen niedergleiten, stand rasch auf und ging nebenan in die Kammer.
Dort setzte er sich im Stockdunklen auf den Bettrand und stierte in die schwarze Leere, die ihn umfing. Hier sah er wenigstens nicht das niedergeschlagne Gesicht seiner Frau und die verlangenden Augen Fridchens.
Den ganzen Tag war ihm sehr elend zu Mut gewesen. Als er alle hasten und einkaufen und heimschleppen sah, war ein wütender Ingrimm in ihm aufgestiegen; er hätte die Faust heben und ins erste beste Schaufenster schlagen mögen, daß die Splitter flogen. Stunde auf Stunde hatte er gewartet, an den Ecken, vor den Modemagazinen, vor den Pfefferkuchenläden, vor allen Geschäften, durch deren Türen die kauflustige Menge ein und aus strömte; keiner gab ihm einen Pfennig zu verdienen. Und ihm wurde so kalt, so kalt, selbst das Herz erstarrte ihm. Und als er endlich zehn Pfennige verdient, hatte er den Ingrimm herunterspülen müssen mit einem Schluck – jetzt tat's ihm leid. Zehn Pfennige waren für Mine ein Heiligtum.
»Arme Mine!« Er sagte es ganz leise vor sich hin. Ja, der wäre wohler, wenn er nicht da wäre! Ein Esser weniger. Die würde sich allein besser durchbringen. Die war ja so sparsam, und wenn sie erst wieder ihre Waschstellen aufnehmen konnte, ernährte sie sich und ihre Kinder anständig. Und mitleidige Seelen würden sich finden, die ein verlassenes Weib unterstützen; und sie war ja nicht heikel, empfand nicht das Drückende des Sichbedankenmüssens, konnte sich auch harmlos freuen über eine alte Gardine und ein abgelegtes Kinderhemd.
Nein – er zuckte zusammen – das konnte er nicht! Wie ein Bettler dastehn, sich noch immer tiefer demütigen –?! Schnell überflogen seine Gedanken die Spanne Zeit, die ihn vom Gymnasium trennte; die Schamröte stieg ihm ins Gesicht – so tief war er heruntergekommen?! Nein, es war besser, daß er ging! – – – – Aber wohin –?! – – – – – – – – – Wieder untertauchen im Meer der großen Stadt, wie damals? Umherirren und umherbummeln, bei Mutter Grün nächtigen, wenn der Groschen für die Penne nicht da war? Auf den Bänken der Schmuckplätze lungern, sich von der Sonne den Buckel wärmen und auch den leeren Magen füllen lassen?!
Nein, nein, das konnte er jetzt nicht mehr! Dazu war er schon viel zu müde, viel zu alt.
Er strich sich über den eingesunknen Brustkasten und befühlte dann seine magren Arme. Wie rasch man doch altern kann! Wenn er dreißig Jahre zählte, würde er schon graue Haare haben – ja, ganz grau.
Jetzt fehlte nur noch, daß der Wirt sie heraussetzte; gedroht hatte er schon seit Wochen damit. Mit einer Mark Abzahlung hie und da ließ der sich nicht mehr befriedigen, er verlangte wenigstens voll und ganz die rückständige Miete vom November. Woher das Geld nehmen –?!
Arthur griff sich in die wirren Haare. Ja, er mußte gehn! Wieder auskneifen – aber nicht, wie damals!
Zwei Droschkenkutscher am Halteplatz hatten sich heute von einem erzählt, der sich aus Liebesgram aufgehängt. Lachend hatten sie es sich zugeschrieen von Bock zu Bock.
Aus ›Liebesgram‹ –?! Der reine Mumpitz, das gibt's ja gar nicht! Arthur lachte bitter. ›Aus Nahrungssorgen,‹ steht so oft im Polizeibericht; und das gibt's.
Er konnte es sich deutlich vorstellen, wie er im Tiergarten an einem kahlen Ast baumelte. Der kalte Vollmond schien ihm ins Gesicht und Eiskristalle hingen ihm am Schnurrbart. – –
Wie die Alte sich hatte! Die ganze Göbenstraße zeterte sie zusammen! Da würde die Klingel unter der Stufe wieder den ganzen Tag gellen und schrillen. Na, das brauchte er ja dann nicht mehr zu hören!
Nichts mehr sehn und hören, das war das Beste, das einzig Gute, was ihm blieb.
Tiefe Nacht war's in der Kammer, durch die dicken Eisblumen des Fensters drang kein Mond- und Sternenschimmer. Ein Zittern überfiel ihn. Ja, er würde gehn. Und bald! Sonst fiel er noch hier um und blieb liegen vor Schwäche. Trotz aller Erregung verspürte er den nagenden Hunger; ein schmerzhaftes Drehen war in seinem Magen, und im Leibe schnürten sich ihm die Gedärme zusammen. Ihm schwindelte.
Nur rasch, rasch! Einen Strick hatte er nicht, doch tat's auch der Hosenträger. – – – – – Aber nicht hier in der Kammer – das wollte er der Frau doch nicht antun als Weihnachtsbescherung. – – – – Wie froh konnte die eigentlich sein, wenn sie so einen Lumpen los war! Ach nein, ein Lump war er nun doch nicht, nur ein armer Teufel. Er fühlte ein grenzenloses Mitleid mit sich selber und zögerte. Der Angstschweiß brach ihm aus.
Da hörte er nebenan Geräusch, einen Stuhl rücken, Mines Stimme. Kam sie?! Die würde ihn zurückhalten!
In plötzlicher verzweifelter Entschlossenheit sprang er auf. Rasch fort! Schon faßte seine Hand nach dem Fensterriegel – öffnen – hinaussteigen auf den Hof – fortrennen und – –
»Arthur!«
Er stutzte.
Und nun ertönte ein Jubelschrei.
»Arthur, Arthur!« Mine riß die Kammertür auf, mit einer ihr sonst fremden Lebhaftigkeit stürzte sie auf ihren Mann zu; sie zog ihn am Ärmel. »Da – kuck mal – o Jeses ne, nu kuck nur!«
Ein paar verlegen dreinschauende Kinder standen mitten in der Küche. Es waren wohlgekleidete, rosige Mädchen mit freundlichen Gesichtern. Die Älteste hatte eben einen ziemlich großen Korb ausgepackt, auf dem Tisch lagen ein Stück Schweinefleisch, Reis, Kaffee, Zucker und ein langes Kuchenbrot.
In ihren Augen glänzte die Freude des Gebens; nun sagte sie schüchtern und doch wichtig: »Mutter sagt, Sie sollen sich auch 'n Feiertag machen!« Ihre kleinere Schwester anstoßend, flüsterte sie: »Du, Else, gib doch mal! – Hier, Frau Reschke, da sollen Sie Ihrer Kleinen was für kaufen, sagt Mutter!«
In Mines Hand lag ein Zweimarkstück. Sie starrte und staunte und konnte noch gar nicht an ihr Glück glauben. »Was – was – das soll ich ooch noch kriegen?!«
Die kleine Else nickte. »Hm. Und Lore soll noch sagen –«
»Ich weiß schon,« unterbrach die Große rasch, ging auf Mine zu, knixte und gab die Hand: »Vergnügte Feiertage!«
Mine war langsam in die Kniee gesunken; so umfaßte sie die kleinen Mädchen mit beiden Armen. »Oh, nu hat se mer erscht neulich de schönen Windeln un de Hemdchen un das Jäckchen geschenkt! O de liebe, gutte Mutter! O ihr gutten Kinder!« In ihrer Herzensfreude drückte sie die beiden so heftig, daß sie ganz verdutzt zurückwichen.
»Wir müssen nu gehen,« sagte verschämt die Ältere.
Und die Kleine trippelte schon zur Tür: »Jetzt kriegen wir auch beschert!«
»Fridchen, Fridchen,« rief Mine – das Kind hatte bis jetzt stumm und verdutzt dagestanden – »nu bedank der ooch! Kuck, zwei Mark! Und so viel Essen!«
Fridchens große Auge verschlangen fast das Kuchenbrot, und auch Arthurs bleiche Wangen hatten sich beim Anblick der Eßwaren leicht gerötet. Merkwürdig, heute, diesen freundlichen Kindergesichtern gegenüber, wurde ihm das Danken nicht so schwer.
Er gab der Ältesten die Hand. »Sagen Sie der Frau Mama unsren besten Dank, Fräulein! Unsren allerbesten Dank!«
Die Tür hatte sich hinter den Kindern geschlossen, jetzt hörte man noch ihre fröhlichen Stimmchen auf dem Hof.
Da brach Mines Freude erst recht los; sie nahm das Stück Schweinefleisch und wog es selig in beiden Händen. »Ne, so viel, ne, so viel Fleisch! Das langt for de ganzen Feiertage – ach ne, noch viel länger!«
»Na na!« Arthur betrachtete es kritisch. »Lange jenug haben wir ja keins jekriegt – 'n janz nettes Stück!« Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. »Ich habe Hunger!«
»Da!« Sie hielt ihm das Kuchenbrot hin.
Er schnitt sich ein Stück ab, und dann eins für Fridchen. Jetzt erst glaubte die an ihr Glück; jauchzend, mit ausgestreckten Händchen, lief sie auf den Vater zu.
Mine war von großer Geschäftigkeit; sie fühlte nichts mehr von Erschöpfung, noch einmal war sie so flink, wie ein junges Mädchen. Rasch warf sie ihr Tuch um. »Ich komm gleich wieder, paß derweilen ufs Feuer, ich bring ooch noch Preßkohlen mit.«
Fort war sie, und Arthur, Fridchen auf dem Schoß, saß wieder am Herd; aber er brütete nicht finster vor sich hin, wie vordem, sondern er beobachtete mit Behagen das Fallen der glühenden Funken ins Aschenloch und horchte dem Singen des Wasserkessels. Seine Todesgedanken waren verschwunden, wie fortgeblasen, seit er den ersten Bissen in den Mund gesteckt. Die Stolle war gut.
Mine kam bald wieder. »Ich mein, 's is garnich mehr so kalt,« sagte sie vergnügt und schüttelte ihr Tuch aus, »'s schneet schon. Was sagste nu, Fridchen?!«
Sie hatte einen kleinen Tannenbaum mitgebracht; Zweige hatte der freilich nur auf einer Seite, dafür hatte sie ihn aber auch billig erstanden, nebenan im Kohlenkeller; und wenn man die kahle Hälfte an die Wand rückte, ahnte kein Mensch, daß es eigentlich nur ein halber Weihnachtsbaum war. Und Lichtchen wurden an der Vorderfront aufgesteckt, ganze sechs Stück. Sie waren nur dünn, aber sie brannten merkwürdig hell.
Mines Augen leuchteten. Als es jetzt klopfte, rief sie heiter: »Herein!«
Der alte Reschke war's; Fridchen lief ihm entgegen. »Du sollst nich denken, daß Jroßvater ihr vergessen hat,« sagte er zu Mine, die Hand auf Fridchens Kopf legend. »Da haste 'ne Puppe for ihr, bau se ihr uf!« Und sich zu dem Kind niederbeugend flüsterte er: »Was, Fridchen, willste ihr Jrete nennen? Oder« – er holte seufzend Atem und schnüffelte – »oder – Trudeken?«
Mine faßte die Hand des Alten. »Komm, Vater, setz der! Wir sind doch ooch noch da,« sagte sie herzlich.
Die Lichtchen am Bäumchen flackerten; leise knisternd glimmten die vertrockneten Zweige an, ein wunderbar starker Duft erfüllte die armselige Küche.
Mine stellte sich neben ihren Mann, räusperte sich und stimmte dann an, was sie einst Weihnachten daheim in der Schule gesungen; noch hatte sie die alte Weise nicht vergessen. Aber niemand fiel mit ein; die Männer kannten das Lied nicht, und Fridchen war noch zu dumm. Da sang sie es allein bis zu Ende, stark und deutlich.
Die Hände vor sich gefaltet, schaute sie sinnend in den Tannenbaum. Eine Regung ging durch ihre Seele, die sie bisher nicht gekannt.
Nie hatte sie Ähnliches empfunden, auch nicht, wenn sie daheim allsonntäglich in der Dorfkirche gesessen; und doch hatte da der Herr Pastor so lange und eindringlich gewettert, daß die Schläfrigen auffuhren, der Kantor kräftiger anstimmte und die alten Weiber lauter schluchzten.
Auch als sie mit Grete bei der Heilsarmee gewesen, war ihr nicht so geworden; da hatte sie sich gegraut. Die Männer und Frauen mit ihrem Halleluja und ihrem Händeklatschen, all die Gesänge, die Reden, und gar das Spiel vom Engel und Teufel flößten ihr fast Widerwillen, keine Andacht ein. Arme Grete!
Und bei ihrer Trauung in der großen herrlichen Stadtkirche, in der die bunten Fenster einen wunderbaren Schimmer warfen, in der berghohe Pfeiler aufwuchsen, hatte sie da Ähnliches verspürt?!
Mine faltete ihre Hände fester. Jetzt flogen ihre Gedanken höher, als Pfeiler und Mauern und Dächer sind, und flogen weit hinaus vor die Stadt, draußen ins freie Feld.
Da stand ein Stern über der dunklen Erde in freundlichem Glanz.
Und über dem Stern noch, da wohnte jemand, der sah auch sie.
Eine tröstliche Gewißheit kam über sie bei diesem Gedanken, ihr Blut floß rascher durch die Adern in einer fröhlichen Zuversicht.
Sie flüsterte leise für sich:
»Vater unser, der du bist im Himmel –«
– – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – –
Und dann betete sie laut weiter, gläubig wie ein Kind:
»Unser täglich Brot gib uns heute,
Und vergib uns unsre Schuld!«
Die beiden Männer sahen sie verwundert an, um Arthurs Lippen zuckte es sogar ein wenig spöttisch. Ernsthaft nickte sie ihm zu; und dann zog sie Fridchen zu sich heran und legte ihre arbeitsrauhe Hand um die weichen Kinderwangen.
»Das von ›unsren Vater im Himmel‹ wer' ich ooch 's Mädel lernen,« sagte sie. »Wenn mer'sch glaubt – ju ju – is 's gar sehre gutt. 's macht for unseinen 's Leben leichter!«