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Mine saß in ihrer Küche auf der Eimerbank, hatte den linken Ellbogen auf den Herd gestemmt, den Kopf in die Hand gestützt und starrte in die verglimmenden Funken des offenen Aschenloches. Die rechte Hand, die ihr lässig im Schoße lag, hielt einen Brief. Der war von zu Hause. Im scheidenden Licht des Tages hatte sie ihn mühselig entziffert. Der Vater selber schrieb, wie mit dem Besenstiel gekratzt. Die Male war nicht mehr daheim, die diente seit der Einsegnung auf dem Gollmützer Vorwerk, als Kindermagd, um Essen und Kleidung.
Es war der erste Brief, den Mine seit drei Monaten von zu Hause erhalten; sie hatte sich weiter nicht verwundert, die waren in der Ernte und hatten keine Zeit. Aber nun schalt der Vater, unverblümt gab er seiner Empörung Ausdruck, daß die Tochter nicht längst ihre Ersparnisse nach Hause geschickt.
›Wer mechten jetzte 'ne Kuhe kaufen. Nu hat mer su'n großes Mensch zu Berlin, nich emal zehn Dahler tut se ei'm derzue. Se sein der so gutt, wie uf der Sparkaß. Aber ne, for de Eltern is nischt übrig, die sich's vom Maule abgespart han.‹
Und so weiter.
Düsteren Blickes verfolgte Mine das langsame Verlöschen der Funken. Nun war die Asche ganz dunkel, ganz tot. Mit einem tiefen Seufzer stand sie auf und reckte die steifgewordenen Arme über dem Kopf. Dann ging sie schwerfälligen Schrittes in ihre Kammer.
Hier sah es anders aus, als zu Berthas Zeiten. Keine Stearintropfen auf Stuhl und Diele, keine Kolportageromane hastig in die Schublade geworfen, daß noch der zerrissene Umschlag des Heftes heraussteckte.
Alles peinlich aufgeräumt.
Nur überm Bett die beiden bunten Bilder: eine Radlerin in Pumphosen – für Reklame Kontinental Pneumatik – und ein Gigerl mit Riesenschnurrbart – Plumeyers unvergleichliches Mittel zur Erreichung der Manneszierde – hatte Mine zu schön gefunden, um sie zu verbannen.
Nun kniete sie vor ihrem Schließkorb und schlug langsam den Deckel zurück. Da war ein Knäulbehälter, tief unter allen Sachen versteckt; den zog sie hervor und drehte mit einer bedächtigen Sorgfalt den Deckel. Silbergeld klapperte heraus, dazwischen auch ein Goldstück; mit spitzen Fingern faßte sie jede einzelne Münze und zählte sie sich in den Schoß. Sie tat's mit einer gewissen Andacht; das waren auch Heiligtümer, an jedem Groschen klebte der Schweiß saurer Arbeit.
»Ein Taler – zwei – drei – vier – fünf Taler,« murmelte sie. Und nun – ihr Gesicht strahlte auf – gar ein Goldstück! Wenn die Bertha doch nun endlich das ihr Geliehene wiedergeben möchte, dann wären hier mindestens zehn Mark mehr! Die Reschke hatte sich neulich auch drei Mark geborgt; die hatte gerade kein Kleingeld in der Kasse. Und wenn sie mit dem Arthur ausging, dann kostete es sie doch auch was; sie konnte sich doch von dem armen Menschen, der selber nichts hatte, nicht noch freihalten lassen. Da steckte sie ihm lieber ihr Portemonnaie zu: ›Da, bezahl!‹
Wie sie auch zählte und die letzten Gröschchen, die noch nachklapperten, dazu rechnete, viel mehr wurde es nicht: Sechsundzwanzig Mark!
Mit liebevollen Augen betrachtete sie das zusammengestrichene Häufchen. Und das sollte sie nun alles weggeben, es gar nicht mehr hervorholen dürfen an stillen Abenden und stolz und freudig überzählen?! Es nicht mehr in den Händen halten, in eben den Händen, die rauh und hart vom Erwerben waren.
Sie biß sich auf die Lippen und blickte mit einem harten Ausdruck vor sich hin. Eine Kuh wollten sie von ihrem Geld kaufen, von der sie doch keinen Tropfen Milch kriegte! Hatten die von zu Hause ihr denn schon mal was geschickt?! Keine Krume. Nein, das Geld blieb hier!
Sie preßte es zwischen die schwieligen Handflächen und befühlte es mit den vom Spülwasser rissigen Fingerspitzen.
Den ganzen Abend blieb sie finster und in sich gekehrt. Sie hatte kein gutes Gewissen. Was würden die zu Hause sagen, wenn sie's nicht schickte?! Unschlüssig ging sie wieder in ihre Kammer, nahm noch einmal das Geld heraus und schloß es dann doch wieder ein.
Sie schwankte und fühlte sich hin und her gerissen; zerstreut deckte sie den Tisch zum Kaffee statt zum Abendbrot und stellte an den Platz des Herrn einen Kinderbecher. Als die Herrin sie anrief, schreckte sie zusammen; ihr armer Kopf war so voll von schweren Gedanken.
»Es ist schrecklich,« klagte die Hauptmännin ihrem Gatten, »wie zerfahren die Minna ist! Ich möchte wissen, was die in ihrem Kopfe hat, statt an ihre Arbeit zu denken. Das kommt davon, sie hat morgen ihren Sonntag. Am Ende hat sie gar einen Liebhaber!«
Der Hauptmann konnte einen Seufzer nicht unterdrücken: »Ach herrjeh! Na, dann ist nichts mehr mit ihr los!«
Die Kinder hatten nichts Eiligeres zu tun, als in die Küche zu laufen, wo Mine auf den Knieen lag und auf einem über die Diele gebreiteten Papierbogen das Blankzeug putzte. Sie rieb, daß sie schwitzte; eine feuchte Haarsträhne hing ihr tief in die erhitzte Stirn, die hochgestreiften Ärmel der Kattunbluse ließen die herausgearbeiteten Muskeln an den starken, grobhäutigen Armen frei.
»Du, Minna,« rief das altkluge Kurtchen und pflanzte sich vor sie hin, »du hast einen Liebhaber!«
»Ich –?!« Betroffen sah sie auf; die Ofentür, die sie gerade so schön blank gescheuert, spiegelte ihr verdutztes Gesicht.
»Ja, Mama hat gesagt, du solltest lieber deine Arbeit im Kopf haben. Und Papa hat gesagt, mit dir wäre nichts mehr los. Ja, das hat er gesagt!«
Der Junge nickte wichtig und lief dann fort, seine kleineren Geschwister hinter sich drein ziehend.
Einen Liebhaber –! Ja, hatte sie denn einen Liebhaber? Sie war doch nur ein paar Mal den Sommer mit Arthur ausgegangen. Da waren sie einmal im Grunewald gewesen, einmal an der Jannowitzbrücke auf der Spreeterrasse und einmal bei den Stettiner Sängern. Sie hatten steif nebeneinander gesessen, ihre Biergläser vor sich; nur den Arm hatte der Arthur auf ihre Stuhllehne gelegt.
Ein jähes Rot übergoß sie plötzlich, es fuhr ihr wie ein Stich durchs Herz – war er nun ihr Liebhaber?!
Lange war sie heute nacht wach in ihrem schmalen Bett. Sonst lag sie hier wie ein Scheit Holz und rührte sich nicht, oft hörte sie in der Morgenfrühe das Rasseln des Weckers nicht; jetzt hatte sie die nackten Arme über den Kopf geworfen und seufzte in einer seltsamen Beklemmung. Als sich endlich ihr Denken verwirrte, war es Arthurs Gestalt, die sie im Traum sah. Nein, sie konnte das Geld nicht denen nach Hause schicken, wer sollte denn Sonntags die Zeche bestreiten?!
Aber wie mit dumpfem Geschwirr summte es vor ihrem Ohr: ›Ehre Vater und Mutter, auf daß dir's wohl gehe!‹ – – –
Sie saß wieder in der Dorfschule, der Kantor schlug mit dem Stecken auf den Tisch: ›Noch einmal! Alle zusammen! Auf – daß – dir's – wohl gehe!‹ – – –
Mit einem jähen Schrecken fuhr sie auf. Ja, sie mußte das Geld nach Hause schicken, damit es ihr und dem Arthur recht, recht gut ginge!
Im sterndurchflimmerten Bleichgrau der Sommernacht kroch sie aus dem Bett und tappte mit bloßen Füßen an ihren Korb: aus den untersten Tiefen holte sie ihren Schatz vor, klapperte mit den Geldstücken und ließ sie einzeln durch die Hände gleiten.
Am Morgen früh, bevor die Post zur sonntäglichen Ruhe geschlossen wurde, trug sie all ihr Geld hin. Mit zitternder Hand schob sie's dem Beamten durch das Schalterfenster. Dann stand sie noch lange vor der Tür der Post; sie hätte weinen mögen. Fort war's und mit ihm die beruhigende Gewißheit einer heimlichen Zuflucht.
Sie blieb traurig, bis am Nachmittag, gegen fünf, ein bekannter Pfiff auf dem Hof erscholl. Sie stand gerade vor dem Spiegelchen in ihrer Kammer und legte die letzte Hand an ihren Putz; fast hätte sie die Stecknadel verschluckt, die sie zwischen den Zähnen hielt, so rasch fuhr sie mit dem Kopf zum Fensterchen heraus. Das war sein Zeichen!
Hastig stülpte sie den Hut auf, ergriff Filethandschuh und Sonnenschirm und polterte die Hintertreppe hinab. Im Hof war er nicht mehr, aber da, auf der Straße, am Laternenpfahl stand er. Den Strohhut auf ein Ohr geschoben, das Stöckchen unter den Arm geklemmt, die Zigarette im Mundwinkel, so trat er ihr entgegen; die weiten Hosen schlotterten ihm elegant um die Beine.
»Arthur!« Sie wurde rot und blaß.
»Tag, Mine!« Er gab ihr die Hand, und sie sah einen großen Siegelring an seinem Zeigefinger blitzen.
»Neu?« fragte sie bewundernd.
»Neu,« wiederholte er nachlässig und stellte sich doch zugleich vor sie hin, als wollte er sagen: ›Bewundre nur weiter!‹
Nun sah sie erst, wie fein er war! In einem hellen Anzug, den sie noch nicht kannte, und in braunen Halbschuhen; unterm Kragen flatterte ihm ein hellblauer Seidenschlips mit weißen Punkten, auf den Leib baumelte ihm eine Uhrkette mit allerhand Berlocken. Wie ein Herr! Der Mund blieb ihr vor Staunen offen.
»Fein, was?« sagte er mit heimlichem Stolz und klopfte mit dem Stöckchen an seine Hosen. »Alles auf Pump! Aber was hilft's, man muß doch standesgemäß auftreten. Von morgen ab schreibe ich Akten bei Rechtsanwalt Sieboldt in der Jägerstraße. Fünfundvierzig Mark monatlich für den Anfang; dann mehr. Die schöne Auguste, die von unserer Straße dahin verzogen ist, hat mir die Stellung verschafft. Ich bin froh, endlich krieg ich doch meine Ruh. Und Radfahren lernen werd ich nu auch!«
»Hast du en Glücke!« Sie schlug erfreut die Hände zusammen, und gleich darauf empfand sie es wie eine besondere Genugtuung, daß er, der feine Herr, sie noch ausführte. »Wohin gehn wer denn!« fragte sie verschämt und glücklich.
»Ja wohin?!« Unternehmend fuchtelte er mit dem Stöckchen durch die Luft. »Irgendwohin, wo's recht fidel ist. Heut wollen wer mal leben. Weißte, Mine, kost's, was es kost!«
Da fiel's ihr plötzlich schwer auf die Seele. »Ich hab kein Geld,« sagte sie kleinlaut.
Er sah sie sprachlos an.
Tief senkte sie den Kopf, sie wagte gar nicht aufzublicken. »Ja, ja, kannst mer'sch glauben,« murmelte sie. »Ich hab heut denen heeme geschickt.« Das Weinen kam sie an, halb erstickt stieß sie heraus: »Alles!«
»Verflucht und zugenäht!« Er stampfte mit dem Fuß auf; als er ihr bekümmertes Gesicht sah, lachte er verlegen. »Ja – hm – ich habe auch nischt!«
Wie begossen standen sie auf der Straße. Da schien nun die Sonne. Vom Botanischen Garten herüber kam Duft und Rauschen grüner Bäume. Weißgekleidete Kinder hüpften an der Eltern Hand, geputzte Mädchen stolzierten am Arm der Liebsten. Die offnen Pferdebahnen jagten vorüber mit freundlichem Klingling, von sonntäglichen Kleidern wie mit bunten Wimpeln beflaggt; melodischer tönte das Rollen der Räder, glatter schienen sie dahin zu fliegen in der Freude des Sonntags. Überall Sonntagsmienen, Augen, die in Erwartung sonntäglicher Freuden blitzten. Aus der Enge des Alltags entlassen, eilten die Menschen froh. Sonntagslust, Sonntagshimmel. Unzählige Goldstäubchen flimmerten in der Luft, der Asphalt war wie mit Gold übergossen.
Kein Geld! Mit einem tiefen Seufzer sahen sie sich an. »Was nu!« flüsterte Mine.
Er wühlte in der Tasche, nach langem Suchen brachte er etwas hervor und hielt es ihr auf der flachen Hand entgegen. »Da – fünfundzwanzig Pfennige! Bare fünfundzwanzig! Das langt gerade für zwei Bier, und fünf Pfennig für den Kellner. Es is ja allens wurscht. Komm, wir machen nach Wilmersdorf in den Seepark, das is nich so weit, da brauchen wer wenigstens keine Pferdebahn.«
Ein heller Freudenschein verklärte ihr Gesicht; er ging doch mit ihr, auch wenn sie kein Geld hatte! Glückselig nickte sie, und mit großen Schritten neben ihm hertrabend, wirbelte sie mit ihrem schweren Wollkleid den losen Staub auf.
Nun waren sie draußen, hinter den letzten Häusern der Grunewaldstraße.
Eine unabsehbare Fläche breitete sich aus; keine Wiese, kein Wald. Brachliegende Felder, schon zu Bauplätzen bestimmt, rechts und links. Ein loses Windchen spielte mit den elenden Rispen des Sandhafers. Keine Blumen. Aber Knaben ließen einen Drachen steigen und jubelten laut, wenn die sommerlich warme und doch schon an den Herbst mahnende, starke Luft das papierene Fabeltier auf ihren Armen wiegte.
Mütter schoben quietschende Kinderwagen vor sich her, und Väter trugen müde Sprößlinge. Junge Männer und Mädchen, Tanzlust in den Blicken, verschmähten übermütig den gebahnten Weg und balancierten über Steinhaufen und Sandhügel, rechts und links von der Straße.
Von ganz fern, wo auf dem Teller der Ebne ein dichter Rand von mächtigen Alleebäumen aufsteigt, wehten Musikklänge her.
Und über alles goß die Sonne ihren vollsten Schein.
Mit einem von der Freude merkwürdig verschönten Gesicht sah Mine in die freie Weite. So ganz draußen waren sie eigentlich noch nie gewesen. Mit geblähten Nasenflügeln sog sie die ländliche Luft ein. So was hatte sie lange nicht geatmet! Immer den Küchenbrodem, den Qualm der Kohlen und den Fettdunst des Spülwassers.
Eine große Freude machte ihr Herz zittern; sie wähnte sich daheim auf der grünen Golmützer Flur, daheim und – mit ihm! Sie hätte jubeln mögen. Aber sie schämte sich; so machte sie nur einen Hopser über einen kleinen Sandbuckel und sagte mit einem tiefen wohligen Atemzug: »Hier is 's mal wunderscheene! Mer sieht ja den Himmel!«
»Ja, den siehste,« brummte Arthur, noch immer verstimmt, »aber weiter auch nischt!«
»Ach, sei doch vergnügt, Arthur,« bat sie innig, »maule nich! Mer sein doch zusammen!«
»Ja, hm, sehr richtig!« Sein mißmutiges Gesicht hellte sich auf; er sah sie an.
Kühn saß der Strohhut mit einem ganzen Rosengarten auf ihrem durchs Wasserstrählen etwas rostig gefärbten Haar. Das bot allen Bemühungen der Brennschere Trotz; keine Locken wollten werden, einzig an den Spitzen krümmte es sich um ein weniges aufwärts. Ihr schwarzes Wollkleid war eigentlich nicht für die Jahreszeit passend, im Winter hatte sie sich's angeschafft; aber es war ihr höchster Staat. So ein schwarzes Kleid war immer ihr Ideal gewesen.
Mit den hübschen Mädchen, die hier des Weges kamen, war sie nicht zu vergleichen; aber ihre Wangen waren rot, ihre Gestalt voll, in Luft und Sonne aufgewachsen wie ein Baum und ihre Augen, braune aufrichtige Augen, die sahen ihn – das merkte Arthur wohl – in stiller Bewunderung an.
Das schmeichelte ihm. Seine Laune hob sich. Wie ein richtiger Galan ging er neben ihr her, das Stöckchen wirbelnd. Immer verwegener rückte er den Hut und ließ den Siegelring in der Sonne funkeln.
Beinah hätte es eine Rempelei gegeben. Lautlos kam ein Radfahrer angesaust. Mine stieß einen markdurchdringenden Schrei aus, als die Alarmglocke dicht hinter ihr erklang. Der Radler wollte ausbiegen, sie sprang auch gerade nach jener Seite; heftig stießen sie zusammen, Mine wurde seitlings in einen Erdhaufen gebettet, der Radler flog im Bogen von seinem Sitz.
Arthur schäumte: konnte der Kerl nicht aufpassen? Er fühlte sich ganz als Ritter seiner Dame. Er schimpfte, der Radfahrer schimpfte, Mine zitterte – würden sich die jetzt an den Kragen packen?! Aber der Radfahrer, als er sah, daß seine Maschine keinen Schaden genommen, machte sich davon, und Arthur, das Stöckchen kampfbereit erhoben, den Hut aus der heißen Stirn geschoben, behauptete, stolz und blaß, als Sieger das Feld.
Mine hing sich an ihn.
»Komm man,« bat sie, »laß ihn doch!«
Er konnte sich so rasch noch nicht beruhigen. »Verfluchter Kerl! Esel! Rüdiger Bengel! Soll sich noch mal unterstehn! Knote!« Aber er ließ sich den Arm mit dem erhobenen Stöckchen doch niederziehn. Und dann klopfte er ihr das Kleid ab und fragte: »Haste dir auch weh getan?«
Sie drückte dankbar und vertrauensvoll seine Hand.
»Keen bißchen!«
Er bot ihr galant den Arm, sie nahm ihn vergnügt an. Was sie sonst nie getan hatten, jetzt gingen sie Arm in Arm.
Unter den mächtigen Rüstern der Allee näherten sie sich dem Seepark. Eine starke Militärmusik schallte ihnen entgegen; Kopf an Kopf saß innen die Menge. Tisch neben Tisch, Stuhl bei Stuhl. Aufgeregt ruderte die Schwanenmutter mit ihren Jungen auf dem See. Lockende Weisen erklangen; hellgekleidete Mädchen hüpften in den Tanzsaal, Kellner eilten mit fliegenden Frackschößen, Uniformen blinkerten, blaue Rauchkringel kräuselten sich.
War das schön! Sonnige Luft, der See so blank, die Menschen so vergnügt!
Entzückt stapelten sie darauf zu. Da – »Zehn Pfennige Entree pro Person! Großes Militärkonzert, Kinder die Hälfte,« schnarrte der Mann am Eingang und streckte ihnen ein Programm unter die Nase.
Unwillkürlich wichen sie zurück. Mine wurde blutrot, aber Arthur faßte sich schnell. »Ah, danke, ich sehe schon! Noch nich da! Ich muß hier draußen erst 'nen Freund erwarten. Komm, wir gehn ihm entgegen!«
Damit zog er Mine vom Eingang fort.
Sie war dem Weinen nah. Den ganzen Vormittag hatte sie sich hin und her gehetzt, mindestens achtmal war sie die vier Treppen gelaufen; die Mittagssonne, die durchs Küchenfenster prallte, hatte sie, im Verein mit der Hitze des Herdes, fast gebraten. Jetzt überkam sie die Übermüdung und der Durst. Ach, nur wenigstens sich hinsetzen und die Füße, die in den Sonntagsstiefeln schmerzten, ausruhen lassen!
Schwer schleppte sie sich an seinem Arm.
»Verflucht,« murrte er in sich hinein. »Immer das Geld, das elende Geld! Ich könnte alles zusammenschlagen.«
Sie kam sich sehr schuldig vor – warum hatte sie auch alles weggeschickt?
Langsam, ohne mit einander zu sprechen, stolperten sie dahin. Unbewußt suchten sie die Einsamkeit.
Der Invalide mit seiner Harmonika und das alte Mütterchen mit gelben Pflaumen und Schaumbretzeln, die den Eingang eines Heckenweges besetzt hielten, waren die letzten Menschen.
Unbehelligt wanden sie sich durch die Büsche. Und nun war das Pfädchen zu Ende. Weite, stille, beglänzte Felder.
Mines Verschüchterung wich; mit einem Ruf des Entzückens stürzte sie sich auf den nächsten Rain, da blühten Klatschmohn und Katzenpfötchen. Sie rupfte mit beiden Händen und lachte aus tiefinnerster Seele. Hier wollte sie bleiben!
Mißmutig ließ er sich neben ihr nieder, aber bald gefiel es auch ihm. Er streckte die Beine weit von sich, legte den Kopf in ihren Schoß und blinzelte in den blauen, wolkenlosen Himmel.
Fern piepte eintönig die Harmonika, gedämpft schwebten die Klänge des Militärkonzertes bis hierher. Sie spitzten die Ohren: das hatten sie nun gratis!
Ein wohliges Ausruhn kam über die Müden. Es roch hier so köstlich nach Erde, nach Kartoffelkraut, nach halbdürrem Gras. Eine Grille zirpte – nun eine zweite – das war noch ein Konzert. Und jetzt fingen Frösche an, bald hoch, bald tief; sie sangen ihren Liebeschor in jenem umbuschten Tümpel.
Sonst Stille, Frieden, Einsamkeit, Sabbatruhe der Felder.
Immer behaglicher nestelte sich Arthur ein; er verbarg das Gesicht in Mines Kleid, die Sonne blendete ihn. Beide Arme hielt er um ihre Taille geschlungen.
Sie hörte ihn gleichmäßig atmen und wagte nicht sich zu rühren; den Sonnenschirm hielt sie aufgespannt, damit ihn kein Strahl störe. Eine lähmende Schläfrigkeit kam auch über sie, ein zarter Nebel legte sich vor ihre Augen, sie wußte es nicht, daß der Schirm ihrer Hand entsank.
Sie schlummerten. – – – – – – – –
Ein spielendes Lüftchen schreckte Mine auf. War's möglich, so lange schon saßen sie hier? Ein weiches Licht war statt des Sonnenglastes gekommen. Die abgeernteten Felder, die Kartoffeläcker, die sandigen Wege waren schön.
Mines Augen schwammen, sie dachte an daheim; und doch hätte sie jetzt nicht mehr dort sein mögen, um alles in der Welt nicht, denn – sie lächelte und seufzte leise und strich mit ungeschickter Zärtlichkeit über die schön pomadisierten Haarwellen an Arthurs Hinterkopf.
Er erwachte.
Erst jetzt, als sie aufstehen wollte, merkte sie, daß ihr der Rücken ganz steif geworden war, und in den Füßen kribbelte es, wie von tausend Ameisen. Sie mußte hell aufschreien: »Au, meine Füße sind eingeschlafen!«
Er rieb sie ihr um die Knöchel, und aus Scherz kniff er ein wenig in die Wade; da zog sie verschämt das Kleid tiefer und sprang rasch auf.
Auf dem Rasen, neben der Einbuchtung, die ihre Körper gedrückt, welkten die abgepflückten Blumen unbeachtet.
Hand in Hand gingen die beiden davon.
Eine feine Dämmerung umhüllte sie wie mit sanften Schleiern.
Silbergrau war die ganze Welt, silbern der Mondkahn in den silbernen Wellen des Äthers.
Zart wie ein Hauch kam etwas geflogen mit dem Abendwind und stahl sich ins Herz.
Drüben vom Seepark kamen schmachtende langgezogene Melodieen. Arthur begann mitzusummen: ›Das Meer erglänzte weit hinaus.‹ Ein wunderbares Pistonsolo ließ sich hören. Mine lauschte wie verzückt und lehnte sich an Arthur.
Er umschlang sie fester und küßte sie so heftig, daß er ihr den Hut vom Kopf stieß. Er wollte sie gar nicht loslassen. »'nen Kuß,« stammelte er, »gib mir 'nen Kuß! Noch einen!«
Sie tat ihm den Willen, sie selbst war ganz willenlos. Immer die schöne Musik, und der Hauch von den Feldern, der sie gedankenlos froh machte, wie ein Kind auf der Heimatflur.
Sie lachte. Er lachte. Hinter einander herjagend, rannten sie den Rain entlang. Nun waren sie im Heckenpfad; das alte Mütterchen war weg, der Mann ohne Beine nur noch allein da, aber er spielte nicht mehr die Harmonika, müde ließ er den Kopf auf die Brust hängen und wartete auf sein Weib, sein Kind oder den Unternehmer, der ihn heimführen sollte.
Auf flinken Füßen jagte das junge Paar an ihm vorbei. Da hielt Mine plötzlich an: »Arthur, gib ihm was!«
Und Arthur zog die für den Kellner bestimmten fünf Pfennige und gab sie ihr, und sie legte sie dem Krüppel auf die Harmonika.
So leicht hatte sich Mine noch nie in ihrem Leben von fünf Pfennigen getrennt, selbst einen Groschen hätte sie willig gegeben. Ein plötzliches Mitgefühl für andre hatte sie erfaßt.
Stolz gingen sie am Seepark vorbei; wie Leuchtkäferchen schimmerten die vielen Laternen im Dunkel des Gartens. Schon war die Straße belebt von Heimwärtsziehenden, von müden Eltern, müden Kindern; die tanzlustigen Pärchen fingen jetzt erst recht an.
Sie suchten die Menge zu vermeiden; sich zärtlich führend, schlichen sie hinter den andren drein oder stolperten abseits vom Wege zwischen Sandkuhlen und Heckengestrüpp. Mitunter blieben sie stehen und sahen sich an; sie hätten sich gern umarmt, aber Mine war scheu – da waren zu viel Augen! Immer wieder wies sie ihn zurück.
So drückte er nur ihre Hand, ihren Arm, ihre Taille. Ihre Gesichter glühten. Die Luft ging lau und trug auf ihren Schwingen verirrten Duft von fernen Gärten. Es hatte lange nicht geregnet, das Land war dürr, und trocken waren auch ihre Kehlen; ihre Lippen brannten.
In einem kleinen Gartenrestaurant, das an ihrem Wege lag, kehrten sie ein. Im ›Landhaus‹ war sonst kein Amüsement zu holen, keine Musik, keine Würfelbuden, keine Rutschbahn; aber heut war der lauschige stille Garten so recht etwas für sie. Sie drückten sich in den entferntesten Winkel und rückten so ganz nah zusammen; seine Rechte lag auf ihrer Schulter, seine Linke hielt sie zwischen ihren beiden Händen unterm Tisch.
Ihr Bier war ausgetrunken. Neue Gäste kamen, ein ganzer Strom schon auf dem Heimweg Begriffener ergoß sich noch einmal hier herein, alle Tische waren rasch besetzt. Schon warf der Kellner ärgerliche Blicke auf das Pärchen in der Ecke, das da wie angenagelt saß und doch so gut wie nichts verzehrte. – ›Poplige Gesellschaft! Nicht mal fünf Pfennig Trinkgeld hatten die gegeben!‹ Mit Absicht streifte er immer wieder an ihnen vorbei; nun wies er ein paar Platzsuchende an ihr Tischchen.
Da flohen sie.
»Wie lange darfste ausbleiben?« flüsterte Arthur, als sie draußen unter den schwarzen Bäumen der Allee standen.
»Ich hab den Schlüssel – bis zwölwe!«
Jetzt ging es erst auf zehn.
»Wir gehn noch nich nach Hause, noch lange nich,« flüsterte er wieder und zog ihren Arm fester in den seinen. »Komm! Is 's hier nich schöner?«
»Ja,« seufzte sie und ließ sich willig ziehen, immer weiter hinein, unter die schwarzen Bäume. – – – – – – – –
Zwei, drei Villen noch, schattenhaft hinter dichtem Laubwerk auftauchend. Hinter den Gittern betäubender Blumenduft – Reseden, Levkojen – dann eine unendliche, dunkle, einsame Leere, von weltfernen Sternen nicht erhellt.
Glühende Wange an glühende Wange geschmiegt, heißer Hauch heißem Hauch entgegen zitternd. Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte.
Sie schreiten dahin, immer tiefer hinein in die Einsamkeit, die ihnen zu eigen gehört, ihnen jetzt ganz allein.