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XIII

Der erste Oktober war vor der Tür. Jetzt war die Gänsesaison bald in vollem Schwung. Mutter Reschke hielt sich auch welche, in einem kleinen Ställchen im Sand- und Kartoffelkeller. Ganz mager und dürr vom Händler gekauft, wurden sie da fett gemacht – genudelt – und dann als ›pikfeine Oderbrücher‹ wieder verkauft. Man hatte immer einen guten Profit dabei, selbst wenn eine aus Mangel an Licht und Luft, oder wegen einer Nudel, die ihr zu unsanft eingestopft worden, rasch geschlachtet werden mußte. Dann aß man eben auch mal Gänsebraten. Mutter Reschke war, wie sie sagte, ›für 'nen juten Happen immer zu haben‹, und Vater Reschke, der bei saurer Milch und Schalenkartoffeln groß geworden, ließ für was Feines sein Leben.

In letzter Zeit wurde der Tisch bei Reschkes überhaupt besser geführt; Mutter Reschke fühlte sich, trotz ihrer Dicke, oft klapprig, vom vielen Stehen und ewigen Schwatzen im Laden todmüde; da war's immer besser, man spendierte dem Magen etwas, als man trug das Geld in die Apotheke. Und es blieb auch so manches von der Ware übrig; gerade Feines, was sich nicht so leicht verkaufte, das man aber dann doch nicht umkommen lassen konnte.

Hatte das Ehepaar sich recht angegessen, so lag es, angeschwollnen Riesenschlangen nach dem Fraß gleich, in den Sofaecken und hielt einen Verdauungsschlaf. Mochte vorn die Klingel sich rühren mit eindringlich mahnendem Gellen, das war jetzt nicht seine Sache im Laden zu bedienen! Einmal muß der Mensch seine Ruhe haben.

Elli stand dann hinterm Ladentisch auf einer Fußbank und überschaute altklugen Blickes das ihr Anvertraute. Um diese Zeit war nicht viel los; höchstens, daß ein Arbeiter vom Neubau kam und sich eine Zigarre holte – seit in der Nähe gebaut wurde, hatten sich Reschkes auch Zigarren zugelegt, aber dabei war auch nichts zu verdienen – fünf Pfennig das Stück! – bloß damit die Leute nicht ins Zigarrengeschäft gingen.

Desto fleißiger kamen die Kinder aus der Nachbarschaft nach Johannisbrot und Gerstenzucker, besonders die Knaben. Unter diesen hatte Elli viele Verehrer, denn sie geizte nicht mit ihren Reizen, teilte großmütig Gerstenzucker und Lakritzen, Johannisbrot und Hustenbonbons aus. Vor allem, wenn ihr einer gefiel, gab sie mit vollen Händen. Der Ladentisch war förmlich umlagert; manche Keilerei aus Eifersucht entstand. Dann retirierte Elli oben auf den Ladentisch und sah interessiert zu, wie ihre Verehrer sich gegenseitig Beulen schlugen.

Mutter Reschke war immer sehr erfreut über den regen Zulauf, den ihre Elli hatte. »Det is en Mächen! Jib Obacht,« sagte sie zu ihrem Mann, »die zieht uns den janzen Laden voll. Wenn die erst jroß is, sind wer feine raus!«

Ja, Mutter Reschke hatte ganz besondre Kinder, deren Tugenden sie jedem, der es hören oder nicht hören wollte, mit großer Geläufigkeit anpries. »Wer haben aber ooch wat Ordentlichet for unse Kinder jetan,« verfehlte sie nie hinzuzusetzen. »Was mein Mann un ik sind, wir jeben det Letzte hin for de Kinder! Schon alleene mit's Essen. Ik bin et Athurn und Truden schuldig, die jeben Kostjeld – ville zu wenig is't zwar man – aber wir sind ja nich von die Eltern, die da druf sehn!«

»Ordentlich essen muß der Mensch,« sagte sie zu Bertha, die heute abend einmal wieder, wie schon oft, sich bei ihr über das Essen, das sie erhielt, beklagte. »I du meine Jüte, Sie sind scheene dumm, Berthchen! Warum nehmen Se sich denn nischt? Steht schonst in de Bibel: ›Man soll den Ochsen, der da drischt, det Maul nich verbinden‹ – hier, Ellichen, haste 'ne Schoklade! Nee, meine Kinder sollen mal nich von mich sagen, det ik se nischt jejönnt habe! Immerzu, Berthchen, nehmen Se man ooch eene!«

Sie hielt dem Mädchen ein Kistchen mit kleinen Preßkohlen von Schokolade hin, und dieses langte gierig zu.

Hei, wie die Dinger gut schmeckten! Inwendig waren sie mit rosa Crême gefüllt; sie schmolzen auf der Zunge und glitschten die Kehle hinunter wie Balsam.

Als Frau Reschke für einen Augenblick abgerufen wurde, und Elli hinter ihr drein lief, konnte Bertha nicht widerstehen, noch einmal in das Kistchen zu langen; die Reschke gönnte es ihr ja. Dann noch einmal! Und dann – ihre blaßrote Zunge leckte züngelnd über die Lippen, ihr rascher Blick überflog die Schokoladepreßkohlen: eins, zwei, fünfe, zehne! O, noch eine Masse! Das merkte die nicht! Schon streckte sie wieder die Hand aus – da – ein Tritt auf der obersten Treppenstufe! Blitzgeschwind zog sie die Hand zurück, wischte sich über den Mund und stand dann ruhig da mit ihrem blonden, klaren Madonnengesicht.

Trude war's. Kam die denn jetzt schon so früh aus dem Geschäft? Erst acht Uhr durch. Schwer, langsam, wie todmüde, kam sie die Stufen herunter. Der Hut saß ihr schief auf dem Kopf, den Schleier hatte sie nachlässig umgebunden. Sie hatte wohl geweint?! Ihre Augen sahen danach aus.

»'n Abend,« sagte sie mechanisch und ging, ohne zu sehen, an Bertha vorüber.

»Nanu?« Diese hielt ihr die Hand hin. »Ich habe Sie ja so lange nich gesehn, Fräulen Trudchen!«

»Ah – Bertha!« Trude stutzte, ein brennendes Rot stieg in ihr blasses Gesicht. »Wie jeht es Ihnen denn? Sind Se noch in der Potsdamerstraße? Bei Selinger, was?« Ihre Stimme erhielt einen merkwürdigen Klang, als sie den Namen aussprach. »Bei Selinger, was?« Wie gepeitscht, in einer aufgeregten Hast, fragte sie weiter. »Is die Frau Selinger nett? Und der junge Herr, was? Kennen Sie die Zukünftige schon? Is sie jung? Hübsch?«

Ein ganzer Schauer von Fragen. Und mit jeder Frage ein flammenderes Rot auf den schmalen Bäckchen, eine angstvollere Neugier in den verweinten Augen.

War das komisch! Bertha besah sie sich von oben bis unten, und dann sagte sie ruhig die Achseln zuckend:

»Ich weiß nich.«

»Wird er sich denn verloben? Is was in Aussicht?!«

»Mir is nischt bekannt. Da kommt wohl öfter so 'n junges Mädchen, Fräulein Meyer; kann sein, daß Frau Selinger da 'ne Partie mit machen möchte. Aber da is gar kein Denken dran, unser junger Herr, na! – Ne, ich glaube nich dran!«

»Warum denn nicht, warum denn nich?« stieß Trude hastig heraus.

»Na, der geht doch seine eignen Wege. Der läßt sich nich kommandieren!«

»Läßt er das nich? Wirklich nicht? So – –!« Es klang wie ein Erlösungsseufzer.

Die Trude stand wie angenagelt. Bertha ärgerte sich. Wenn sie doch nur abschöbe! Was hatte die denn so dumm zu fragen?! Da standen die Schokoladepreßkohlen – hei, noch eine in den Mund stecken! Es gab Bertha förmlich einen Stich durchs Herz; die schönste Gelegenheit, noch eine zu nehmen, ging ungenutzt vorbei!

Ein schielender Blick von unten herauf musterte Trudes erregtes Gesicht – aha, da war nicht alles geheuer! So dumm war sie, die Bertha, doch nicht, daß sie da nichts merkte; sie sollte ausgefragt werden. Na, der wollte sie's besorgen, ihr hier so in die Quere zu kommen! Die wollte sie jetzt wohl weggraulen!

Ein böses Lächeln huschte für einen Augenblick über Berthas Mund, dann machte sie ein wichtiges Gesicht.

»Ja, ich weiß doch nich – da fällt mer eben ein – das Fräulein Meyer kommt sehr oft – und unse sind auch so viel da eingeladen –«

»Sie meinen, Sie meinen doch?« Trude atmete zitternd.

Bertha zuckte die Achseln.

»Is sie reich?«

»Schwer reich!«

»Jung?«

»Kaum sechzehn!«

»Und hübsch?«

»Wie'n Bild. Nich ganz so hübsch wie Sie! Doch – fast hübscher noch als Sie, Fräulein Trudchen!«

Trude schloß für Momente die Augen, als ob ihr schwindle, und klammerte sich mit beiden Händen an den Ladentisch.

Bertha betrachtete sie, wie ein Knabe den Maikäfer, den er am Faden hält. Hatte die nun bald genug?!

Jetzt riß Trude die Augen weit auf; sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, und brachte doch keinen Laut heraus. Jetzt stürzte sie fort.

Endlich! Berthas Züngelchen leckte schon die Lippen. Nein, doch zu spät! Eben öffnete Frau Reschke die Glastür, Trude prallte heftig gegen die Mutter an.

»Nanu? Was 's denn los?« schrie die Reschke. »Kannste nich ufpassen?! Du bist schonst retour?! Wat kommste denn jetz immer so früh?«

»Ich hab so 'ne Kopfschmerzen,« sagte leise die Tochter.

»Du siehst ooch aus – na! Daß man der nich jerne ansieht. Wie Weißbier und Spucke. Was 's denn los? Dalli, dalli, immer fidel! En junges Mächen muß fidel sein, sonst macht se keene Partie!«

Trude kämpfte mit den Tränen. Bertha sah, wie ein heftiger Schmerz um die blassen Lippen zuckte, und eine ihrer plötzlichen Gutmütigkeitsaufwallungen überkam sie. »Fräulen Trudchen is bleichsüchtig,« sagte sie, »da is einem manchmal scheußlich zu Mut. Lassen Se ihr man gleich zu Bett gehn, Frau Reschke, das is das Beste for sie. Gute Besserung, Fräulen Trudchen!« Sie reichte dem jungen Mädchen ihre warme Hand und drückte kräftig die kalten Finger.

Die Reschke guckte kopfschüttelnd hinter der Tochter drein. »Ik weeß nich, wat in Truden jefahren is?! In'n Sommer so fidel, un jetz – de reene Traueresche. Et is Zeit, det sich was Passendes for ihr find't. Wissen Se wat, Bertha,« – vertraulich lehnte sie sich über den Ladentisch und tuschelte hinter der vorgehaltenen Hand – »da is drüben bei Handke en neuer Kommis zujezogen, ik sage Ihnen, Bertha – en Staatsmensch! Aus Kottbus is er, da hat sein Vater en eijnet Jeschäft. Er hat es jar nicht nötig, hier bei Handken zu konditzjonieren, will sich nur mal die Jroßstadt ansehen. En reizender Mensch – ne, zu reizend!«

Als Bertha den Reschkeschen Keller verließ, konnte sie es nicht unterlassen auf das gegenüberliegende Trottoir zu gehen und einen spähenden Blick in das Materialwarengeschäft zu werfen. Der neue Kommis öffnete gerade die Tür und bekomplimentierte eine Käuferin hinaus.

Dies schmächtige Männchen mit den abstehenden Ohren und den großen krebsroten Händen, ein reizender Mensch?! Bertha warf den Mund auf; und dann fiel ihr Trude ein, und ein spöttisches Lächeln kräuselte ihre Lippen. Die war in den Selinger verschossen, das war klar. Du lieber Gott, was sie sich alle um das bißchen Liebe hatten!

Mit stolz erhobenem Kopf und raschen elastischen Schritten machte sie sich auf den Heimweg. Manch einer sah dem hübschen Mädchen nach, dessen Haar unter dem weißen Häubchen im Laternenschein verführerisch goldig glänzte.

Wie leicht war ihr doch zu Mut. Wenn nur das Essen besser gewesen wäre! Das war das einzige, was sie drückte.

Sie hätte nie geglaubt, daß einem vor dem Rindfleisch so ekeln könnte; jetzt begnügte sie sich nicht mehr damit, die ausgekochten Brocken in den Mülleimer zu werfen, sie spuckte auch noch hinterdrein. Pfui! Der Magen drehte sich ihr förmlich um. Von dem ewigen Kohl und den trocknen Kartoffeln konnte sie auch nichts genießen. Immer schnupperte sie nach der Bratröhre hin, wo ein Auflauf für den Nachtisch bräunte. Es zog sich ihr innen etwas zusammen, wie bei schneidendem Hunger; aber das war kein Hunger mehr, das war Gier. Nachts wurde sie darüber wach.

Schon als Kind hatte sie öfter geträumt, daß sie an einem Bonbon lutschte; dann hatte sie den Bettzipfel im Munde gehabt. Das träumte sie jetzt wieder. Oder sie träumte von köstlichen Früchten, die dicht über ihr hingen – sie streckte die Hand aus – jetzt fiel sie ins Bodenlose. Oder sie fühlte Süßes zwischen den Zähnen, doch ehe sie es schlucken konnte, erwachte sie und hatte sich förmlich ins Kissen verbissen.

Als Bertha nach Hause kam, hatte die gnädige Frau schon nach ihr verlangt. Sie eilte ins Zimmer und fand Herrn Leo bei der Mama in einem bequemen Armstuhl sitzen; Frau Selinger lag auf der Chaiselongue, das Schlüsselkörbchen hatte sie auf dem Majolikatischchen neben sich, auf dem auch das Tablett mit den geleerten Tassen und dem ganzen Teeapparat stand.

»Gnäd'ge Frau wünschen?« Bertha blieb respektvoll an der Tür stehen, ein frischer kühler Duft wehte von ihr bis mitten ins Zimmer.

Herr Leo musterte sie.

»Bertha,« sagte die gnädige Frau erregt, »das ist doch schrecklich! Mir fehlt schon wieder etwas von dem Eingemachten; ich habe es doch heute mittag selbst fortgestellt. Jetzt, wo ich es fürs Abendbrot herausgeben will, meine ich ordentlich Fingerspuren darin zu bemerken. Ekelhaft! Ich bin ganz krank davon!«

Bertha errötete tief. »Das is mir furchtbar unangenehm, gnäd'ge Frau! Ich kann wirklich nich dafür!«

»Das weiß ich, das weiß ich, mein Kind! Aber ich muß Sie doch fragen. Ich bin ganz unglücklich – nein, daß die Menschen so sein können! Das ist nun schon die dritte Köchin in letzter Zeit! Sagen Sie, Bertha, haben Sie irgendwie bemerkt, daß die neue unehrlich ist?«

Bertha zögerte mit der Antwort.

»Ich hoffe doch, Bertha, daß Sie mehr zu Ihrer Herrschaft halten, als zu den Dienstboten. Sagen Sie mir ganz aufrichtig, was Sie denken!«

Das Mädchen heftete die schönen, blauen Augen auf die Herrin. »Ich weiß, was ich gnäd'ge Frau schuldig bin. Aber man möchte doch niemand verdächtigen. Ich habe die Marie für ganz ehrlich gehalten,« – sie machte eine Pause, als ob sie überlege, und setzte dann rasch hinzu – »ich glaube das auch noch. Ich weiß nich, wie's zugeht, ich denke immer,« – sie stockte.

»Nun, was denken Sie?«

Bertha lächelte fein. »Gnäd'ge Frau müssen's nich übel nehmen, aber gnäd'ge Frau haben so viel im Kopf, gnäd'ge Frau vergessen von einem Tag zum andren, was da im Schrank steht. Nich mal unsereiner kann sich das ja so genau merken!«

Der Sohn lachte. »Sehr richtig! Mama, ich bitte dich, wird sich eine wohl so viel Umstände machen, in deinem Schrank zu naschen, die draußen die Sachen selber kocht?!«

Ein rascher, stutziger Blick Berthas streifte den jungen Mann.

»Da mußt du ganz wo anders suchen, Mama!«

»Ich bringe aber doch sehr vieles vom Konditor mit,« beharrte Frau Selinger. »Neulich die petits fours waren von Hövell und jetzt das Eingemachte: französische Konserve von Lindstedt.«

Der Sohn warf ein Bein über das andere. »Na und wenn schon! Bagatellen, Mama!«

»Ich glaube auch, gnäd'ge Frau irren sich bestimmt,« sagte Bertha sehr ernsthaft. Und dann hob sie mit ihren schlanken Armen das schwere silberne Tablett mit Teegeschirr und trug es zur Tür. Aufmerksam hielt sie den Blick unter den goldigen Wimpern darauf geheftet; kein Löffelchen klirrte.


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