Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Winter war gekommen.
Bertha saß fröstelnd in der Küche, hatte sich ganz in einen Winkel gedrückt und horchte scheu auf jedes Geräusch in der Vorderwohnung. Gott sei Dank, Herr Leo kam nicht den langen Gang herunter! Er hatte keine Ahnung, daß sie beide allein auf der Etage waren. Frau Selinger war zum Konzert gefahren, und die Köchin hatte sich nicht zurückhalten lassen, die Gelegenheit zu benutzen und auch auszugehn; sie wollte aber gleich wieder da sein.
Wenn sie doch käme! Bertha lauschte ängstlich; auf ihrem schmaler und zarter gewordenen Gesicht kam und ging die Farbe. Ihr Teint leuchtete förmlich, die Haut schimmerte durchsichtig; ihre Augen, von dunklen Ringen umgeben, schienen größer, aber der Blick war matt.
Sie war bleichsüchtig; Frau Selinger, besorgt um ihr hübsches Mädchen, hatte vom Hausarzt Eisentropfen verschreiben lassen, aber Bertha hatte sie zum Fenster hinausgegossen und nur den Zucker, den man ihr zum Einnehmen gegeben, hinter den weißen Zähnen verschwinden lassen. Was sollten ihr wohl Eisentropfen helfen?!
Wenn sie nur besser hätte schlafen können! Da lag sie des Nachts in steter Angst und horchte auf einen Tritt und schreckte zusammen beim leisesten Knistern der Tapete, beim Knacken eines Möbels, beim Fallen eines Regentropfens und beim Hauch des Windes draußen vorm Fenster. Dann hielt sie den Atem an und zog krampfhaft die Decke um sich.
Oder sie fuhr jäh auf aus schrecklichen Träumen – ein drohendes Etwas hatte sich über sie gebeugt, sie angehaucht mit glühendem Atem – mit gleichen Füßen sprang sie aus dem Bett zur Tür und versicherte sich, ob der Riegel auch noch vorlag.
Wie er sie quälte! Oft bei Tisch, wenn sie bediente, zumal wenn sie das Süße präsentierte, sah er sie so seltsam lächelnd an, daß die Schüssel in ihrer Hand schwankte. Sie hatte keine Waffe gegen ihn. Wie gern hätte sie gekündigt! An der guten Stelle hier lag ihr nichts mehr. Aber das wußte sie, noch ließ er sie nicht ohne Denkzettel gehen. Und sie fürchtete für ihre Zukunft; so blieb sie in scheuer Furcht.
Keine Stunde war sie sicher vor ihm. Oft, wenn sie ihn am wenigsten vermutete, stand er hinter ihr und pustete sie in den Nacken. Eilte sie durch den langen dunklen Korridor, die Arme voller Geschirr, so vertrat er ihr den Weg. Räumte sie seine Stube auf, so kam er dazu; immer und überall fühlte sie sein Auge auf sich ruhn, und dieser Blick nagte an ihr.
Sie haßte Herrn Leo, wie der Sklave seinen Peiniger; aber wenn sie ihn am meisten haßte, daß ein verräterischer Strahl davon aus ihren Augen brach, dann senkte sie die goldigen Wimpern und nahm in scheinbarer Verschämtheit seine Redensarten hin. Wild schlug ihr das Herz, ihre Zähne bissen sich knirschend aufeinander, aber ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Sie mußte lächeln. Aber wie lange noch würde dieses Lächeln genügen –?! – – – – –
Schaudernd fuhr die Einsame in der Küche auf. Horch, war das nicht ein Tritt?! Mit unsteten Blicken sah sie sich um. Kam er?! Nein, der Tritt klang draußen auf der Hintertreppe. Gott sei Dank, die Marie!
Nein, die hatte einen Schlüssel! Es klopfte zaghaft; jemand trat sich die Füße an der Strohmatte ab.
»Wer is da?«
»Is de Bertha zu Haus?« fragte eine schüchterne Stimme hinter der Tür. »Ich bin aus ihre Heimat. Kann ich ihr mal sprechen?«
»Mine, du –?!« Bertha riß rasch die Tür auf und zog die bescheiden Draußenstehende stürmisch herein. »Läßte dich ooch mal bei mer sehn, das is scheene!«
Mine hatte Bertha noch nie bei Selingers aufgesucht; sie sahen sich nur im Reschkeschen Keller, und auch da jetzt selten.
Bertha schob Mine einen Stuhl hin. »Ich bin ganz alleine, sie is nach 'n Konzert, nur der Leo is vorne.«
Ganz glücklich über den unerwartet freundschaftlichen Empfang setzte sich Mine.
»Na du –« Bertha lächelte sie an, »ich dacht schon, du machst der gar nischte mehr aus mer!«
»Ich –?!« Mine riß die Augen verwundert auf. »Ich, mer nischte aus der machen?! Das kann doch nich dein Ernste sein, Bertha! Ich hab der immer gutt leiden gekonnt, sehr gutt! Aber du – du machst der ja nischte aus mir!«
»Nu brate mer eener 'nen Storch!« Bertha hatte schon das Berlinern gelernt. »Mine, wie kommste uf so 'ne Dummheiten?! Ne, wahrhaftig, ich hab der sehr gerne!« Schmeichelnd strich sie der andren über die Wange.
Mine drückte sie herzlich an sich. »Das freut mer, das freut mer, Berthchen! Ja, du bis doch sehr gutt! Ach, hätten wer doch nie nich von zu Hause fortgemacht!«
Das klang wie eine wehmütige Klage. »Na, haste's denn nich gut? Wenn der's bei Hauptmanns nich gefällt, dann zieh doch!« sagte Bertha.
»Ne, ne, es is allens ganz gutt, nur« – sie seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Na, 's hat eben jeder sein Kreuze. Weißte, Berthchen, warum ich komm?« Mit einem etwas verlegnen Lächeln sah sie die Freundin von der Seite an. »Rat mal!«
»Haste nach mer Verlangen gekriegt?« Mit einem koketten Lachen wirbelte Bertha ihre hübsche Gestalt auf einem Fuß herum. »Weeßte was, Mine, wollen wer nächsten Sonntag mal zusammen ausgehen – nach Halensee, scherbeln – was? Ich stell der meinen Bekannten vor.«
Mine schüttelte den Kopf. »Ne, ne, das is nischte for mir. Weeßte, Berthchen –« sie machte eine Pause, es wurde ihr augenscheinlich schwer, mit ihrem Anliegen herauszurücken – »ich möcht mer gerne das Geld abholen, das ich der geborgt hab. Du mußt mer'sch nich for übel nehmen.«
»Das Geld? Was für Geld?!«
»Na, du weeßt doch; zwei Mark ganz im Anfang – 's is jetzt übern Jahr her – und dann noch mal später fünf Mark un fufzig – du wollst bei der Grummach was abbezahlen – und denn Pfingsten zwei Mark – du gingst zun Frühkonzert – un denn noch mal fufzig Pfennig for Schoklade. Macht zehn Mark,« schloß sie, ihr Zurückverlangen gewissermaßen mit der Höhe der Summe entschuldigend.
Bertha wurde rot. »Ach so!« Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Wie unangenehm, daß sie augenblicklich nicht bei Kasse war! Sie hätte es der Mine gern gleich gegeben. »Brauchste 's denn sehr nötig?« erkundigte sie sich. »Wozu denn?«
»Ich brauch's,« war die knappe Antwort.
»Hat's nich noch 'n bißchen Zeit? So wie ich wieder Lohn kriege, sollste die erste sein, de kannst dich drauf verlassen. Weeß Gott, wie das immer zugeht – eins zwei drei – der Lohn is weg, wie gepust't!«
»Zehn Mark!«
Bertha lachte hell. »Ja, ja, zehn Mark, na wenn schon! Das is doch nich so wunder was, wie de tust! Das is gar nischt. Das gibt man leicht aus.«
»Ich nich!« Ein Zug von Schmerz glitt über Mines Gesicht, der selbst Bertha auffiel.
»Na, was haste denn nur?«
Mine gab keine Antwort; die verarbeiteten Hände im Schoß zusammengelegt, sah sie starr auf den Boden.
»Haste Schulden? Das is doch schnuppe!«
»Ne, ne. Laß man, Berthchen! Ich muß nu gehen, hab noch Wäsche einzuweichen, en paar Bütten voll. Adjö, Berthchen!« Sie bot der Freundin die Hand. »Un nich wahr, so bald de kannst, krieg ich das Geld? De vergißt's nich?«
Bertha merkte, wie schwer es Mine wurde, ohne das Geld zu gehen. Schon auf der Treppe, drehte die sich noch einmal um und rief zurück: »Vergiß es nich!«
Bertha horchte, wie sie hinunterging – schwerfällig, trap, trap. Nachdenklich ging sie dann in die Küche zurück – warum war die doch so niedergeschlagen? Ja, verändert hatte sich die Mine recht, Falten in die Stirn gekriegt und – puh, sah die verarbeitet aus!
Sie hob die Lampe und besah sich mit einem kleinen, geschmeichelten Lächeln in dem Spiegelchen, das, hinter der Gardine versteckt, am Fenster hing. Immer freundlicher wurde das Lächeln – ja, sie war hübsch! Sie hatten recht, alle, die es ihr sagten: der Bäcker, der Schlächter, der Kaufmann, die Herren, die ins Haus kamen, der Portier, die Plätterin, die Reinemachfrau, Mutter Reschke, die Bettler – alle, alle!
Sie konnte sich gar nicht trennen von dem eignen, lächelnden Bild, schon zitterte ihr Arm, der die Lampe hochhielt – da – wieder ein Pochen! Und nochmals ein rasches, ungeduldiges, heftiges Pochen.
»Ja, ja, man Geduld! Ich komme schon!« Sie öffnete. »Fräulen Trudchen, nanu, Sie –?!« In maßlosem Erstaunen riß Bertha die Augen auf.
»Still,« sagte Trude Reschke mit eigentümlich leisem und doch hartem Ton. »Is Herr Selinger zu Hause?«
»Ja wohl – aber –«
»Sonst jemand?«
Bertha schüttelte verneinend den Kopf, sie war ganz sprachlos – was würde nun werden?!
»Na, denn!« Trude trat näher und sah die vor ihr Stehende mit funkelnden, wie im Fieber glänzenden Augen an. »Ich muß mal Herrn Selinger sprechen. Rasch!« Hastig schob sie Bertha beiseite und machte Miene, aus der Küche in den langen Gang zu eilen.
»Ne, ne, Fräulein Trude, halt! Was denken Se? Ich muß Se erst melden!«
»Nein!« Trude machte sich von Berthas Hand los. »Ich habe lange jenug unten jestanden und jelauert. Sein Fenster kenn ich wohl, da brannte Licht hinter. Und die Mine kam eben runter, die sagte, Sie wären alleine oben mit ihm. Da lief ich rauf. Lassen Se mich rein zu ihm – rasch!«
Ihre Hand, die Berthas Hand packte, war eiskalt. Schneeflocken, halb schon zu Wasser zerronnen, bedeckten ihren Hut, ihr Jackett; wie ein nasser Strick hing ihr die Boa um den Hals. Ihr Kleidersaum schleppte schmutzig. Die Locken hatten sich gelöst und hingen ihr in Strähnen um das blasse Gesicht. An jeder Strähne hinter dem durchfeuchteten Schleier hing ein Tropfen und sickerte langsam nieder, wie eine schwerfließende Träne. Ein kaltes Wehen ging von ihr aus; sie selber fröstelte, ihr Mund zuckte in verhaltener Erregung.
»Bertha,« flüsterte sie heiser, »hat er sich schon verlobt? Er denkt nicht dran – was?«
»I behüte, der –!«
»Na ja, allens Mumpitz!« Ein kurzes, bittres Lachen erschütterte das zarte Figürchen. »Na, warte man!«
Schon lief sie in den langen Gang hinein, Bertha ihr nach. »So warten Sie doch – Fräulen Trudchen – ich will's wenigstens sagen – er reißt mir sonst den Kopf ab!«
Sie gönnte Herrn Leo den Besuch, der sich gerade danach anließ, als ob er mit einem Skandal enden würde, von Herzen. Sie freute sich darauf, aber sichern mußte sie sich vor jedem Vorwurf. Sie faßte Trudes Kleid; zu gleicher Zeit erreichten sie beide das Zimmer.
»Herein!«
Nun bebte Trude doch zurück; Bertha zwängte den Kopf durch die Spalte. »Herr Selinger, es möchte Sie jemand sprechen!«
Der junge Herr richtete sich halb vom Sofa auf, die Beine ließ er noch oben. »Sagen Sie, ich bin nicht zu sprechen. Und denn kommen Sie wieder – ich habe einen Auftrag für Sie.«
Bertha verzog das Gesicht zu einer Grimasse; sie kannte solche Aufträge. Kaum konnte sie ihre Schadenfreude unter einem unterwürfigen Ton verbergen: »'s is en Fräulein, Herr Selinger, sie will durchaus –«
»Donnerwetter!« Mit einem Ruck schnellte Herr Leo die Beine vom Sofa. Da stand Trude Reschke.
»'n Abend,« sagte sie anscheinend ruhig.
Und dann für Momente Todesstille.
Das war ein Blicken hin und wieder – er so rot, sie so blaß.
Geräuschlos zog sich Bertha zurück, sie wollte doch lieber von außen mit zuhören. Die Tür hatte sie nicht ganz eingeklinkt, aber Trudes Hand schloß sie mit einem festen Ruck.
Nun stand Bertha, den Kopf vorgeneigt, mit angehaltenem Atem und lauschte, lauschte.
Drinnen ein Gemurmel – das war Trude – und dann seine Stimme mit einem gemachten Ton des Staunens: »Ich – Briefe?! Ich habe keine Briefe bekommen!«
Nun schrie sie auf: »Du hast meine Briefe bekommen! Jott, wie viele hab ich dir jeschrieben. Wie hab ich auf dich jewartet, Stunden – Tage – Wochen! Alle, alle Abend – immer, immer! Du lügst. Du hast mich überhaupt belogen. Was hast du mir vorjeredet: Du müßtest dich verloben, deine Mama wollt es partu, du wärst so traurig – als wenn das en Jrund wäre?! Konnteste mir nich deswegen doch jut bleiben?! Aber du hast 'ne andre aufm Strich, ja ja, 'ne andre! Los sein wolltste mich – du hattst mich über – oh – du, du!« Jetzt weinte sie; Bertha hörte sie krampfhaft schluchzen.
Und nun ein langes eintöniges Gemurmel, ein beschwichtigendes, leises Sprechen.
Der war klug! Der wurde nicht grob, der versuchte es mit gutem Zureden!
Nun wieder ihre schluchzende Stimme: »Was – was hab ich dir jetan?! Ach, Leo! Leo!«
Gott, wie die sich hatte um den Kerl! Bertha kräuselte verächtlich die Lippen. Das Mädel konnte einem wahrhaftig leid tun; aber zu dumm war sie doch!
Von innen kam jetzt kein lauter Ton mehr, nur ein leises, leises Weinen. Bertha wurde ganz müde vom Stehen; das dauerte ja ewig! Wurde das am Ende wieder was zwischen denen?!
Aber jetzt – nervös schreckte sie zusammen – das war ein Schrei, wie der eines Tieres in Todesnot, halb Wut, halb Schmerz – – – »Behalt dein Geld!«
Prasselnd fiel etwas auf die Diele. Die Tür wurde aufgerissen – kaum hatte Bertha Zeit, beiseite zu springen – blind vor Tränen stürzte Trude heraus und rannte, wie gejagt, den Korridor hinunter, dem Ausgang zu.