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Hatte es schon immer bei Müldners Arbeit gegeben, jetzt gab es noch viel mehr zu tun. Die Kinder wurden krank, eins nach dem andren an Windpocken. Schlimm war das weiter nicht, sie saßen in ihren Betten und spielten, aber sie waren weinerlich und verlangten ihre Abwartung. Und die Enge der Wohnung erschwerte alles.
Mine kam kaum ein paar Stunden aus den Kleidern, denn abends spät erst war es ihr möglich, ihre Küche zu reinigen und das Geschirr abzuwaschen. Morgens in aller Frühe mußte sie schon wieder heraus, um den ungeduldigen Patienten das Frühstück zu bringen und die verwühlten Betten zu machen.
Frau Müldner tat ihr Möglichstes; aber sie war so schwach, die Kinder tyrannisierten sie in unerhörter Weise, wenn Mine nicht dazwischen fuhr.
»Setzen Se sich man stille im Salong, Frau Müldner, sons werden Se ooch noch krank. – Wollt ihr wohl stille sein?!« Mine donnerte mit der Faust gegen die Tür, hinter der die Kinder lärmten. »Ich wer' euch!« Und dann nahm sie ihre Frau beim Ärmel und schob sie in das blaue Heiligtum. »Da gehn Se man rin!«
Sie arbeitete sich ehrlich ab; gewandt war sie nun einmal nicht, es ging ihr noch immer ein bißchen langsam von der Hand. Todmüde sank sie spät in ihr Bett, die Lider fielen ihr sofort zu; und wenn dann auch Irma unruhig strampelte und schrie, und sie den Wagen hin- und herfahren oder das Kind im Arm wiegen mußte, sie tat's mit geschlossenen Augen im Halbschlaf. Denken konnte sie gar nicht. Sie wußte ja auch, Fridchen war wohl, sonst hätte Mathilde geschrieben.
So vergingen vierzehn Tage, Mines Sonntag war gekommen. Aber wenn die Kinder auch wieder so weit gesund waren, Frau Müldner hatte sich jetzt gelegt an völliger Erschöpfung. Herr Müldner mit seinem Sorgengesicht kam in die Küche. »Mine, es tut mir leid, Sie können heute nicht weg. Na, da werden Sie ein andermal zum Vergnügen gehn!«
»Ja, ja,« sagte sie. Stiefel konnte sie doch nicht anziehn, die Füße waren ihr so geschwollen, daß sie immer in Latschen laufen mußte.
Aber traurig war's ihr doch, als sie um fünf Uhr, wo sie sonst auszurücken pflegte, noch unangezogen in der Küche saß, Irmachen auf dem Schoß. Die anderen Kinder, die der Vater aus der Stube verwiesen, machten mit Blechdeckeln, die sie von den Borden genommen, einen furchtbaren Lärm um sie her.
Heut hatte sie wieder etwas mehr Zeit, heut mußte sie so sehr an Fridchen denken. Ein Glück, daß Mathilde nicht geschrieben hatte – wie hätte sie wohl abkommen sollen?! Jetzt würden die in der Colonnenstraße auf sie warten. Hoffentlich vergaß Mathilde, wenn sie auch nicht kam, doch die Kuchenschnecke für Fridchen nicht! Mine sah im Geist, wie die kleinen weißen Spitzchen, die sich Zähne nannten, an der Schnecke nagten.
Nein, so dicke Bäckchen hatte Irma doch lange nicht. Und sie preßte einen Kuß auf Irmas Wange und dachte dabei an das kleine blonde Mädchen in der Colonnenstraße. Sie hörte das Lärmen der anderen Kinder gar nicht; sie war weit weg.
Da klopfte es an der Hintertür. Wahrscheinlich wieder das Mädchen von der Herrschaft vorne parterre, die sich, wie neulich, den Radau in der Gartenwohnung verbitten ließ. »Pst, seid stille,« drohte Mine, und dann öffnete sie.
Ein langes Mädel, im ausgewachsnen Rock, stand auf der Schwelle. Gott im Himmel! Mine starrte, als sähe sie ein Gespenst.
»Grete?! Grete Reschke!?« Sie fragte es zweifelnd; es war ja so lange her, daß sie Grete nicht gesehen, und die hier war so hochgeschossen!
Schüchtern blieb Grete draußen stehen.
»Ne, Grete, wo kommste her?! So komm doch rin, Grete, de darfst. Ne, wie ich mer freue! Ich hab der ja so lange nich jesehn, Grete! Nach dir hab ich wohl mal verlangert. Wie haste mer denn nur gefunden, Grete?«
»Er is wieder da,« hauchte Grete kaum verständlich, in zitternder Begier, der andern ein Glück zu verkünden. Sie war aufgeregt, ihre Sprache dadurch noch undeutlicher; ihre Lippen zuckten, ihr Atem ging rasch.
»Was sagste? Wer is da? Wer denn?«
»A–thur!«
»Ach so.« Mines plötzliche Neugier war schon gestillt. »Der –?!« Na ja, dann war's ja gut.
Enttäuscht sah Grete die Cousine an, sie hatte gehofft, der eine große Freude zu bereiten. Darum hatte sie sich nachmittags der Versammlung der Heilsarmee entzogen?! Darum war sie atemlos nach der Colonnenstraße gelaufen; dort sollte, nach Berthas Erzählung, Mine bei der Mathilde wohnen oder doch gewohnt haben, denn ach – leider war's schon lange her! Die Drohung der Mutter: ›Wenn de zu den Frauenzimmer jehst, schlage ik dir alle Knochen in' Leibe kaputt,‹ hätte sie nicht zurückgehalten, Mine aufzusuchen; wohl aber die Scham, eine grenzenlose Scham, die ihr das Blut in die Wangen trieb, wenn sie an ihre Mutter dachte. Was würde Mine über die sagen?! Schimpfen, ja. Und sie, konnte sie dem widersprechen? Nein. Ach nein! Grete war alt genug, sie war auch klug genug, die Mutter hätte gar nicht so laut zu schreien brauchen, daß es den ganzen Keller durchschallte, sie wußte doch alles. Und so war sie nicht zu Mine gegangen; sie hatte sich geschämt. Aber heute schämte sie sich nicht, heute konnte sie ihr Freude bringen – Arthur war wieder da!
Zu ihrer Enttäuschung traf sie in der Colonnenstraße nur Mathilde an, und zwar in Hut und Schal, fein in schwarzer Seide, zum Ausgang gerüstet; gerade verschloß sie ihre Stubentür. Grete erfuhr, Mine wohne nicht mehr hier, sondern Eisenacherstraße bei einem, namens Müldner; die Nummer wußte Mathilde nicht.
Da war nun Grete von Haus zu Haus gelaufen und hatte mit verlegnem Gelispel und heißem Erröten nach ›einem, namens Müldner‹ gefragt. Endlich hatte sie gefunden; und nun freute sich Mine nicht einmal!
»Ne, wie groß de geworden bis!« sagte Mine und zog sie in die Küche. »Da, setz der! Nu erzähl, wie de mer gefunden has!«
Grete sagte, daß Mathilde, die sie im Moment des Ausgehens angetroffen, ihr die Adresse genannt.
Mine wurde ganz bestürzt. »Was? Mathilde, sagste, ging aus? Wart nich uf mer? Un in schwarze Seide?! Allein? Fridchen nich uf 'n Arm?!« Sie packte Grete derb an. »Wo war Fridchen?!«
»Was für'n Fridchen?!«
»Na, mein Fridchen, mein kleenes Mädel!«
»Ach so.« Grete wurde blutrot und schlug verlegen den Blick zur Erde. »Ne, ich hab ihr nich jesehn!«
»O Gott, ne!« Mine war ganz unglücklich. »Ne, nu geht se ooch am Sonntag nachmittag weg, un läßt Fridchen ganz alleene! Sagte se denn, wenn se wiederkommen täte? Oder wohin se ginge? Oder warum se fortginge?«
Aber Grete wußte auf alle Fragen keine Antwort. »Arthur is wieder da,« stieß sie noch einmal heraus, mit aller Anstrengung, und sah mit den blassen Augen begierig und forschend in Mines Gesicht. Keine Spur von Freude stieg in dem auf, und auch kein Schimmer verschämter Röte, kein Zucken verriet Überraschung; die Züge blieben ganz gleichgültig.
Grete war schwer enttäuscht. Die ganze Nacht hatte sie nicht schlafen können; auf dem Küchentischbett, in dem so oft ihre Tränen geflossen, vor dem sie so oft auf den Knieen gelegen, in verzücktem Gebet Arthurs Rettung erflehend, hatte sie sich ruhelos in freudiger Erwartung geworfen. Von dem Augenblick an, da sie gestern, im Abenddunkel auf der obersten Stufe der Treppe kauernd, Arthur erkannt hatte, der sich scheu an ihr vorbei in den Keller stahl, stand es bei ihr fest: das mußte Mine gleich wissen! Wie würde die sich freuen!
Sie konnte sich jetzt nicht in Mines Wesen hinein finden – hatte die denn den Arthur gar nicht mehr lieb? Und doch hatte Mine an jenem Sonntag, an dem sie im Dunkel des Kellers, hinter der großen Rolle verborgen gesessen, an Arthurs Hals gehangen und bitterlich geschluchzt und immer wieder seinen Namen gerufen.
Grete faltete die Hände, flehend suchten ihre Blicke die der Cousine.
Mine beachtete sie gar nicht, sie murmelte für sich: »Ne, wo mag bloß de Mathilde hin sein? Un Fridchen?! Daß ich nich hingehn kann un nach ihr kucken!«
Unruhig trat sie hin und her, rückte an diesem Gerät und an jenem, zuletzt nahm sie Irma wieder auf den Schoß und setzte sich, Grete gegenüber, an den Küchentisch. Ein Gespräch kam nicht in Gang; sie waren sich doch fremd geworden.
»Biste eingesejent?« fragte Mine endlich, nur um etwas zu sagen.
Grete schüttelte verneinend den Kopf. »Kost Jeld. Mutter sagt: ›Mumpitz‹.«
»Aber aus de Schule biste?«
»Hm.«
»Lernste denn jetzt was?«
Grete nickte eifrig.
»Wo denn?«
»Bei de – Heilsarmee!«
»O Jesus, biste noch immer so verrückt?« rief Mine und schlug die Hände zusammen. »Na, komm mer da nich mehr mit! So'ne Faxenmacher!«
Grete lächelte mild, fast mitleidig; ein sanftes Rot verschönte ihr Gesicht. Und dann erhob sie sich und bot Mine die Hand. »Rette deine Seele,« sagte sie deutlicher, als sie sonst zu sprechen pflegte. Die Tränen standen ihr dabei in den Augen.
»Ja, ich weiß, du bis gutt!« Mine küßte sie. »Besuch mer ooch wieder, 's wird mer immer freuen.«
»Arthur is – wieder da,« sagte Grete abermals, als Mine schon die Tür hinter ihr schließen wollte, und drehte sich noch einmal auf der Schwelle um. »Biste ihn böse?«
»Ne, warum?! Adje, Grete!« Damit machte sie die Küchentür zu.
Langsam, langsam schlich Grete durch die Straßen, schwer trug sie an ihren Gedanken. Daß die Mine sich nicht freute, nun da der Vater ihres Kindes wiedergekommen war! War das Liebe gewesen?! Konnten die Menschen, deren Seelen noch nicht gerettet waren, denn überhaupt lieben? Ach, die Armen, die wußten noch nicht, was Liebe ist!
Inbrünstig suchte ihr Blick den Himmel, als wollte er ihn durchdringen nach dem, der da wahrhafte Liebe lehrt. Ihre Lippen bewegten sich:
»Komm zu Jesu!
Du hast sonst nimmer
Solchen Freund und Bruder!«
Ein Schauer überflog ihren jungfräulich zarten Körper mit der noch flachen Brust.
»Die Rose im Tal, der helle Morgenstern
Der schönste unter tausend für die Seel'«
klang es in ihr, und ihr Blick verschleierte sich feucht in Sehnsucht, ihre Lippen öffneten sich zu einem Seufzer unbewußten Verlangens.
Als sie auf einer Bank am nächsten Schmuckplatz zwei Heilsarmeesoldatinnen bemerkte, gesellte sie sich zu ihnen. Bald erhoben sie alle drei ihre Stimmen zu einem Gesang, unbekümmert darum, daß ein Haufe lachender Kinder sich um sie versammelte, und bald auch Erwachsne mit spöttischen Mienen stehen blieben. –
Heute nacht hätte Mine zum ersten Mal wieder Gelegenheit gehabt, einen ruhigen Schlummer zu tun. Eine seltene Stille lag über der kleinen Wohnung; die genesenen Kinder schliefen ihren festesten Kinderschlaf, selbst Irma stieß kein unruhig meckerndes Tönchen aus. Und doch konnte Mine nicht schlafen; die Augen brannten ihr, so lange hatte sie schon ins leere Dunkel gestarrt. Sie ärgerte sich über sich selber, daß sie die schöne Gelegenheit zum Schlafen nicht besser nützte; was brauchte sie denn immerfort an Grete zu denken, an Mathilde und – an Fridchen?!
Wie vom Himmel war doch die Grete heruntergefallen! Fast ein und ein halbes Jahr hatte sie nichts von der gehört und gesehn, und nun war sie auf einmal da und brachte ihr Kunde von Fridchen! Nein, das ging nicht mit rechten Dingen zu!
Mine war nicht ganz umsonst bei Mathilde in die Schule gegangen, eine abergläubische Regung beschlich sie; sie schauerte und zog sich die Decke höher an den Hals. Daß die Grete so plötzlich gekommen, das war ›Bestimmung‹, wie Mathilde sagte.
Wohin die Mathilde nur gegangen sein mochte? Eine ängstliche Neugier quälte Mine. In schwarzer Seide? Sonst pflegte Mathilde doch nie das Schwarzseidne anzuziehn, das war ja ihr Hochzeitskleid, hing, in einen Bettüberzug eingenäht, an der Wand und harrte des glücklichen Tages, an dem es, mit Myrtensträußchen geschmückt, vorm Traualtar rauschen sollte. Und nun ging sie darin aus, so mir nichts dir nichts, am ganz gewöhnlichen Sonntag?
Mine zermarterte ihr Gehirn.
Und Fridchen, so ganz allein? Konnte dem Kind nicht etwas zustoßen?! Alles, was sie jemals an Schauergeschichten gehört: von Kindern, die, im Zimmer eingeschlossen, mit Streichhölzern gespielt und die Betten in Brand gesteckt, oder aufs Fensterbrett geklettert und hinabgestürzt waren, all das fiel ihr ein. Sie vergaß ganz, daß Fridchen zu solchen Streichen noch viel zu klein war.
Der Angstschweiß brach ihr aus, die Lippen zitterten ihr. Aufgeregt wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Ihr armer Verstand half nicht aus, ihr Herz pochte und pochte und wollte sich nicht zufrieden geben. Es ging etwas vor – wäre sonst Grete erschienen?! Das bohrte sich in sie ein: eine fixe Idee.
Sehnsüchtig suchte ihr Blick den schmalen Schimmer, der durch die Ritzen der Jalousie fiel. Wenn's doch erst hell wäre! Was sie sonst, in ihrer Müdigkeit, oft gähnend verwünscht, das verlangte sie jetzt begierig – den Tag! Wäre es nicht am besten, sie liefe gleich morgens nach der Colonnenstraße, schlüpfte dort ins Haus, sowie der Wächter aufschloß und sah selbst nach, was los war? Sie hatte ja doch sonst keine Ruhe. Und bis die hier aufstanden, war sie wohl wieder zurück; sie wollte ja nur nachsehn, einen einzigen kurzen Augenblick. Selbst nachsehen – ach ja!
Dieser Entschluß gewährte ihr einige Beruhigung; sie schlief auch ein. Aber im Traum sah sie den Reschkeschen Keller, Bertha, Arthur – und Grete, immer wieder Grete! Die stand auf der Schwelle mit blassem, ernstem Gesicht und wies nach oben; unentwegt zeigte ihr dünner Finger. Was sagte sie – was?!
Mit einem Schrei fuhr Mine aus dem Schlaf. Nein, nun war es ihr ganz gewiß, das hatte was zu bedeuten! Der Morgen schimmerte.
Sie konnte nicht rasch genug in ihre Kleider kommen. Den Hausschlüssel nahm sie vom Nagel im Flur und schlüpfte dann aus der Tür. Kein Halten; sie mußte nach der Colonnenstraße.
Durch die noch stillen Straßen rannte sie wie gejagt. Immer im Galopp. Noch fuhren keine Pferdebahnen; einzelne, besonders früh zur Arbeit gehende Männer drehten sich lachend nach ihr um. Sie mußte selber lachen, war sie nicht närrisch, so zu rennen? Die schöne Morgenluft kühlte ihr die heißen Lider und machte ihren Kopf freier. Zu solcher Zeit war sie früher oft in die Felder gegangen, die Sichel in der Hand, um das taufeuchte Gras zu schneiden. Hell und golden, wie ein riesiger blitzblanker Teller, hatte sich die Sonne hinterm Sandberg gehoben.
Ach, das war schon lange her! Jetzt stand die Sonne hinter den hohen Häuserreihen, und ihre Strahlen fingerten scheu über die Dächer.
Immer im Galopp. Mine hätte nicht geglaubt, daß sie noch so gut laufen könnte. Wenn auch nicht mehr wie ein jähriges Fohlen, so doch immer noch so geschwind wie Bläß, die Kuh, die in des Vaters Stall stand. Mine seufzte und rang nach Luft. Die Bläß würde sie wohl nie mehr wiedersehn! Die zu Haus wollten ja nichts mehr von ihr wissen.
Immer im Galopp.
Nun war sie in der Hauptstraße, die erste Pferdebahn kam ihr entgegen – nun Ecke Colonnenstraße.
Immer rascher.
Endlich das letzte Haus! Das Tor wurde eben aufgeschlossen; Arbeiter, die in die Fabriken gingen, begegneten ihr auf dem Hof.
Atemlos stürzte sie die vielen Treppen hinauf. Die Mathilde würde einen Schreck bekommen, wenn es so früh bei ihr anpochte. Die lag wohl noch und schlief, vor halb acht brauchte die nicht auf ihrer Aufwartstelle zu sein.
Poch, poch! Die Tür war natürlich noch verschlossen. Keine Antwort.
Mine klopfte stärker. Das mußte man sagen, die hatte einen guten Schlaf.
»Mathilde! Sie!« Mine nahm die ganze Faust; aufwachen mußte die doch!
»Mathilde! Mathildchen! Ich bin's, de Mine!«
Horch, rührte es sich nicht drinnen? Mine stand lauschend, mit vorgeneigtem Kopf. Nichts! Nur das Hämmern ihres eignen Herzens.
Eine unerklärliche Angst überfiel sie plötzlich – warum machte die denn nicht auf?
»Mathilde! Jeses, machen Se mer doch uf! Ich hab keene Zeit. Mathilde!«
Aber jetzt! Innen ertönte ein Winseln – nun erschrocknes Kinderweinen! Aber ganz schwach, ganz matt, wie aus heiser geschrieener Kehle.
»Fridchen!«
Mine warf sich gegen die Tür, daß die in den Angeln zitterte. Sie lugte durchs Schlüsselloch: von innen steckte der Schlüssel nicht.
»Fridchen, Fridchen!«
Alles still.
Verzweifelt sah sich Mine um; mit sinnloser Heftigkeit donnerte sie aufs neue gegen die Tür.
»Nanu, so 'n Radau?! Was 's denn los?« rief eine Stimme, und die Nachbarin linker Hand steckte den Kopf zu ihrer Tür heraus.
Auch rechter Hand erschien jetzt ein alter Mann; beide waren notdürftig bekleidet. Die Nachbarin in Unterrock und Barchent-Nachtjacke, die Haare unter einer schmutzigen Nachtmütze versteckt; der Nachbar in zerschlissenen Hosen und wollenem Hemd.
»Na, ängstigen Se sich man nich,« sagte die Frau; »villeicht schläft se!«
»Ne, ach ne! – Mathilde! Fridchen!«
»Villeicht will se ooch nich ufmachen,« meinte der Alte und zwinkerte schlau. »Der Eckskutter kommt oock manchmal in de Friehe.«
»Ne, ach ne!« Mine weinte fast. »Fridchen, Fridchen!«
Sie pochten mit vereinten Kräften.
»I, denn wird se woll jestern abend jarnich nach Hause jekommen sind,« sagte endlich die Frau. Sich nach ihrer Wohnung zurückwendend, schrie sie in die Tür: »Alma! Alma, sagtste nich jestern: ›Mutta, wat de olle Mathilde sich uftakelt!‹ Jing se nich weg, so jejen viere, in schwarze Seide?«
»Jawoll,« krähte eine spitze Stimme, und ein junges Mädchen in kurzem, himmelblauem Flanellröckchen, die Füße, noch ohne Strümpfe, in zerrissenen Latschen, zeigte sich. Eine große Brennschere hielt sie in der Hand. Neugierig starrte sie unter ihrer wuschigen Mähne hervor auf Mine. »Ach, det is det Mächen, die ihr Kind bei die Mathilde hat! Sie, Ihre Kleene hat de janze Nacht jebrüllt, wie an 'n Spieße!«
»Fridchen!« Mine wurde totenblaß.
»Herr Schminski, Sie wissen ja Bescheid, jehn Se doch mal bei 'n Schlosser rum, det die Person bei ihr Kind kommt,« sagte die Nachbarin.
Gutmütig trottete der Alte ab.
Mine kniete vor der Tür nieder, versuchte durch das Schlüsselloch etwas zu sehen und rief kosende, beschwichtigende, zärtliche Worte.
»Du, Mutta,« sagte das junge Mädchen mit der Brennschere, »Bruno singt immer det von ›Male mit 'n Klaps‹, wenn er se bejejent. Se hat ooch 'n Klaps weg; schon mehr wie eenen. Du hättst ihr mal sehn sollen, wie se jestern losjondelte – zun Radschlagen! Un 'nen jrünen Strauß trug se an de Brust!«
Verschiedne Leute kamen jetzt die Treppe herauf; Herr Schminski hatte Alarm geschlagen. Auf einmal wußte jeder etwas über Mathilde zu berichten. Sie stellten sich alle um Mine auf.
»Sie, Fräulein,« sagte der Flickschneider, der gerade gegenüber, fünf Treppen, auf der andren Hofseite wohnte, »wie konnten Se der bloß det Kind anvertrauen?! Ik habe ihr öfter abends mit de Kleene an'n Fenster stehn jesehn. Ik dachte jeden Oogenblick: Nu schmeißt se 't runter! Vorjestern abend war se janz aus 'n Häuschen, da stand se alleene an'n Fenster, splinterfasernackicht, in 'n Hemde, un ruppte ihren Myrtenstock ab. Un lachte immerzu.«
»Wat Se nich sagen?!« Das ganze Interesse wendete sich jetzt dem Schneider zu.
»Mit die is 's an'n Ende,« sagte er in demselben Tonfall, wie: ›Die Hose is fertig‹. »Jeht ihr man suchen, die liegt irgendwo in 'n Kanal. Ik wer' man jleich uf de Pollezei abschieben un Meldung machen.«
»Ik habe ihr noch jestern nachmittag jesehn, wie se hier de Straße lang jing,« schrie eine Frau. »Ik habe mir noch nach se rumjedreht, weil se so fein war. Mir sah se jarnich!«
»Ik bin se ooch bejejent,« rief eine andre. »Se quatschte immerzu wat vor sich hin. Ik jloobe, se sagte: ›Ich komme ja schon, ich komme!‹ Un denn lachte se und quasselte janz seelenvergnügt.«
Ein angenehmes Gruseln überlief alle.
»Sie können von Jlück sagen, wenn Se Ihre Kleene noch an 'n Leben finden,« sagte die Nachbarin freundlich zu Mine. »Wie leicht läßt so eene en Kind verhungern oder tut ihn wat an. So 'ne Leute sind ja jänzlich unzurechnungsfähig!«
Mine zitterte am ganzen Leib; immer wieder rüttelte sie angstvoll an der Tür.
Endlich kam Herr Schminski mit dem Schlosser. Der Mann konnte kaum hantieren, so umdrängten ihn die Neugierigen. Als die Tür aufsprang fielen sie förmlich in die Stube; Mine kam nicht einmal als erste hinein. Aber am Bett war sie doch zuerst, mit einem Sprung hatte sie alle andren überholt.
Fridchen lag da mit offnen, erschrocknen Augen. Mit einem Gurt war sie sorgsam in den Betten festgeschnürt, herausfallen hatte sie so nicht können. Der Rest einer noch nicht gänzlich aufgeknabberten Schrippe war auf den Boden gekollert. Die Augen des Kindes waren verschwollen vom Weinen; die kleine Kehle war heiser vom Schreien, kein lauter Ton wollte mehr heraus. Als es die Mutter erkannte, lächelte es matt.
Mit einem Schrei riß Mine ihr Fridchen an sich; unzählige Küsse drückte sie auf die blassen Bäckchen, auf die verschwitzten Härchen. Und dabei mußte sie in einem fort lachen und weinen vor lauter Glück.
Die Umstehenden nahmen regen Anteil.
»Wat for'n niedlichet Mächen!«
»Allerliebste kleene Jöhre!«
»Jammerschade, wenn die wat passiert wäre!«
Fridchen wurde reichlich bewundert.
Eben befühlte die Nachbarin mit Sachkenntnis die Beinchen der Kleinen; sie hatte zu diesem Zweck die rotweißgeringelten Wollstrümpfchen ein wenig heruntergestreift. »'n bißken lappig aber doch ordentlich wat dran. Looft se schon? Wie alt is se denn? Zwee, wat?«
»O ne, erst im sechzehnten Monat,« sagte Mine, mit einem Gefühl ungeheuren Stolzes.
»Wat Se nich sagen?! Ne, da können Se aber ooch stolz uf sein.«
Jede Frau wollte Fridchen mal heben, um zu prüfen, wie schwer sie sei. Sie wanderte von Arm zu Arm. Kein Mensch dachte an Mathilde, auch Mine nicht, bis plötzlich das Mädchen mit der Brennschere, das neugierig herumgespäht, überlaut rief: »Nu wird's Tag! Da hat se richtig den janzen Myrtenstock ratzekahl jesäbelt, un ik dachte doch mal an meinen Hochzeitstag 'ne Anleihe bei se zu machen!«
»I, mit die ollen Myrten, jeh du man ruhig so,« fuhr die Mutter sie an. »Da druf kommt's nich an. Vor de Hand biste noch ville zu jrün, um an so wat zu denken.«
»Der schlägt nich wieder aus,« meinte nachdenklich der Schneider und betrachtete prüfend den Myrtenstock. »Na, nu braucht se ja ooch keenen mehr; die liegt unten in de Spree.« Davon ließ er sich nicht abbringen.
Mine, ihr Kind auf dem Arm, drängte sich erschrocken neben ihn. War's wirklich wahr, die Mathilde kam nicht mehr wieder?! Ihre Augen wurden groß und starr – wo sollte sie denn nun mit Fridchen hin?! Das Blut stieg ihr siedendheiß zu Kopf. Was nun?! Um Gottes willen, wohin mit dem Kind?!
»Ach Jeses,« stammelte sie bestürzt, »wo soll ich denn nu Fridchen lassen? Ich bin in Dienst!« Mit Entsetzen fiel's ihr zugleich auf die Seele: sie war schon zu lange ausgeblieben, nun mußte sich Herr Müldner allein den Kaffee kochen!
»O je, o je!« Ratlos, in höchster Verlegenheit sah sie sich um.
»Haben Se denn jar keene Verwandte?« fragte die Nachbarin.
»O ja – o ne – ja, ja, aber –«
»Na, ik weeß schon, die wollen Se damit nich jerne kommen.«
Mine nickte und wurde dunkelrot.
»Na, wissen Se wat – man is doch keen Unmensch, man kennt so wat ja – jeben Se mich de Kleene! Se wer'n schwerlich wat andret finden. Heutzutage will sich keener mehr mit so wat bemengen. Da is ja ooch keen Verdienst nich bei, man muß zu ville verfuttern; immerzu pappen wollen de Jöhren. Fufzig Fennije den Tag is so jut wie umsonst, nur weil Sie et sind!«
Die Tochter mit der Brennschere wollte Einwand erheben: kleine Kinder machten so viel Geschrei, sie wollte wenigstens ihre ungestörte Nachtruhe haben. Aber die Mutter schrie sie an: »Halt 'n Rand! Die wer'n wer schon stille kriegen. Ik nehme ihr!«
Und damit hob sie das Kind ohne weiteres von Mines Arm und trug's hinüber in ihre Wohnung. Mine folgte.
Als hätte selbst Fridchen den Unterschied zwischen Mathildes armer, aber saubrer Stube und dem wüsten Durcheinander, das sie hier aufnahm, bemerkt, so erhob sie jetzt ein heisres, gequältes Geschrei.
Mit scheuen Blicken sah sich Mine um. O, wie sah das hier aus! Ungemachte Betten, bespuckte Dielen, leere Bierflaschen in den Ecken, unabgewaschenes Geschirr auf dem Herd, Lumpen, statt Gardinen, vor die Fenster gehängt. In allen Winkeln Schmutz, Schmutz. Viel zu viel Menschen in den zwei engen Stuben. Eben erhob sich gähnend ein Schlafbursche, ein halbwüchsiges Mädchen wichste Stiefel, ein zweiter Schlafbursche schrie nach seinem Kaffee. Eine gänzlich verbrauchte Luft, alle möglichen Gerüche.
Frida jammerte, angstvoll wollte Mine sie wieder an sich nehmen, aber die Frau wehrte ihr; sie schien beleidigt. »Wat, Se denken woll, ik wer' nich mit se fertig? O fermost! Jehn Se man! Sowie se Ihnen nich mehr sieht, is se janz zufrieden. Wat, mein Schnuteken? Sss– – sss– –! Jehn Se man bloß!« Sie drängte Mine zur Tür.
Mine wagte kaum mehr zu sagen: »Se hat Durst, se möchte de Flasche!«
»Soll se kriegen, soll se kriegen, janz nobel, extra fein von Klingel-Bolle! Sss– – sss– –, jehn Se man bloß schonst!«
Und Mine, einen letzten traurigen Blick auf ihr Kind werfend, ging; sie wollte die Frau doch nicht böse machen, sie mußte ja noch froh sein, daß die ihr das Kind abnahm.
Wie geschlagen schlich sie die Treppen herunter. Es war ihr, als könne sie nicht aus dem Hause fort, nicht fort aus dem Tor, nicht fort aus der Straße. Sie zögerte. Aber sie mußte doch fort. Sie mußte zurück zu Müldners. Wie mochten die sich heute früh ohne sie beholfen haben?! Ob Herr Müldner auch den Kaffee gefunden und den Brotbeutel herein genommen hatte? Wenn der so lange an der Hintertür hängen blieb, wurde er gewiß gestohlen.
Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte.
Fünfzig Pfennige den Tag! Jetzt erst kam es ihr zum Bewußtsein, wie viel das war. Herrgott, das konnte sie ja gar nicht aufbringen! Eine lähmende Angst befiel sie, schwer lehnte sie sich gegen die Messingstange eines Schaufensters und stierte die Waren an mit leeren, blöden Blicken. Dann fing sie an zu rechnen; wie ein Kind nahm sie alle zehn Finger zu Hilfe. Aber wie sie auch rechnete und rechnete; fünfzig Pfennig den Tag, das machte den Monat tausendfünfhundert Pfennige, das waren fünfzehn Mark! Fünf Taler! Und sie bekam das ganze Jahr nur fünfzig Taler!
Ihre Lippen, die die Zahlen murmelten, wurden blaß. Schweiß trat ihr auf die Stirn. O, was nun –?!
Angstvoll dachte und dachte sie nach. Woher das Geld nehmen? War denn da kein einziger, der ihr helfen konnte, ihr was zulegen, daß es langte? Plötzlich schoß es ihr durch den Kopf: bei denen zu Hause hatte sie ja noch etwas zu gut! Hatte sie denen nicht sechsundzwanzig Mark geschickt zum Ankauf für die neue Kuh? Wiederhaben wollte sie's Geld ja gar nicht – nein, nein! – Aber sie konnten ihr wohl dafür die Kleine hinnehmen; Milch hatten sie ja genug. Zwei Kühe! Wer merkte da die paar Schluck für Fridchen?! Und zulegen wollte sie ja auch noch jeden Monat etwas.
Freilich, der Vater hatte ihr mächtig grob geschrieben, als sie daheim das von Fridchen zu hören bekommen. Heruntergerissen hatte er sie, keinen guten Fetzen an ihr gelassen. Aber, wenn sie's jetzt so bedachte, hatte er denn nicht Grund gehabt?!
Versöhnlich gedachte Mine der Eltern. Nein, es war unrecht von ihr gewesen, daß sie getrotzt, daß sie nicht mehr geschrieben hatte. Nun hatten sie über Jahr und Tag nichts mehr von einander gehört.
Ein Heimweh kam jählings über Mine. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie preßte die Hände ineinander. Ja, sie wollte hingehen und sagen: ›Verzeiht mir!‹ Fünfzig Pfennig den Tag, wer konnte das wohl aufbringen?! Und dann der Schmutz! Und würde die Frau gut zu Fridchen sein? Die war eine Fremde; aber daheim die Mutter, die war doch die leibhaftige Großmutter.
Wenn sie unvermutet eintrat, mitten unter die, zu denen sie doch gehörte, dann würden sie gewiß nicht mehr böse sein. Dann würden sie sich auch über Fridchen freuen; Fridchen war ja so niedlich!