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XXIV

Nicht nur die Bewohner des letzten Hauses der Colonnenstraße, nein, die der ganzen Nachbarschaft, studierten die nächsten vier Wochen emsig den Lokalanzeiger und alle ihnen erreichbaren Lokalblätter. ›Ob sie wiederkam oder nicht?‹ – ›Ob sie gefunden wurde oder nicht?‹ war Tagesgespräch.

Mathilde kam nicht wieder. Sie wurde auch nicht gefunden.

Wohl aber kam ihre Schwester, eine stattliche blühende Frau und nahm einstweilen die Hinterlassenschaft der Verschwundenen an sich. Die Nachbarin sah neugierig zu, wie sie die Sachen zusammenkramte. Gegen Abend kam der Mann und half der Frau, den Koffer mit Mathildes Ausstattung wegtragen.

Als Mine am Sonntag ihr Kind besuchte, steckte ein Buchdeckel aus dem Kohlenkasten der Nachbarin heraus, sie zog ihn neugierig zwischen den Preßkohlen vor, die ihn einklemmten. Aber hastig ließ sie ihn wieder fahren, als ob er ihre Finger brenne – es war Mathildes Buchchen. –

Müldners waren in einiger Verlegenheit; Mine hatte ihnen erklärt, sie müsse für ein paar Tage nach Hause fahren. ›Warum‹, hatte sie nicht gesagt, aber mit einer seltnen Hartnäckigkeit bestand sie auf ihrem Verlangen. Und da Frau Müldner sich leidlich kräftig fühlte, die Kinder gesund waren, ausnahmsweise gerade keine große Wäsche vorlag, und Herr Müldner fürchtete, im Fall einer Weigerung die brave Dienstmagd zu verlieren, wurde sie für zwei Tage beurlaubt; aber nur für zwei Tage.

Auch den zum Ersten fälligen Lohn zahlte ihr Herr Müldner schon ein paar Tage früher aus, sie bat so sehr darum; es wurde Herrn Müldner schwer, jetzt schon das Geld zu geben, er mußte sich auch immer mit seinen Finanzen einrichten.

Mine hatte jeden Pfennig nötig. Die Pflegerin drohte Fridchen auf die Straße zu werfen, wenn sie nicht wenigstens dreiviertel des Monatsgeldes erhielt. Das letzte Viertel mußte Mine schuldig bleiben, wenn sie auch alles, was sie entbehren konnte, zur Grummach schleppte. Abend für Abend hatte sie sich, mit einem kleinen Päckchen unterm Tuch, in das heimliche Trödellädchen der Göbenstraße gestohlen; Hemd auf Hemd wanderte dahin, ihre ganze gute eigengesponnene Wäsche, die sie von Hause mitbekommen. Auch Geschenke, die sie dann und wann von den Herrschaften erhalten, gingen denselben Weg; sie waren noch neu, ihr immer zum Gebrauch zu schade gewesen. Am schwersten fast wurde Mine die Trennung von einem Karton mit bunten Seifen und Parfümfläschchen; lange hielt sie ihn zögernd in der Hand und betrachtete ihn mit schwimmenden Augen. Dann trug sie ihn doch weg.

Es war an einem schönen Septembermorgen, als Mine, das fest in ein Tuch gepackte Fridchen auf dem Schoß, der Heimat zu fuhr.

Jetzt regte sich doch ein Gefühl der Freude in ihr, und eine lebhafte Neugier dazu – wie sie wohl alle und alles wiederfinden würde?! Nun sie so weit war, hatte sie keine Bangigkeit mehr. Die mußten sich ja doch freuen, sie nach so langer Trennung wiederzusehen! Wenn sie auch nicht so im Staat nach Hause kam, wie sie es sich einstmals in kühnen Träumen ausgemalt, anständig sah das kornblumblaue Kleid noch immer aus, und den braunen Strohhut, den Frau Müldner abgelegt und ihr geschenkt hatte, kannten die daheim noch gar nicht; ihren schönen Rosenhut hatte sie leider zur Grummach tragen müssen, wenn sie auch nur fünfundzwanzig Pfennige dafür bekommen.

Mit Appetit biß Mine in das Brot, mit Zwiebelleberwurst belegt, das Frau Müldner ihr mitgegeben, und ließ auch Fridchen abbeißen. Dann nahm sie einen Schluck Kaffee aus der in Zeitungspapier gewickelten Bierflasche und ließ auch Fridchen trinken.

Die Mitreisenden hielten sie für eine Frau und fragten sie nach ihrem Mann, und ob das das Jüngste wäre? Vierter Klasse pflegt man mit seinen Mitteilungen nicht zurückhaltend zu sein, aber Mine schwieg, saß still zwischen die andren gedrängt und sah auf ihr Kind.

O wie hübsch sah Fridchen aus! Freilich bleich; der würde die Landluft gut tun. Die Frau hatte immer geklagt, die Jöhre sei unartig und wolle nicht essen; Krämpfe sollte sie auch mal wieder gehabt haben, wie damals bei der Mathilde. Sie war gar nicht mehr so ein lustiges Kind. Und am Rücken hatte sie wunde Stellen vom Liegen in der Nässe, und die Härchen am Hinterkopf waren ganz abgescheuert durch das grobe Kissen, von dem sie niemand einmal aufgenommen hatte. Laufen wollte sie noch immer nicht, die Beine waren ein wenig gekrümmt. Mit dem Sprechen haperte es auch noch, nur krähend oder greinend äußerte sie ihr Behagen und Mißbehagen. Sie war entschieden zurückgekommen in den letzten Wochen, aber sie war doch immerhin ein prächtiges Kind, ein wunderhübsches Kind! Mine glaubte aller Blicke auf ihr schönes, kleines Mädchen gerichtet.

Sie hatte es so niedlich gemacht wie möglich, in einem schottischen Mäntelchen und einer rotwollnen Mütze mit Ohrenklappen. Sorgsam hielt sie ihr Tuch um das Mäntelchen zusammen, daß nur ja keine Krume oder kein Kohlenstaub es beschmutzte.

Endlich kam die letzte Station.

Ach, da floß die Warthe noch ganz wie früher! Nur die Stadt schien Mine viel kleiner geworden.

Von den Türmen läutete es Mittag. Das war recht, da kam sie noch bei guter Zeit heim! Nach Hause! Ohne sich aufzuhalten, schritt sie hinaus in die Felder.

Sie wanderte rüstig. Eine milde Sonne lugte auf die Stoppel, und der Wind trieb zarte weiße Fäden. In Berlin war's noch sommerlicher; hier ging die Luft stark und durchwehte einen frisch. Alles war schon in den Scheunen geborgen, nur die Kohlköpfe der Schweriner standen noch in stattlichen Reihen, und die Kartoffeln hingen ihr schwärzliches Grün; nächtens mußte es schon gereift haben.

Das Landkind war in Mine erwacht. Sie ging vom Weg ab, zog eine der Kartoffelstauden aus dem Acker und prüfte, ob viele Knollen daran saßen. Ei, schön groß und gesund! Sie freute sich. Und als ein Rebhuhn zwischen Rübenkraut aufrauschte, und ein Hase quer über die Furche sprang, lachte sie laut auf vor Vergnügen. Wenn Fridchen erst hinter dem Häschen dreinsetzte, wie sie selbst als Kind in fruchtloser Jagd getan! Ein Glücksgefühl, wie sie es kaum je empfunden, kam über sie.

Auch das Kind schien zufrieden, grahlte behaglich und schlief zuletzt ein, das Köpfchen an den Hals der Mutter schmiegend. Gemäßigten Schrittes ging Mine nun weiter, um Fridchen ja nicht zu wecken! Dann hatte sie nachher rosige Bäckchen und war recht lieb, und die Eltern würden sich doppelt über sie freuen.

Der Weg wurde Mine gar nicht lang; früher, wenn sie Butter nach der Stadt gebracht, war er ihr viel länger erschienen, und da hatte sie doch nicht so schwer getragen.

Auf Schritt und Tritt eine Erinnerung. Hier im Grund hatten sie damals bei der Abreise den Storch gesehen, und Bertha hatte Unsinn getrieben und ihn gescheucht.

Je mehr sich Mine Golmütz näherte, desto lebhafter mußte sie an Bertha denken. Es war ihr ordentlich verlegen, wie sollte sie vor Berthas Mutter bestehen? Sie konnte ihr nichts, gar nichts von der Tochter erzählen; am Tag vor Fridchens Geburt hatte sie die Bertha zum letzten Mal gesprochen. Seitdem nichts mehr von ihr gehört und gesehn. Unrecht war es, unkameradschaftlich; als wenn man gar nicht ein und dieselbe Heimat hätte! Aber so ging's nun einmal in der großen Stadt – so viele Straßen, so viele Häuser, und jeder hatte so viel mit sich selbst zu tun!

Nach und nach wurde Mine aufgeregt. Als sie die Höhe der Chaussee erreicht und der Kirchturm von Golmütz, schlank und spitz, über den Sandberg weg guckte, klopfte ihr das Herz. Eine warme Röte stieg ihr in die Wangen.

Da war er! Und da war das Dorf mit seinen tiefhängenden Dächern, nicht verschwommen im morgendlichen Nebelduft, wie sie es beim Abschied zurückgelassen, sondern klar und freundlich im durchsichtigen Nachmittagslicht.

Sie stieß einen leisen Freudenschrei aus und blieb unwillkürlich stehen. Ach, daß sie's nun endlich wiedersah! Nichts, gar nichts verändert. Nur wo sonst Gerste gestanden, jetzt Kartoffelacker; und dort ein morscher Stumpf, wo früher der alte Holzbirnbaum sich gebreitet. Auch von den Kiefern am Sandberge waren welche gefällt und neu angeschont.

Sie umfaßte alles mit einem zärtlichen Blick, und dann lief sie hinein ins Dorf, ihr schlafendes Kind sorgsam verhüllend.

Als sei sie gestern hier weggegangen! Nein, als sei sie nie fortgewesen!

Sie klinkte die grüne Tür auf, deren obere Hälfte immer offen stand, um dem dreisten Hühnervieh den Ein- und Ausflug zu gestatten.

In der Stube saßen sie alle beim Vesper, ganz in den Genuß der Pflaumenmusschnitten versenkt; der Vater trank einen Kaffee dazu. Sie sahen verwundert auf, ohne sie zu kennen.

Mine stand auf der Schwelle, wie eine Fremde. Sie hätte nichts sagen können; ihre Lippen zitterten vor Bewegung.

Da schrie Emma, die der Tür zunächst saß, hell auf: »Jeses, es is de Mine!«

Sie sprangen alle auf; nur der Vater blieb sitzen. Er sagte nicht: »Gutten Tag«, und auch nicht: »Setz der!«

Mine gab der Mutter scheu die Hand – sie fühlte sich auf einmal so gedrückt, sie wußte selber nicht warum – und danach auch den Geschwistern. Da waren sie ja alle, Max, Cilla, Heinrich, Emma; nur Male fehlte. Statt ihrer war da eine junge häßliche Frauensperson, die, als Mines fragender Blick sie traf, sich abwandte und an der großen faltigen Schürze zupfte, die ihre starken Hüften verbergen sollte.

»Wie geht der'sch, Mutter?« fragte Mine leise.

»Gutt!«

»Un euch?«

»Ooch gutt,« erwiderte Max für die Geschwister.

Dann war's still; kein Mensch sprach ein Wort. Man hörte eine Brumme surren. Der Vater guckte immer vor sich hin und aß weiter.

Jetzt fragte Emma neugierig, indem sie an der Schwester Tuch zupfte: »Was haste da?«

Im selben Augenblick schrie Fridchen auf.

»Mein kleenes Mädel,« sagte Mine tapfer und schlug das Tuch zurück.

Wieder dasselbe Schweigen.

Mine sah sich um, ihre Blicke suchten die Mutter – die schaute zur Erde.

Die jüngeren Geschwister gafften.

Der Vater aß noch immer, jetzt schnitt er sich ein neues Stück Brot ab und strich sich's.

Die fremde Frauensperson hatte sich ans Fenster gestellt, den Rücken nach der Stube gedreht.

»Wo is denn de Male?« fragte Mine mit dem Versuch, ganz harmlos vertraulich zu reden.

»'s geht 'r gutt,« sagte irgend jemand knapp.

»Ja, wo is se denn? Das tut mer aber an, daß ich de Male nich seh! Se war immer so en guttes Mädel, 's wird 'r ooch leid sein!«

»Das weeß mer nich,« sagte Max, und ein halb höhnisches, halb verlegnes Lächeln zuckte um seine schwach bärtigen Lippen.

Dann war's wieder still.

Wenn sie doch nur ordentlich reden wollten! Mine wechselte die Farbe. Hätten sie lieber laut gepoltert; besser, als dies eisige Schweigen! Unwillkürlich preßte sie Fridchen fester an sich, sie mußte an dem Kind einen Halt suchen. Sie war ja so allein.

»Jeses, so red't doch!« stieß sie endlich heraus, mit einem tiefen, zitternden Atemschöpfen. Reden, reden, so hielt sie's nicht mehr aus! Lieber selber davon anfangen!

»Biste mer beese, Mutter? Mutter, kuck mer doch an!«

»Setz der,« sagte die Mutter, aber sie sah noch immer die Tochter nicht an.

Schwer ließ sich Mine auf den nächsten Schemel fallen; sie war auf einmal ganz schwach, ganz todmüde, froh, daß sie nur sitzen konnte. Das Tuch hielten ihre bebenden Hände nicht mehr zusammen, frei saß Fridchen im schottischen Mäntelchen auf ihrem Arm und sah sich mit runden blauen Augen um.

»Mutter,« sagte Mine, »is se nich en hübsches, kleenes Mädel?«

Da drehte die Frau sich ab und fing an, am Herd zu hantieren und mit Geschirr zu klappern.

»Vatter!«

»Was geht mer'sch an?!« Barthel Heinze spuckte aus. »Das Mus is heuer nich gutt geraten, Mutter; angebrennt. 's schmeckt bitter!«

»Vatter!« Mine hatte sich vorgereckt und versuchte über den Tisch weg, seine Hand zu fassen. »Vatter, sei nich so! Kuck mer doch an! Red doch mit mer!«

»Ich red ju mit der,« sagte er widerwillig. Und dann nach einer Pause grob: »Mach, daß de wieder hinkommst, woher de gekommen bis. Ich meen, bei uns haste nischte zu suchen. Geh nur hin, wo der'sch so gutt geht, daß de Vatter un Mutter, die sich's am Maule abgespart han, vergißt un alles verjuxst. Geh nur!«

»Ich hab euch doch sechsundzwanzig Mark geschickt – acht Taler un zwanzig Groschen! Ich hätt gern mehr geschickt, wenn ich's gekonnt hätt,« murmelte Mine.

»Kannst gutt reden, ich weeß von nischte.«

»Ju, ju, Heinze,« sagte nun die Mutter und kam näher. »Se hat emal was geschickt.«

»Halt dein Maul,« fuhr ihr Mann sie an. »Is das Gelumpe der Rede wert? Schickt mer dafor 's Mädel nach Berlin? Andre tun ganz andersch heeme schicken.« Und mit dem Ton, den Mine schon als Kind gefürchtet, wandte er sich wieder gegen sie: »Was willste?«

Sie wurde rot und blaß und stotterte.

»Na, was bringste, na?« Er sah sie finster an, und dann blieb sein Blick auf Fridchen haften.

Gott sei Lob, nun würde er freundlicher werden! Sie hob Fridchen und hielt sie ihm hin, als wollte sie sagen: ›Da sieh, bewundre nun mal!‹

»Was soll der Balg?!« brummte Heinze, und dann schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß die Brotkrumen wie Staub in die Höhe flogen.

Mine stockte der Atem, sie hatte Todesangst, aber heraus mußte es, heraus! Darum war sie ja hergekommen. Sie räusperte sich, um ihre Stimme klar zu machen, und dann sagte sie doch noch heiser: »'s geht in Berlin nich mit der Fridchen. Da hat se's gar zu schlecht. De Mutter würd nich viel Arbeit dervon haben. Gelle, Emma, du wirst ihr schon verwarten? Hab der ja ooch so viel ufgepaßt. Un so teuer is 's in Berlin!«

»Wer haben hier ooch nischte ummesonst.«

»Ja ja, das weeß ich,« sagte Mine rasch. »Aber de gutte Luft kost doch nischte, un de Milch ooch nischte. Ihr habt zwei Küh – ich hab euch doch zu der neuen zugegeben. Un da dacht ich – wenn ihr – daß ihr – ich will euch ja gerne noch was derfor geben – so viel ich kann – alle Monat!« Sie sah den Vater erwartungsvoll an.

Der blieb stumm.

»Mit der Zeit krieg ich ooch mehr Lohn, ihr sollt sehen. Jetzt hab ich ja nur fufzig!«

»Das is ju nich wahr. Wirst schon mehr kriegen!« Fest legte der Alte wieder die Faust auf den Tisch, und die Geschwister tuschelten.

»Ju, ju, so wahr ich leb, bei Müldners nur fufzig! Die haben selber nich viel.«

»Schafsgesichte! Was gehste in so'n Dienst?!« schrie der Vater, und die Zornesröte auf seiner Stirn stieg. »In Berlin sein so viel reiche Leute, was gehste zu so'n Bettelvolk, wo nich emal was abfällt?!«

Mine ließ den Kopf hängen. »Ich war froh, daß ich den Platz gekriegt hab. 's sein gutte Leute.«

»Gutte Leute – gutte Leute – en Schandlohn! Erzieht man dafor seine Kinder?! Du dämliches Luder! Da sein de andern Mädels gewitzter; sibzig, achtzig, neunzig Taler haben die: Die kommen zurück wie de Damens, un de Eltern haben ooch noch was dervon. Was hat der Fidlern ihre Berthe for'n Glücke gemacht!«

»Ju, ju,« fiel die Mutter lebhaft ein, »das blaue Kleid haste ja hier schon gehatt. Aber de Bertha, das muß wahr sein! Un war so'n armseliges Mädel, das keenen Kartoffelsack nich uf den Buckel heben konnt. Un du mit deine starke Knochen! Mer möcht sich schämen. Wie ich mer ärger, wenn ich de Fidlern Sonntags in der Kerche seh! Mit'n gestreiften Umschlagetuch – goldgelbe Streifen sein drein – un mit'n seidnen Follangunterrock. Dann hebt se sich uf, bis wer weiß wohin. ›Den hat mer mein Berthchen geschickt!‹ Berthchen dies und Berthchen das. Da haben de Leute was zu kucken; un unsereins steht derbei! O Jeses!« Sie stieß einen Seufzer aus.

Auch Mine seufzte. Sie hatte ja nichts zu verschenken. Eine ängstliche Unruhe befiel sie. Überall Blicke, die ihren flehenden Blicken ohne Teilnahme, nur mit Neugier, begegneten.

Sie sah Cilla an. Das große, üppige Mädchen stand mit hängender Lippe, wie ein verdrießliches Kind. »Wo is meine Schürz?« maulte sie. »Haste mer nich eene versprochen? Un was allens noch! Wenn eener da druf wart, kann er schwarz wer'n. Wär ich man nach Berlin, ich hätt mer andersch rausgemacht!«

»Was haste mer mitgebracht,« sagte plötzlich Emma und zog die Schwester am Ärmel.

»Un mir?« rief Heinrich.

Mine senkte den Kopf immer tiefer, so schämte sie sich. Nichts, gar nichts hatte sie mitgebracht; nicht einmal den Kindern etwas für ein paar Pfennige!

»Laß mer, Emmchen,« flüsterte sie, »jetz hab ich nischte, aber ich schick der was!«

Das Kind lächelte ungläubig.

»Laß der nischt weiß machen,« sagte Cilla hart; »die schickt doch nischte.«

Heinrich und Emma fingen an zu heulen.

Max lachte laut auf.

»Stille,« donnerte der Vater. »Un jetz sag, was de willst, Mine – kurz raus! Ihr andern halt's Maul!«

Die Verzweiflung gab ihr Mut. »Ich hab's ja schon gesagt. 's Mädel sollt ihr hernehmen, mein kleenes Mädel! Ich weiß nich, wohin dermit. Vatter, Mutter,« – sie unterdrückte ein Schluchzen, ihre Stimme zitterte – »laßt mer nich umsonst bitten! Ach, seid doch so gutt! Ich –«

»Ne, ne,« unterbrach sie rauh der Vater. »Wer haben Mäuler genung zu füttern. Trag's Mädel nur hin, wo de's hergeholt has.«

»Aber, Heinze, haste denn nich gehört? Se will ju was dafor geben!«

»Wird was rechts sein. Von den paar Groschen!«

»O Vatter, ich wer' mer schon bessern. Mutter, Mutter!« Mine lief auf ihre Mutter zu und drängte ihr das Kind in die Arme. »Ihr merkt's gar nich! De Fridchen ißt und trinkt wie'n Vogel. Ihr habt doch zwei Küh, un Brot genug!« Ihr Blick streifte das Vespermahl auf dem Tisch.

»Wenn de Hunger hast, iß,« sprach Heinze. »De sollst nich sagen, daß de nischte zu essen gekriegt has. Da – Brot! Da haste ooch Kaffee!«

Mine schüttelte heftig den Kopf. »Ich will nich essen. Nehmt nur's Mädel! Ich bitt euch! 's is ja so lieb, so lieb! Nehmt's Mädel!«

Fridchen, die sich auf dem Arm der Großmutter fremd fühlte, wurde unruhig. Hungrig und verschüchtert wie sie war, fing sie kläglich an zu weinen.

»Sollt mer fehlen, noch emal Kindergeplärre,« knurrte der Alte. »Ne, ne, Mine, nimm's Mädel nur wieder mit nach Berlin.« Und aus seiner anscheinenden Ruhe auffahrend, schrie er plötzlich: »Was meenste, war das 'n Spaß als mer der Briefträger en versiegelten Brief bringt, wo drin geschrieben steht, ich soll mer gleich uf'n Amt in Schwerin melden. Ich denk wunder was: ich hab in der Lotterie gewonnen oder der Schwager in Berlin, der Reschke, is verstorben und hat uns was Ordentliches vermacht. Ich war so fidel, wie dazumal, als der Maxe retur gekommen is von de Aushebung; der hätt uns scheene in der Ernte gefehlt! Und ich renne hin, was haste, was kannste; unsre junge Kuh wollt grad 's erste Mal kalben, aber ich laß allens in 'n Stich – und denn weiter nischt, als daß de Mine en Mädel gekriegt hat, und daß se mer zum Vormund ernennen von Gerichts wegen! Meinswegen! Aber sonst geht mer der Balg nischte an. Hörste, er geht mer nischte an, rein gar nischte! Hörste, Mutter,« schrie er seiner Frau zu, die das weinende Kind beschwichtigend im Arm wiegte, »leg 'n hin, uf der Stell, er geht der nischte an!«

Zitternd nahm Mine das Kind wieder an sich.

Und nun brüllte er die Tochter an: »Was stehste un kuckste? Hab ich etwa nich recht? Er geht uns nischte an. Hast du mer gefragt? So eens hat hier nischte zu suchen!« Damit setzte er sich hart nieder auf den Schemel, von dem er im Zorn aufgesprungen war, langte das Brot her und schnitt sich noch ein derbes Stück ab.

Große Stille im Zimmer.

Die Mutter wischte sich mit der Schürze ein paar verstohlene Tränen ab, die Geschwister standen eingeschüchtert. Keiner wagte ein Wort. Auch Mine nicht.

Langsam schritt sie zur Tür – was sollte sie noch hier? Als sie schon auf der Schwelle war, traf der Blick, den sie zurückwarf, die fremde Frauensperson, die jetzt vertraulich neben Max lehnte. Wer war das?

Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloß; sie war draußen.

Die Kühle des dunklen Ziegelflurs strich wie mit kaltem Finger über ihr glühendes Gesicht. Aber sie kam noch nicht zu sich, sie war wie im Traum. Es konnte nicht sein, sie mußten sie wieder hereinrufen – sie war doch zu Hause!

In dem dunkelsten Winkel führte die Leiter hinauf zum Boden, da hatte sie sich oft als Kind versteckt; da kauerte sie auch heute wieder auf der untersten Sprosse.

Hier fand die Mutter sie. Die war ihr nachgeschlichen: so konnte sie doch die Tochter nicht gehen lassen. Sie brachte ein Töpfchen warme Milch für die Kleine und steckte Mine ein Stück altbacknen Kirmeskuchen in die Tasche. Diese nahm alles mit wehmütigem Dank; das Kind trank glucksend, in langen durstgen Zügen.

Die Mutter weinte. »'s tut mer gar sehre an, Mine, daß de so von uns gehst! Aber der Heinze is jetz gar so arg beese. Daß es ooch so kommen muß, o Jeses, Jeses! Hab ich der nich gesaot: Geh ooch in de Kerche! Dann wär alles andersch gekommen!«

›Geh ooch in de Kerche und schick fleißig heeme‹ – ja, das hatten sie gesagt! Mine erinnerte sich noch ganz genau. Sie schauderte. Schwer stand sie auf. »Wer is die, die da drinne?« fragte sie und wies mit dem Finger gegen die Stubentür.

Das Gesicht der Mutter erhellte sich. »Das junge Mädel meenste? Ei, das is ja de Lieschen, dem Maxe seine Braut! En schönes Mädel, en liebes Mädel! Un en gutten Groschen kriegt se mit. Der Maxe macht en Glücke! Der Vatter baut ihnen an. Micheli is de Hochzeit. Du wirst's wohl gesehn haben – es pressiert.«

»Ja,« sagte Mine tonlos. Und dann ging sie plötzlich, ohne Adieu, ohne der Mutter die Hand zu bieten, zum Hause hinaus.

Draußen sah sie nicht mehr zurück – sie hatte ihre Heimat verloren.


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