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Herbstwind wehte. Fein und eindringlich sprühte Nebelregen nieder. Schon begannen Schatten der Dämmerung die Ferne zu decken. Zur Linken, im kahlen Acker, klagte ein Brachhuhn, und von der rechten Seite her antwortete ein zweites.
Das Dorf lag längst hinter der einsam Wandernden. Ihre Tränen flossen nicht, sie schluckte sie alle hinunter, aber sie brannten innerlich. Ihr Gesicht blieb steinern.
Wie verloren ging sie über die Chaussee, immer weiter, weiter – fremd und allein. Nein, allein nicht, hatte sie nicht ihr Kind?! Sie küßte die vom Regen gefeuchteten Kinderwangen. Und doch – wenn das Kind nicht wäre! – – – – –
Noch nie hatte Mine diesen Gedanken gehabt, aber jetzt tauchte er ihr auf, jählings, unabweisbar. Wenn Fridchen nicht wäre! – –?!
Die Last des Kindes wurde plötzlich für ihre Arme zu schwer; sie ließ sich auf einem Steinhaufen am Chausseerand nieder, zog das Tuch um sich und Fridchen zusammen und saß so regungslos.
Der Wind umwehte sie, lüftete immer wieder das Tuch und zerrte an dem schottischen Mäntelchen. Mochte er wehen, herbstlich feucht und schaurig! Es war doch alles zu Ende. Eine betäubende Trauer hatte Mine ergriffen, eine lähmende Ratlosigkeit. Nun wußte sie nicht mehr weiter.
Wie fest sie darauf gerechnet hatte, Fridchen bei den Eltern unterzubringen, das merkte sie erst jetzt. Alle Hoffnung war hin, eine schreckliche Trostlosigkeit um sie her, der Himmel ganz verhangen, kein Lichtstrahl – alles finster.
Andere Mädchen hatten doch auch schon Kinder gehabt – Mine kannte ihrer mehr als ein halbes Dutzend – wie machten die 's denn?! Und da war eine im Dorf, von der munkelte man, sie hätte ihr Neugebornes auf die Seite gebracht. Aber bewiesen hatte es ihr keiner; sie hatte jetzt einen wohlhabenden Bauern zum Mann, es ging ihr gut.
Nur sie, sie allein wußte sich keinen Rat. Keine Hilfe. Sie stöhnte und murmelte dumpf vor sich hin. Das Kind loslassend, warf sie mit einer verzweifelten Gebärde die Arme in die Höhe und reckte sie in die Luft.
Wohin denn – wohin denn?!
›Trag's Mädel nur hin, wo de's hergeholt hast,‹ hatte der Vater gesagt. Ein Schauder überlief Mine, wenn sie an die Stube in der Colonnenstraße dachte, an die verdorbne Luft, an die fremde Frau, an den Schmutz. Und da sollte ihr kleines Mädel verkommen? Wäre es ihm nicht tausendmal besser es wäre tot?!
Tot – tot – – –! Sie vertiefte sich in diesen Gedanken.
Ein fortwährendes Zittern lief ihr über den Körper – oh, daß sie so etwas nur denken konnte!
Sie preßte das Kind an sich und hatte augenblicklich doch gar keine Liebe zu ihm. Ihr Herz war tot. Es lag in ihrer Brust wie ein harter, kalter Stein. Sie empfand auch keinen Zorn gegen die Ihren; Vater, Mutter, Geschwister, sie hießen so, aber sie waren es nicht. Ganz gleichgültig, fremd wie die Fremdesten waren sie ihr mit einem Mal.
Ihre Not war zu groß; sie fühlte nichts mehr.
Sie hörte es auch nicht, daß Fridchen vor Unbehagen leise wimmerte. Das rote Ohrenmützchen hatte sich verschoben, das schottische Mäntelchen blähte sich im Wind und ließ die kleinen Beine frei, ein Schühchen war auch verloren gegangen. Mine sah alles nicht. Mechanisch erhob sie sich, mechanisch ging sie weiter.
Ihr Kleid streifte durch Nässe; Sand und Lehm hingen sich daran. Ohne Zweck, ohne Ziel lief sie in den dämmernden Abend hinein; schwarze Vögel schossen über sie hin, krächzten mißtönend und begleiteten mit schwer flatterndem Zickzackflug ihren irren Gang.
Sie hatte den guten Weg verloren, längst war sie von der höhergelegenen Chaussee abgekommen. Nun patschte sie in den Niederungen, die sich seitab, zwischen Wald und Acker, vertieften. Hier war es immer feucht; im Sommer quakten hier die Frösche und stolzierten die Störche.
Da lag ein Tümpel, dort ein Tümpel – stille, umbuschte Wasserlachen, die keinen Grund zu haben scheinen, deren grün überhangener Spiegel den Himmel nicht zurückstrahlt.
Jetzt war das Wasser schwarz. Mine stand an seinem Rand, hielt sich mit einer Hand am Weidengestrüpp und starrte und starrte.
Das moorige Erdreich unter ihrem Fuß gab nach und bröckelte ab, mit einem leisen Glucksen wurde es verschluckt von der dunklen Lache. Nur eine Blase zeigte sich noch auf der Oberfläche – dann nichts mehr. Kein Laut. Immer gleich schwarz, gleich undurchdringlich.
Immer weiter beugte sich Mine vor mit einer gierig spähenden Neugier. Auch ihre Gestalt spiegelte sich nicht wider. Was man da hinein warf, das – war weg.
Sie sah sich um. Alles leer. Nichts auf der Welt, als sie und dieses Kind. Dieses arme Kind!
Ihre irren Blicke richteten sich wieder auf den Tümpel. Immer irrer, immer wirrer.
Mit einem grellen Schrei warf sie den Kopf hintenüber, daß ihr der Hut herunterglitt und der Wind ungehindert mit ihren Haaren spielte. Er peitschte ihr die feuchten Strähnen ins Gesicht.
Jetzt kniff sie fest die Augen zu. Ihre Nasenflügel blähten sich, sie biß die Zähne aufeinander – mit beiden Armen hob sie das Kind in die Höhe – da, ein Rascheln!
Zusammenschreckend fuhr sie herum.
Da stand ein Tier, ein Reh, wenige Schritte von ihr; mit blanken Augen äugte es sie an. Sie starrte wieder. Nur durch den Weidenbusch waren sie von einander getrennt.
Jetzt kam ein Junges angesprungen, ein hübsch geflecktes Kälbchen. Mine rührte sich. Die Ricke stieß einen warnenden, pfeifenden Laut aus, fort sprang das Junge, und die Alte setzte pfeilgeschwind hinterdrein, ihr Kind mit dem eignen Leib gegen vermeintliche Gefahr deckend.
Mine stutzte. Sie faßte sich an die Stirn – ihr Hut war weg?! Wohin war der denn gekommen?! Nun besann sie sich.
Mit einem tiefen, zitternden Seufzer raffte sie den Hut vom nassen Gras. Dann hüllte sie Fridchen sorgfältig ins Tuch ein und bahnte sich einen Weg zurück zur Chaussee.
Mit tief gesenktem Kopf trottete sie dahin. Nur langsam kam sie vorwärts. Kurz vor der Stadt mußte sie einhalten, sie konnte nicht mehr. Sie war ganz schwach; seit der Bahnfahrt hatte sie nichts gegessen. Da fiel ihr der Kuchen der Mutter ein, sie zog ihn hervor, setzte sich auf einen Meilenstein, würgte das trockne Gebäck herunter und gab auch Fridchen davon. Eigentlich quoll ihr jeder Bissen im Munde, aber mit dem gefeuchteten Finger tupfte sie doch noch jeden Krumen auf.
Es war später Abend, als sie in Schwerin anlangte; gradenwegs ging sie auf den Bahnhof. ›Trag's Mädel nur hin, wo de 's hergeholt hast!‹ – – Ja, das wollte sie. Aber sie mußte warten, der Zug nach Berlin ging erst morgens um sechs.
Sie ließ dem Kind Milch geben, selbst genoß sie nichts, immer noch hatte sie den Geschmack des Kuchens auf der Zunge, und der machte ihr übel. Im Wartesaal vierter Klasse saß sie in einer Ecke der Holzbank die ganze lange Nacht und brütete vor sich hin. Fridchen schlief fest an ihrer Brust.
So kam der Morgen. –
Mine saß wieder in der Eisenbahn und fuhr nach Berlin zurück. Ein schöner Morgen war's, wie gestern auch, hell, strahlend, freundlich. Wieder waren da Leute, die mit ihr ein Gespräch anfangen wollten, aber sie gab keine Antwort. Sie sah auch nicht auf Fridchen. Stier blickte sie zum Fenster hinaus und preßte die Lippen fest zusammen. Keiner sollte sie stören. Sie versenkte sich ganz in das, was sie tun mußte.
Unabänderlich stand jetzt ein Entschluß in ihr fest – in der langen, bangen, durchwachten Nacht war er ihr gekommen – sie hatte ihn wie eine Hoffnung begrüßt und sich daran geklammert mit allen Sinnen.
Kam es nicht in Berlin oft genug vor, daß Kinder ausgesetzt wurden, noch viel kleinere als Fridchen? Und diese Kinder wurden aufgenommen und versorgt; nein, denen geschah kein Leid! Da gingen viel zu viel Menschen vorüber, so ein Kleines kam nicht am Wege um. Und so ein hübsches Kind wie die Fridchen, nach dem würden alle sehen. – – –
Es war Vormittag, als Mine in Berlin eintraf. Die Gemeindeschule in der Pallasstraße war gerade aus, als sie hinterm Botanischen Garten anlangte. Sie war eilig hierher gelaufen; hier wußte sie so ein passendes Plätzchen, an dem sie oft mit den Müldnerschen Kindern gesessen. Bausteine lagen da, und die alten Bäume des Gartens schatteten über die Mauer.
Die Elßholtzstraße war so fein und ruhig, es rollten nicht viel Wagen, ein Kind kam nicht leicht in die Gefahr, überfahren zu werden. Lauter hübsche Häuser; ruhige, feine Leute wohnten darin, bei denen es ein Kind wohl gut haben würde. Der Botanische Garten hauchte gesunden Duft aus nach Erde und Grün, dieser Duft würde Fridchens Bäckchen schon röten.
Hier gefiel es Mine. Sie setzte sich mit Fridchen nieder. Lustige Kinder spielten in der Nähe, hatten kleine Gruben in den ungepflasterten Boden gemacht und ließen Murmeln hineinrollen; wie Schwalbengezwitscher schwirrten ihre Stimmen durcheinander.
Mine sah ihnen eine Weile zu. Dann setzte sie ihre Kleine auf den sonnenbeschienenen Boden, zwischen die Steine, daß sie nicht umfallen konnte, steckte ihr die Kuchenschnecke ins Händchen, die sie von den letzten Pfennigen gekauft, zog ihr sorglich den Mantel über die Beinchen, küßte sie auf die Stirn, sah sich scheu um und stahl sich dann fort.
Das kleine, geduldige Ding im schottischen Mäntelchen und der roten Ohrenmütze saß, stumm und steif wie eine Puppe, in der Sonne. – – – – – – – – – – – – – –
Und Mine rannte in die Straßen hinein, wie gepeitscht. Vor ihren Augen schwankte alles, ein fortwährendes Brausen und Summen war in ihren Ohren. Weite Strecken durchmaß sie, ruhelos umgetrieben in einer furchtbaren Aufregung.
Ob Fridchen schon gefunden war?!
Ach Gott, sie war ja eben erst von ihr weggegangen.
Und sie rannte weiter, immer weiter.
Ein Uhr! Zwei Uhr! Jetzt liefen die Kinder, die nach der Gemeindeschule mußten, wohl wieder dort vorbei. Damen kehrten von ihren Spaziergängen heim, und die Herren kamen aus den Bureaus zum Mittagessen; Fräuleins mit ihren Pflegebefohlenen verließen jetzt den Botanischen Garten. Alle wanderten dort vorbei; alle mußten Fridchen gesehn haben!
Ob sie weinte? Ach, jetzt würde sie wohl weinen, aber bald würde sie lachen. Ihre Mutter hatte doch gut für sie gesorgt. Wenn sie erst im feinen Kleidchen, satt und vergnügt, auf der Straße an der Mutter vorbeispazierte, würde sie es schon einsehen. Lieber Gott, das Kind würde seine Mutter ja gar nicht kennen – wie sollte es auch?! Und Mine fühlte einen Stich im Herzen.
Weit weglaufen, nur voran!
Ob Fridchen jetzt auch wirklich nicht mehr da saß?! So lange würde sie doch nicht haben warten müssen?! Die Zeit verging Mine nicht, jede Minute wurde ihr zu einer Ewigkeit. So oft sie auch nach den Uhren in den Schaufenstern sah, die Zeiger rückten kaum vor.
Wenn's doch schon später wäre! Aber warum denn so unruhig sein? Fridchen war ja längst gefunden, längst! Eine feine Dame war gekommen, eine Dame, die selber keine Kinder hatte; die hatte Fridchen aufgehoben, nahm sie an an Kindes Statt! – – – Ein eifersüchtiger Schmerz durchzuckte Mine dabei – die würde nun Fridchens erstes ›Mama‹ hören!
Sie war wie ausgetauscht, nicht mehr die nüchterne Mine; sie träumte sich hinein in ein Märchenglück für ihr Kind. Sie phantasierte.
Unruhig flackerten ihre Blicke. Wie sie so mit vernachlässigter Kleidung, todesbleich, durch die Straßen lief, faßte sie mancher Polizist scharf ins Auge. Leute drehten sich nach ihr um.
Jetzt war sie im Tiergarten. Da gingen geputzte Kinder mit ihren Wärterinnen, es spielten auch Buben und Mädchen auf dem großen Sandhaufen. Sie stellte sich dazu. Ein kleines Mädchen mit kurzen Strümpfen an den drallen Wädchen, mit wehenden Locken um das rosige Gesicht, lief gegen sie an. Ach, so sah auch Fridchen aus! Mine konnte nicht an sich halten, rasch bückte sie sich und faßte nach dem Kind; es schrie erschrocken und lief fort, und die Wärterin sah böse nach Mine hin.
Da floh sie. Immer tiefer ins Gebüsch, immer weiter ab von der Straße. Und doch hörte sie Kinderweinen, immerfort – immerfort.
Ihr überreiztes Ohr hörte hinter allen Bäumen, allen Häusern, allen Straßen, das Weinen ihres Kindes. – – – Da saß das arme verlassene Wurm auf dem öden Platz; auf sein schottisches Mäntelchen schien nicht mehr die Sonne, die hatte sich verkrochen; es war kühl. Wenn es sich erkältete, krank wurde?! Ach, nur die Mutter versteht, zu tragen, zu wiegen, zu trösten! Bei ihr nur wird es gesund, bei ihr nur kann es nicht sterben!
Eine furchtbare Angst ergriff Mine. Schweiß trat auf ihre Stirn. Die Kniee drohten unter ihr zu brechen, sie mußte sich auf eine Bank setzen.
Sie hielt sich die Ohren zu. Jetzt hörte sie das Weinen nicht mehr – war es tot?!
Ach, ihr war so angst, so angst, als hätte sie jemanden erschlagen!
Schon sprang sie wieder auf. Wohin –?! Spaziergänger schalten hinter ihr drein, Pferdebahnkutscher schrieen sie an, ein Schutzmann griff nach ihrem Arm. Sie riß sich los; sie, die sonst stets gezögert, den Straßendamm zu überschreiten, rannte jetzt quer über die Schienen weg, dicht vor den Wagen. So erschöpft sie war, sie konnte doch noch rasch laufen. Sehr rasch. Schon kam sie über den Platz mit der katholischen Kirche – jetzt an der Gemeindeschule vorbei – jetzt tauchten die Wipfel des Botanischen Gartens auf. Das Grün rauschte und winkte.
Sie wußte selbst nicht, wie sie sich hierher gefunden, durch unbekannte Straßen, so weit, weit her.
In die Elßholtzstraße einzubiegen, traute sie sich nicht; nur von ferne wollte sie lauschen.
An der Ecke, hinter der Mauer blieb sie stehen. Horch, war das nicht ein Stimmchen?! Sie lauschte mit aller Anstrengung, die Faust gegen das Herz gestemmt; es klopfte so.
Nichts! Das Stimmchen übertönt vom Rollen ferner Wagen, vom dumpfsummenden und doch die ganze Luft durchbrausenden Atem der großen Stadt.
Sie mußte näher gehen, nur einen Schritt! Nur einen Blick hin werfen, ob Fridchen noch da saß!
Der Atem flog ihr; noch nie hatte sie so gezittert, noch nie einen solchen Schmerz gefühlt. Sie stieß einen gepreßten Schrei aus – – – da – – – – da!
Halb irrsinnig vor Freude stürzte sie näher. Da saß Fridchen im schottischen Mäntelchen zwischen den Steinen!
Und als das Kind sie sah, verklärte sich sein müdes Gesichtchen; es streckte verlangend die Ärmchen aus und lallte verständlich, zum ersten Mal: »Mam – ma!«
Die Tränen gossen ihr aus den Augen, sie glaubte vergehen zu müssen vor Glück. Es sprach! Es sagte: ›Mama!‹ Ihr Fridchen, ihr liebes Fridchen!
Wie ein Wunder starrte sie das kleine Geschöpf an. Dann stürzte sie bei ihm nieder, riß es an die Brust und erstickte es fast mit glühenden Küssen. Sie schluchzte herzbrechend.
Nun fanden sich gleich Menschen dazu, viele, die vorher an der kleinen, stummen Kindergestalt achtlos vorübergegangen waren. Wie schon einmal auf der Straße, sah sich Mine als Mittelpunkt einer gaffenden, mitleidig neugierigen Menge.
Aber sie floh nicht scheu wie damals.
»'s is mein kleenes Mädel,« sagte sie stolz, nahm Fridchen auf den Arm und ging gelassen fort. Geraden Wegs zu Müldners; da waren ja so viel Kinder, da konnte das eine wohl auch noch bleiben. –
Herr Müldner kam heute besonders früh vom Bureau nach Hause; ehe er noch sein altes Zitz-Röckchen angezogen hatte, rief ihn seine Frau in die Küche.
Dort saß Mine, hatte ihr Kind auf dem Schoß und fütterte es mit in Kaffee geweichter Schrippe; das Kleine schluckte gierig. Mine sah blaß und elend aus. Frau Müldner hatte Tränen in den Augen; sie faßte ihren Mann unter den Arm, flüsterte ihm eifrig ins Ohr und wies auf das kleine gierige Geschöpf. Die ungenügend erzählte, halb herausgezerrte Geschichte der Magd hatte ihr Mutterherz tief gerührt.
Auch Herr Müldner war bewegt. »Sie können vorerst das Kind hier behalten,« sagte er. »Gewiß, diese Nacht. Dann müssen wir mal sehen, wo wir's unterbringen, ich –«
»Nur nicht wieder zu so 'ner fremden Person,« fiel ihm seine Frau ins Wort, »das arme Wurm! Nein, da war's zu gräßlich!«
Ihr Mann zog die Augenbrauen hoch und winkte ihr beschwichtigend zu. »Es gibt ganz ordentliche Ziehmütter, anständige Frauen, die sich auf diese Weise 'nen Nebenverdienst schaffen. Keine Engelmacherinnen, bewahre! Vielleicht läßt sich sogar eine hier in der Nähe finden, ich werde mich genau erkundigen; Marie, du wirst auch mal hingehen und –«
»Weggeben soll ich's?« Mine sah ihn starr an. Dann strich sie in plötzlicher Unruhe dem Kind die Härchen aus der Stirn und zupfte an seinem Kleidchen. »Wieder weggeben?! Ne, ne!« Sie streckte abwehrend die Hand aus, schauderte und wurde noch blasser.
»Aber, Mine!« Herr Müldner redete freundlich zu: »Seien Sie doch nicht töricht! Wenn wir's hier in der Nähe unterbringen, können Sie ja auch abends öfter mal gehen und nach ihm sehen.«
»Gewiß,« bestätigte Frau Müldner.
»Und Sonntags, wenn sie Ihren Ausgang haben, können Sie es sogar spazieren führen!« Er malte ihr das sehr schön aus und redete sich ordentlich in Eifer dabei.
Mine sagte kein Wort, sie sah ihren Herrn immer unverwandt starr an.
Er wurde etwas stutzig durch diesen Blick – Donnerwetter ja, aber Geld kostete es bei einer ordentlichen Ziehmutter! Und wenn man das nicht hat?! Ein Seufzer entrang sich ihm. Es klang recht kleinlaut: »Ja, und dann haben wir doch auch Waisenhäuser! I natürlich, dafür gibt's doch Waisenhäuser!«
»Fridchen is keene Waise,« sagte Mine finster.
»Na ja, ja, Sie, die Mutter, sind da. Ich meine auch nicht direkt Waisenhäuser – na, solche Anstalten! Sie sind protestantisch, nicht wahr?«
»Evangelisch.«
»Ist das Kind getauft?«
»Ne.«
»Aber warum denn nicht? Das kostet Sie doch keinen Pfennig, das kriegen Sie ja umsonst, Sonntag mittag in jeder Kirche!«
»Ich hatt keene Zeit. Erst war mer noch so schlecht, den dritten Sonntag war ich schon wieder in Dienst.«
»Hm, hm,« Herr Müldner kratzte sich hinterm Ohr – »nicht getauft? Dumm! Da wird's schwer halten. Aber ich will's doch versuchen. Ich habe Verbindungen. Irgendwo werden wir das Kind schon unterbringen.«
»Ne,« ein leichtes Rot stieg in Mines blasses Gesicht, »ne, ich geb's nich her!«
»Ach, was fällt Ihnen denn ein!« Müldner wurde ganz ärgerlich. »Seien Sie doch nicht so eigensinnig. Glauben Sie mir, solche Anstalten sind das Allerbeste. Die Kinder wachsen unter ihresgleichen vergnügt und ahnungslos auf. Ihre Eltern haben Sie doch nicht haben wollen – ›rausgeworfen‹ auf gut deutsch – was wollen Sie denn anders anfangen, als in Dienst ein?!«
»Ich geb's nich her!«
»Wir möchten sie doch so ungern verlieren,« rief Frau Müldner fast weinend.
»Ja, denn wird's wohl nich andersch sein,« sagte Mine eintönig, »denn wer' ich wohl gehn müssen.« Mit ihren matten Augen sah sie die Herrschaft traurig an; zugleich legte sich ein Zug von Trotz um ihren Mund. »Wenn Se mer nich behalten wollen! Ich geb's nich her.« Sie stand auf. »Herr Müldner, Frau Müldner, denn kündige ich Ihnen hiermit. Un denn will ich ooch lieber gleich gehen.« Sie machte ein paar wankende Schritte gegen die Tür.
»Halt, Mine, Unsinn.« Müldner faßte sie am Arm. »So ins Ungewisse werden wir Sie doch nicht herausrennen lassen!«
»Was geht's Ihnen an?!« murmelte sie.
Die Eheleute wechselten einen Blick.
»Wie schlecht Sie uns kennen!« sagte Frau Müldner sanft vorwurfsvoll. »Und Sie sind schon über ein Jahr bei uns!«
»Ja, da sind wir in der engen Wohnung so zusammengepfercht, wie Bücklinge in einer Kiste!« Müldner zuckte die Achseln. »Und doch! Wir kennen uns gar nicht. Sie hätten uns längst etwas sagen sollen! Wir hätten Ihnen gern geholfen.«
»Geholfen – Sie?!« Mine sah ihn groß und erstaunt an.
»Ja, warum denn nicht?! Hätten Sie mir nur was gesagt!«
Mit einem fast mitleidig spöttischen Lächeln schüttelte sie den Kopf. »Ne, das tut man doch nicht! Der Herrschaft –?! Ne.«
Müldner nickte. »Traurig genug.« Und dann wie zu sich selber sprechend: »Hätte ich nur Augen gehabt!«
Ein paar Minuten war's still in der Küche; sie standen alle drei und sahen stumm vor sich nieder.
Jetzt krähte Fridchen auf.
Herr Müldner blickte nachdenklich auf das Kind. »So ein armes, vaterloses Wurm!«
»O ne,« – Mine war förmlich beleidigt – »Fridchen hat 'nen Vater. Der is ooch da.«
»Was? So? Und das sagen Sie erst jetzt?!« Müldner geriet ganz außer sich. »Das ändert ja die ganze Sache!«
»Na, jawoll,« sagte Mine ruhig, »der Arthur, von Reschkes aus'n Grünkram!«