Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXI

Der Frühling war rasch gekommen, sieghaft über Nacht. Der Flieder, der auf dem Sand der Mark so gut gedeiht, stand schon in blaurötlich schimmernden Blütenknospen, und die Kastanienbäume hatten die Kerzen aufgesteckt. Der Himmel zeigte ein tieferes Blau, die Sonne ein wärmeres Gold.

Im Reschkeschen Keller herrschte immer noch graues Winterwetter.

Frau Reschke war in den letzten Wochen sichtlich zusammengefallen, nicht grade mager geworden, das Fett war geblieben, aber das Pralle war weg. Das Fleisch hing welk. Noch immer war Arthur nicht wieder da!

Schon dreimal hatten sie in den Lokalanzeiger setzen lassen:

›Arthur, kehre zurück, alles ist dir verziehen!‹

Er mußte es nicht gelesen haben. Und so scheuten sie die Kosten nicht und spendierten noch ein viertes und fünftes Mal. Weggeworfenes Geld!

Die immerwährende Spannung nagte an Frau Reschke, und wenn sie einmal die Geschichte mit Arthur ein bißchen vergaß, dann mußte sie sich über die Geschichte mit Trude schwach ärgern.

Sie hatte so fest auf die Verlobung mit Ladewig gerechnet. Verliebt schien der doch genügend, alle Sonntag hatte er stundenlang dagesessen und sich fetieren lassen! Aber als ihm Vater Reschke, auf die mehrfache Vermahnung seiner Frau hin, zu Leibe ging, hatte er Ausflüchte gemacht. Und als Mutter Reschke ihrem Mann zu Hilfe anrückte und Herrn Ladewig durch die Blume zu verstehen gab, daß er ihre Tochter stark kompromittiert habe und diese sich als seine Verlobte betrachten müsse, hatte er sich nicht mehr im Keller blicken lassen. Und auf einen Brief, den ihm die gekränkte Mutter in unumwundenem Deutsch schrieb, antwortete er einzig mit einer Bekanntmachung im Lokalanzeiger, die Reschkes unter Kreuzband zugeschickt erhielten:

›Meine Verlobung mit Fräulein Gertrud Reschke
erkläre ich hiermit als aufgelöst.

Hermann Ladewig,
Geschäftsinhaber zu Cottbus.‹

Das war zu viel! Frau Reschke brach fast zusammen. Von ihrer ewigen Redseligkeit hatte sie stark eingebüßt; Viertelstunden lang konnte sie in dumpfes Brüten versinken und hörte kaum, was die Käufer verlangten. Die Mägde fanden sie zu langweilig; ein Glück, daß Bertha da war, sonst wären sie alle abspenstig geworden.

Ja, wenn Frau Reschke die nicht gehabt hätte! Die war jetzt der rettende Engel; immer auf dem Posten, immer freundlich, immer wußte sie gerade das zu sagen, was die Leute gern hören wollten.

Sie hatte noch keine Stelle, sechs Wochen saß sie nun schon bei Reschkes herum, aber lieber wollte sie noch länger warten, als irgend etwas annehmen, was ihr nicht paßte. Oft war sie schon nach einem Dienst gewesen, aber stets mit einem langen Gesicht wiedergekommen. Wo man sie genommen hätte, gefiel es ihr nicht, und wo es ihr gefallen hätte, stieß sich die Dame an dem Zeugnis von Frau Selinger. Bertha mochte noch so betrübt die Augen niederschlagen und mit bebender Stimme versichern, wie sehr man ihr unrecht getan, wie schändlich die neidische Köchin sie angeschwärzt, das › nicht ehrlich‹ blieb. Das hatte dem Zeugnisbuch den Stempel aufgedrückt.

Anfänglich hatte sich Bertha weiter keine Gedanken darüber gemacht, es war ihr ganz recht, sich nach der ›Schinderei‹ wie sie sagte, ein wenig auszuruhen; sie wurde rundlich, wie eine Wachtel, von den vielen Schokoladepreßkohlen und Bonbons, die sie im Laden schleckte. Aber allmählich wurde sie unruhig, sogar ängstlich – würde das wirklich jetzt immer mit einer neuen Stellung so schwer halten? Auch fing sie an, des Kellers überdrüssig zu werden, zumal sie mit Trude nicht mehr zum Vergnügen gehen konnte.

Diese wurde von der Mutter jetzt streng bewacht. Teilnehmende Seelen hatten es Frau Reschke hinterbracht, daß Herr Ladewig sich dahin geäußert, er habe Trude sehr geliebt, er halte es aber mit ›seiner Stellung‹ unvereinbar, ein Mädchen seine Braut zu nennen, das mit jedem poussiere, sich abends von fremden Herren ausführen lasse – nein, mit fremden Herren ›rumtriebe‹, hatte er gesagt! Was sollten die in Cottbus sonst wohl denken?!

So sehr sich auch Trude verteidigte und die Ohrfeigen der Mutter mit einer Miene beleidigter Unschuld hinnahm, so sehr auch Frau Reschke im Grunde ihrer Seele überzeugt war, daß nichts als Neid und gemeine Niedertracht die Verlobung hintertrieben, so wachte sie doch jetzt über der Tochter. Mit unerbittlicher Strenge hielt sie darauf, daß Trude sofort aus dem Geschäft nach Hause kam; wehe ihr, wenn sie eine Minute Luft geschnappt hatte! Dann regnete es Scheltreden und Vorwürfe und Ohrfeigen. Sie setzte ihr Elli zur Aufpasserin, und das kleine Ding sah etwas, wo gar nichts zu sehen war, und verriet die Schwester um eine Handvoll Gerstenzucker.

Wie eine Pflanze, die man aus fetter Erde in einen Topf mit Sand gesetzt hat, verkümmerte Trude. Blutleer und verdrossen saß sie abends nach Geschäftsschluß zu Hause, an dem mit zerrissener Serviette bedeckten Tisch, und bückte sich tief über die feine Handarbeit. Sie hatte geschickte Finger, da hatte die Mutter denn gleich ein weißes Kleidchen für Elli angeschafft, das sie mit reicher Stickerei versehen mußte. Und Hemden- und Hoseneinsätze für die eigne Ausstattung sollte sie auch arbeiten.

Im stillen hoffte Frau Reschke immer noch – vielleicht, daß sich Ladewig doch wieder anfand! So hoffte sie auf zwei Flüchtlinge.

Oft ließ Trude mit einem verzweifelten Seufzer die Arbeit in den Schoß sinken, stampfte mit dem Fuß, und ihre Blicke voll brennenden Glanzes irrten an den düstren Wänden auf und nieder. Draußen war Frühling, warmer himmlischer Frühling. In den Zelten Musik, – im Tiergarten gingen die Pärchen spazieren, – – – und sie mußte im dumpfen Keller sitzen! Sie hob die Arme, wie ein gefangener Vogel die Kraft seiner Schwingen prüft. Im Käfig! Selbst Sonntags.

Auch Bertha war der Sonntag gestört; sie hatte stark auf Trude gerechnet, denn ihre meisten Bekannten waren verzogen, durch den großen Ziehtag, den 1. April, in alle vier Winde versprengt. Wer konnte denen nachlaufen, nach Moabit, nach Pankow, oder Gott weiß wohin?!

Die stolze Auguste war plötzlich vom Rechtsanwalt fort, man munkelte, wegen einer Durchstecherei mit dem Schlächter. Die bleichsüchtige junge Marie von Rentiers hatte rasch heiraten müssen, einen Witwer noch dazu, der schon drei Kinder hatte. Die blasse Minna von Doktor Ehrlich war wieder in der Charité.

Es war nichts mehr in der Gegend los. So war Bertha froh, als sich endlich zum 1. Juni die Stelle der Köchin, Kammerjungfer und Duenna in einer Person, bei einem Fräulein Schmettana bot, einer jungen schönen Dame, die mit seidnen Unterröcken raschelte und, wie sie sagte, auf Engagement wartete. Der Lohn war nicht besonders hoch, aber es sollte viele Trinkgelder geben. Und vor allen Dingen kam es Bertha darauf an, in ein ganz andres Viertel, in die Friedrichstadt, zu kommen, hier aus der Gegend heraus, die sie über und über satt hatte.

Frau Reschke, die die weite Entfernung schreckte, redete ihr zwar sehr ab: so 'ne Schauspielerin sei doch eigentlich gar keine richtige Herrschaft, die würde später andre wirkliche Herrschaften abschrecken, und so weiter. Aber Bertha sagte: »Ich pfeif drauf!« Nur fort! Immer mußte man hier über die Potsdamerstraße, und sie konnte nicht am Selingerschen Hause vorbeigehen, ohne daß ihr das Blut zu Kopf drängte und ein eigentümlich bittrer Geschmack auf ihre Zunge trat. Dann ballte sie ihre Faust in den Falten des Kleides – die Alte hatte ihr schön was eingebrockt!

Den letzten Sonntag im Mai wußte Bertha gar nicht, was sie mit sich anfangen sollte; es regnete, auch hatte sie keinen Pfennig Geld mehr – ausgepumpt bis aufs letzte. So kam es, daß sie zu Mine ging.

Sie mußte lange suchen, bis sie das richtige Haus fand; hier draußen sagten sich ja Hasen und Füchse gute Nacht! Kein Mensch wußte, wo die Mathilde wohnte; den Nachnamen kannte sie gar nicht.

»Mathilde? Mathilde heißt se?« sagten lachend ein paar Männer, die in Hemdärmeln unter einem großen Torflur standen und rauchten. »Wer kann die Mächens alle behalten?!«

Pfui, rohe Kerle! Nur Arbeiter! Bertha rümpfte das Näschen.

Endlich wiesen die Kinder, die trotz des Regens auf dem Hof spielten, sie zurecht.

Ihren tropfenden Schirm wie einen Speer vor sich streckend, stieg sie die vielen Treppen hinan, die, obgleich das Haus noch neu, schon abgetreten waren von den unzähligen eilenden Füßen.

Oben im vierten Stock stand sie, atemschöpfend, still – so hoch zu klettern, das war man doch Gott sei Dank nicht mehr gewohnt! Aufs Geratewohl klopfte sie an eine der vielen Türen.

»Herein.« Das war Mines Stimme!

Richtig, da saß sie auch am Fenster und strickte! Und ihr gegenüber auf dem Schließkorb kauerte Mathilde, die Ellbogen auf die Kniee gestemmt, den Kopf zwischen die Hände gelegt, und sah verträumten Blicks auf ihren Myrtenstock; sie mußte das Klopfen und Mines ›Herein‹ gar nicht gehört haben. Jetzt fuhr sie auf und stieß einen leisen Schrei aus: »Jottchen, ich dacht – ach, Sie sind's, Fräuleinchen!«

Mine zeigte eine ungeheuchelte Freude über Berthas Erscheinen. »Ne, daß de mer besuchen kommst, das is wahrhaftig scheene von der! Setz der, Berthchen!« Sie drückte die Freundin auf den Stuhl nieder, nahm ihr den nassen Schirm ab und wischte ihr sorgfältig die Tropfen vom Kleid. »Daß de dir nischt rujenierst!«

»Laß nur,« wehrte Bertha, »schad't nischt! Das 's noch lange nich mein bestes!«

»I, da wer' ich wohl en Kaffeechen machen sollen,« sagte Mathilde. »Fräuleinchen, Se trinken doch e Täßchen?«

»Ich bin so frei.« Kritisch beobachtete Bertha, wie wenig Bohnen Mathilde nahm; desto mehr Zichorie. Das würde ein schöner Kaffee werden! Mit einem mitleidig-geringschätzigen Lächeln sah sie sich um – wie erbärmlich das hier war! Nein, so zu wohnen, brrr!

Mine fing den Blick auf, aber sie deutete ihn anders. »Gelle, hier is 's scheene?! Ich kann der'sch garnich sagen, ich fühl mer hier wie im Himmel. So gutt is mer'sch lange nich gegangen. So ganz für sich. Mer ruht sich mal so rechte! Wenn nur das eene nich wär!«

»Na, is 's denn bald so weit?« forschte Bertha. »Na ne, das darfste dir nu nich so zu Herzen nehmen! Das hättste früher bedenken sollen!«

»Das is es nich, das is es nich,« sagte Mine traurig und verbarg das Gesicht mit der Hand.

»Nu weint se wieder, die dumme Marjelle,« murmelte Mathilde, »und sie weiß es doch nu jenau – das Buchchen sagt wahr – se kommen wieder zusammen. Aber freilich, jlauben muß der Mansch. Wer's nich jlaubt, bei dem trifft's nich ein.«

»Ich glaub's nich,« wimmerte Mine. »Hab ich ihm nich gleich geschrieben, gleich den erschten Tag, er soll mer besuchen?! Un ganz genau de Adresse! Un denn noch mal 'nen Brief! Un er is nich gekommen. Nich mal geschrieben hat er! Un er weeß doch, wie's mit mer steht!«

»I,« tröstete Mathilde, »er kommt. Aber nei, wie kann man bloß so unjeduldig sein – die paar Wochen?! Wer weiß, was da – da oben« – sie machte eine unbestimmte Handbewegung – »für Konschtellatschonen sind! Auf seinem Weg liegt ein Stein. Noch kann er nich drieber wech. Aber er kommt. Er kommt so jewiß, wie daß de Welt unterjeht, wenn die sieben Plagen um sind. Eine haben wir schon: die Influenzia!«

Bertha lachte: »Quatsch!«

Mathilde riß die verträumten Augen weit auf. »Ach nei! – Aber so was müssen Se nich sagen! Wenn Se alles wüßten, was Ihnen bevorsteht! Ich sag Ihnen, da lachten Se nich mehr.«

Sie war so ernsthaft, sprach so feierlich, daß Bertha aufhörte, zu lachen. Ein leiser Schauer überlief sie. Was sollte ihr denn bevorstehen?! Hoffentlich viel Gutes! Die war ja halb verrückt! Mit einem Ruck schüttelte sie die Beklemmung ab; und als sie sah, daß Mine noch immer weinte, flüsterte sie neugierig Mathilde zu, indem sie auf Mine hinzwinkerte: »Wer is es denn? Sagen Se doch!«

»Ne!« Mine fuhr auf und legte hastig Mathilde die Hand auf den Mund. »Nich sagen! Ne, ne, keener brauch's zu wissen, se sollen ihn nich schlecht machen! Ne, ne! Ich will's nich haben!« Sie war sehr rot geworden und fast heftig.

Bertha war beleidigt. »Das ist aber nich schön von dir, daß du so hinterhältig bist gegen mich, deine Freundin!«

Mine war schon besänftigt, sie faßte Berthas Hand. »Du mußt mer's nicht verübeln, Berthchen, aber wenn ich denk, 's red't eener über ihn, is mer'sch so leid. Ne, ne! 's is nu mal nich andersch, ich sitz drinne. Ich denk nu ooch gar nich weiter. Ich denk gar nischt. Ich ruh mer aus.«

»Aber ne, du kannst doch nich so in 'n Tag reinduseln,« rief Bertha. »Was denkste denn, das erste Kind is keine Kleinigkeit! Meine Mutter sagt immer: ›'s zweite is Spielerei dagegen‹ – wer's glaubt! Haste dir denn schon umgetan, wo de hingehst?«

»Ich –? Kann ich denn nich hier bleiben?« Mit einem hilflosen Blick sah sich Mine um. »Ach, 's wird schon nich so schlimm sein!«

»Was du weißt! Mehr als ein Mädchen war wegen den Ersten bei uns. 's is ja der Mutter ihr bester Verdienst. Haste's denn nich in de Zeitung gelesen? 's gibt hier auch so 'ne. Mer muß sich nur umtun. Wer ordentlich zahlen kann, dem bringen se auch 's Kind unter. Un für Unbemittelte noch 'ne besondere Vergünstigung: wenn de sechs Wochen vorher de Hausarbeit machst, behält se dich denn, glaub ich, de neun Tage umsonst da; oder auch nur sieben, das weiß ich nich so genau. Vielleicht mußte auch noch was zuzahlen, aber nur 'ne ganze Kleinigkeit. Un keine Meldung in die Heimat!«

»Wird 's denn sonst gemeld't!«

»Na und ob! Was denkste denn? Standepe!«

Mine erschauerte. Ihr Gesicht wurde leichenblaß und dann glühend rot. Krampfhaft schloß sich ihre Hand um Berthas Arm. »Gemeld't, sagste, nach Hause? O Jeses! Un da wird's nich gemeld't? Wahrhaftig nich! Sag doch!«

»Ne.«

Mine machte eine Bewegung, als wolle sie gleich auf und davon laufen. »Da geh ich hin – ja, denn geh ich!« Verstört sah sie sich um. »Nur nich nach Haus melden! Ach Gotte, da wer' ich mer nur wieder ufmachen. Un hier war'sch so gutt!« Die Stimme erstickte ihr, sie warf sich die Schürze über den Kopf.

Bertha fühlte Mitleid – nein, war die dumm! Sie versprach, sich morgen, wo sie noch frei war, nach einem solchen Platz umzusehen.

Das beruhigte Mine. Und wenn auch das Verlassensein unter Fremden jetzt wieder drohte und ihr einen dumpfen, fast körperlichen Schmerz verursachte, so trank sie nun doch ihren Kaffee. Sie trank ihn sogar mit Genuß. –

Nach und nach wurde sie ganz vergnügt. Gemütlich saßen sie um den Tisch; Bertha auf dem Stuhl, Mine und Mathilde auf dem Schließkorb. Ein weichgraues, mildes Frühlingslicht beschien sie durch das dünne Gardinchen des Fensters. Aus der Dachrinne tröpfelnd, machte der Regen eine eintönige, sanfte Melodie.

Bertha, die eine helle Stimme hatte, fing an zu trällern. Mine, die schon in der Schule einen kräftigen Alt hatte halten können, wollte nicht zurückbleiben. »Singen mer was!«

Aber alles, was Bertha vorschlug, war Berliner Singsang, und Mine schüttelte den Kopf. Sie konnte nur die Lieder, die sie zu Hause sangen, die Geschwister abends auf der Türschwelle, die Burschen und Mädchen, wenn sie in langer Reihe Feiertags auf der Chaussee spazierten.

Mit aller Macht setzte sie ein:

»Was stell'n sich die Soldaten auf?
Was eilt das Volk so wild zu Hauf?
Gar finster blickt der Kommandör
Hinab zum jungen Desertör.«

Das war immer ihr Leib- und Magenlied gewesen; und auch Bertha konnte nicht widerstehn, sie fiel ein. Langgezogen und schallend sangen sie das Lied zu Ende:

»Zum Tode geht's, ich hab's gewußt,
Lebt wohl, ihr Brüder, hier die Brust!
Stillschweigend winkt der Kommandör –
Ein Jünglingsherz, es schlägt nicht mehr.«

Und andre Lieder folgten, die Mathilde nun auch mitsang.

›In des Waldes tiefsten Gründen‹ – ›Fern im Süd das schöne Spanien‹ – ›Wenn die Schwalben heimwärts ziehn‹ – ›All Abend, bevor ich zur Ruhe geh‹ – ›Ob sie wohl kommen mag am Allerseelentag?‹ –

Sie konnten sich gar nicht genug tun; immer wieder stimmten sie neu an. Schrill und überlaut füllte der Gesang die kleine Stube und zeterte hinaus, weit die Treppe hinunter.

Ein Erinnrungsrausch hatte sie alle drei ergriffen; mit jeder neuen Melodie steigerte sich der. Das hatten sie alle drei gesungen, als sie noch nicht in Berlin waren: das war auf der Dorfstraße erklungen in der stillen Nacht unterm sternbeflimmerten, weiten Himmelszelt.

Bertha hatte sich hintenüber gelehnt, kippelte mit dem Stuhl und schmetterte, die Arme über der Brust gekreuzt, leuchtendes Rot auf den jugendlichen Wangen, aus voller Kehle.

Mathilde, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, den Kopf in die Hände gestützt, summte mit, sich unausgesetzt hin- und herwiegend.

Mine saß still und sah in ihren Schoß. Sie fühlte sich innig gerührt, als sie zum Schluß sangen:

»Wie die Blümlein draußen zittern,
In d'r Abendwinde Wehn,
Und de willst mer's Herz verbittern,
Und de willst schon wieder gehn?«

Ihre Stimme schlug unfreiwillige Triller bei dem:

»O bleib bei mir und geh nicht fort,
An meinem Herzen ist der schönste Ort!«

So gut hatte sich Mine noch nie amüsiert. Auch Bertha war vergnügt, von einer aufgeregten Lustigkeit. Sie ließ nicht ab, Mathilde mußte ihr ›Buchchen‹ hervorholen, das sie, zusammen mit ihrem Zeugnisheft, verschiedenen bunten Gratulationskarten und wenigen vergilbten Briefen, in ein spitzenbesetztes Taschentuch – ihr Hochzeitstuch! – eingeschlagen, verwahrte.

Sie zeigte keine große Lust, das Buch zu befragen. »Es läßt nich unjestraft Spaßerei mit sich treiben,« sagte sie und warf mißtrauische Blicke auf Bertha.

Aber diese zwang sich die ernsthafteste Miene auf. »Man los, los,« quälte sie. »Fragen Se man für mich! Krieg ich Geld? Hunderttausend Taler? Alle Tage Kuchen? En Schloß, schöne Kleider? Was sonst noch?«

Mathilde wehrte sie unwillig ab. »So was sagt's Buchchen nich! Warten Se's man ab. Aber ich sag Ihnen jleich, Sie haben's ja nich anders jewollt.« Mahnend hob sie den Finger.

Nun traf sie ihre Vorbereitungen. Der Regenabend dämmerte früh, sie hing noch ihren Schal vors Fenster, da ward es dunkel. Zwei Lichter, in Flaschen gesteckt, stellte sie auf den Tisch, legte das Buch in die Mitte und stand eine Weile davor mit andächtig erhobenem Blick.

Als Bertha sie etwas fragen wollte, legte sie den Finger auf die Lippen. »Pst!« Ein entrückter, gänzlich zerstreuter Ausdruck überzog ihr Gesicht.

Jetzt flüsterte sie geheimnisvoll: »Denken Se an das, was Se gern haben möchten – noch mehr denken, immer noch mehr! So, nu wer' ich mal fragen.«

Bertha hielt ganz still, als Mathilde ihr eine Haarnadel aus den Flechten zog. Sie wagte nun doch nicht zu lachen.

»So, immer dran denken – denken – jetz!«

Mathilde stach mit der Haarnadel blindlings zwischen die Seiten des Buches, und dann schlug sie die also getroffene Seite auf. Feierlich las sie:

»Glück und Glas, wie bald bricht das!

Ein ehrlicher aber armer Mann (ehrliches aber armes Mädchen) liebt Sie. Stoßen Sie denselben (dieselbe) nicht zurück, um dem rollenden Rad der launischen Fortuna nachzujagen. In seinen (ihren) Armen werden Sie sicher sein vor Ungemach.«

»Na so was!« Bertha war ärgerlich. »Da is der olle Peters mit gemeint! Davon will ich doch gar nischt wissen!«

»Ja, denn haben Se eben nich ans Richtige jedacht,« sagte Mathilde achselzuckend. »Mein Buchchen sagt wahr. Nochmal? Na, aber nu tüchtig dran denken!«

Wieder senkte sich die Nadel zwischen die Seiten. Die Hand auf die Tischplatte gestützt, den Oberkörper vornüber geneigt, gab Bertha acht. Wie würde ihr Schicksal sein?! Sie war nun doch sehr neugierig.

»Ach, sehen Se wohl,« triumphierte Mathilde, »nu wird's schon stimmen.« Und sie las:

»Die Sonne des Glücks lächelt Ihnen, alle Ihre Wünsche werden sich erfüllen. Aber hüten Sie sich vor dem schwarzen Herrn (der schwarzen Dame). Treten sie ihm (ihr) nicht zu nahe, er (sie) wäre Ihr Verderben. Es liegt noch ein Stein auf Ihrem Wege, aber verzagen Sie nicht! Räumen Sie ihn mutig aus dem Wege, und ein Leben voller Freuden, das herrlichste Glück erwartet Sie.«

»Also 'n schwarzer Herr?« überlegte Bertha. »Wer mag denn das sein? Ob der Leo gemeint is?«

»'s kann ja auch 'ne Dame sein,« sagte Mathilde und schlug das Buch zu.

Aber Bertha gab sich noch nicht zufrieden, sie quälte Mathilde und fragte neugierig nach diesem und jenem. Zuletzt auch nach Arthur Reschke. »Fragen Se man bloß, Mathilde: Was macht der Arthur?«

Mine, die bis dahin still und ziemlich teilnahmlos auf dem Schließkorb gesessen, horchte auf. »Was willste denn vom Arthur?« fragte sie.

Bertha lachte. »O ich, nischt! Aber wissen möcht ich, wo der Bengel jetz steckt! Fragen Se los, Mathildchen!«

»Wer – wo steckt – der Arthur?!« Mine war aufgestanden und starrte mit großen Augen Bertha an.

»Na ja, der Rumtreiber! De Olle wird schon ganz dammelig drüber. Weißte denn nich, daß der sich Anfang April dünne gemacht hat! Ach ne, du weißt es ja nich, du darfst dich ja jetz nich in'n Keller sehen lassen – die Tugendspiegel, haha!«

»Aber der Arthur – wo – wo is der?«

»Futsch! Eines schönen Tages ausgerückt!«

Mine stieß einen zitternden Seufzer aus.

»Un die Ladenkasse hat er mitjehn heißen! Allens total ausgeräumt. Darüber red't die Olle natürlich nich, aber Ellichen hat's mer erzählt. De ganze Ladenkasse, an die hundert Mark! Haha!«

»Gestoh–len?!«

Das war ein gellender Schrei! Mathilde sprang erschrocken zu, Mine war totenblaß geworden und schwankte. Schwer setzte sie sich nieder auf den Schließkorb. Ihre Lippen waren ganz weiß geworden.

Jetzt sagte sie zittrig: »Hab ich mer erschrocken,« und warf zugleich Mathilde einen flehenden, Schweigen heischenden Blick zu.

Bertha schwatzte weiter: »Na, das 's 'ne nette Geschichte! Ne, du bis wahrhaftig aber gutmütig, Mine! Deine Verwandtschaft is weeß Gott nich so liebenswürdig zu der. An den Bengel is ja nischt!«

»De Tante tut mer doch sehr leid,« flüsterte Mine und senkte den Kopf tief auf die Brust. So saß sie stumm und hörte, was Bertha noch berichtete. Diese malte den Schmerz der Reschke, das Schicksal des verlorenen Sohnes, mit einer gewissen Wollust, in recht grellen Farben aus.

Es war eine Erlösung für Mine, als Bertha sich verabschiedete. Teilnahmlos reichte sie ihr die Hand; nur als die andre schon auf der Schwelle war, fiel's ihr noch einmal ein: »Bertha, du! Vergiß 's ooch ja nich! Du weeßt schon, bei de Frau, de Stelle for mer! Um Gotts willen, tu der um!«

»Ja, ja!« Bertha nickte und lächelte.

Und Mine nickte und lächelte wider. So lange behielt sie ihre Fassung, aber als die Tür sich hinter Bertha geschlossen hatte, wankte sie auf das Bett zu, warf sich schwer nieder und verbarg den Kopf in dem Kissen. Gestohlen –?! Das war ein Todesschreck. – –

Bertha kam guter Laune nach Hause. ›Alle Ihre Wünsche werden sich erfüllen, die Sonne des Glücks lächelt Ihnen‹ – das war nicht ohne! Vergnügt summend wollte sie eben ins Tor schlüpfen, da prallte sie gegen eine Dame. Lautlos war die plötzlich aufgetaucht, wie ein dunkler Schatten. Ein strafender Blick traf Bertha.

Huh, war das ein langes, dürres Gestell! Bertha rieb sich die runde Schulter, an der sie noch den Stoß jener spitzen Knochen fühlte.

Unten im Keller hörte sie, das sei Fräulein Haberkorn gewesen, die reiche Rentiere oben im zweiten Stock, die sehr fromm war und sehr wohltätig. »Aber doch geizig,« sagte Frau Reschke. »Hier in 'n Keller kommt se fast jarnich; ik weeß nich, wovon die lebt! 'n Mächen hat se ooch nich. Wenn se mal zu uns kommt, denn immer in de Schummerstunde, un denn packt se for'n Sechser Mohrrüben in ihre olle verschuppte schwarze Ledertasche!«

Die ganze Nacht träumte Bertha von Fräulein Haberkorns strafendem Blick und ihrer alten schwarzen Ledertasche. –

Auch Mine träumte, wilde, beängstigende Träume, aus denen sie plötzlich jäh erwachte.

Es mochte gegen Morgen sein, ein bleicher Schimmer des sich lichter färbenden Himmels fiel gerade auf das Bett. Ihr war sehr schlecht. Von einer peinvollen Angst getrieben, stand sie auf, tappte mit bloßen Füßen an ihren Korb und suchte ihre notwendigsten Habseligkeiten zusammen, – daß sie nur ja alles beisammen hatte, wenn sie zu so einer Frau mußte! Sie fühlte es: ein ungeheures Etwas bereitete sich in ihr vor.

Ein schrecklicher Frost trieb sie wieder ins Bett zurück. Da kauerte sie, halbaufgerichtet, in kalten Schweiß gebadet, die Kniee krampfhaft heraufgezogen, die Ellbogen an die Seiten gepreßt, mit verzerrtem Mund. Als die Sonne kam, weckte sie Mathilde, die ruhig neben ihr schlief. –

Ein Sonnentag war angebrochen, ein letzter Maitag, so warm, so golden, daß der Sommer schon da schien mit reifender Fülle. Es wurde drückend heiß. Die wilden Akazienbäume am Tempelhofer Feld, die des Morgens noch in Knospen gestanden, blühten am Mittag.

Als der Sonnenball sich endlich neigte und ein erlösender Lufthauch die Schwüle des Tages milderte, ertönte oben in Mathildes Kammer ein dünnes, schmerzliches Stimmchen – der erste Schrei!

Es war ein Mädchen.


 << zurück weiter >>