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47.
Die weiße Jungfrau Aurine.

(Bei Stolberg.)

Jetzt heißt der Berg »Josephshöhe,« hieß aber früher »Auerberg.« Da steht ein uralter Turm oben, in dem einst eine Gräfin von Stolberg eines Kindes genas. Das Kind wurde aber nicht anerkannt, weil es nicht im Hause geboren war, und wurde sogleich zur Erziehung ins Kloster gegeben.

Die unglückliche Mutter nannte das kleine Mädchen »Aurine« und ließ ihm alles Gute angedeihen. Es wuchs zu einer schönen Jungfrau heran und wurde gar Äbtissin auf dem Klosterköpfchen. Aber die Waldeinsamkeit und frommer Dienst standen ihr nicht im Sinn; sie fühlte sich durch ihr Schicksal um ein glänzendes Leben in der Welt betrogen und bekam einen harten, herrschsüchtigen Willen.

Mit Ärger und Mißmut sah die Äbtissin Aurine auf das einfache Volk im Tal und in der Stadt. Mit List und Gewalt lockte sie arglose Mädchen an die Mauern des Klosters und ließ sie darinnen einsperren. Eine Bäckerstochter ließ sie sogar vom Polterabend weg verschleppen und zum Klosterleben zwingen. Als sie aber gewahr wurde, daß die Bäckersmaid eine junge Mutter war, verfuhr sie sehr böse mit ihr.

Ein Handwerksbursche der von Breitenstein nach Stolberg wanderte, war Zeuge, daß das arme Mädchen mit seinem kleinen Kind auf offner Straße lebendig zu Grabe getragen wurde. Die Äbtissin hatte alles wie zu einem richtigen Begräbnis herrichten lassen und ging selbst hinter dem Sarge her. – –

Am schlimmsten wurde es mit ihr, als Aurine selbst einen Liebhaber fand, der sie aber doch nicht befreien konnte. Er starb bald und wurde von acht Trägern über die Sargwiese gebracht und beim Chausseehaus beigesetzt. – –

Längst sind die Mauern des Klosters zerfallen und über jene Zeit die Jahrhunderte dahin gegangen. Aber ewig unerlöst wandelt Aurine als weiße Jungfrau über das Klosterköpfchen und die Sargwiese und dringt zuweilen bis nahe an die menschlichen Wohnungen heran.

Der Holzhauer Valentin Striegnitz wurde einmal abends von einem weißen Spitzchen bis aufs Klosterköpfchen gelockt, wo die Jungfrau stand und ihn flehentlich bat, sie zu erlösen. Sie sagte ihm, er müsse dazu unter dem alten Turm zwölf Tonnen Gold loshacken und in drei Teile bringen. Einen Teil für sich selbst, einen für die Armen, und den dritten für das Waisenhaus. Dann bekäme er sie zur Frau.

Striegnitz aber wollte davon nichts wissen. Ob ihm die Arbeit zu schwer schien, oder ob er nicht der Mann Aurinens werden wollte, hat niemand erfahren. Aber noch lange Zeit kam die weiße Jungfrau nachts an das Haus des Valentin. Immer mit der gleichen Bitte.

Als sie sogar einmal bis an sein Bett kam, ist er krank geworden und schnell gestorben. Seitdem hat sie keinen Menschen mehr angesprochen, schwebt aber zur Nacht immer noch klagend über das Klosterköpfchen und die Sargwiese.

* * *


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