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8.
Das Tidiansgold.

(Am Falkenstein.)

Unweit des alten Grafensitzes Falkenstein liegt die Tidianshöhle. Niemand kann wissen, was darinnen ist. Ob sie noch das viele gute Gold, das einem Schäfer einst das Augenlicht gekostet hat, birgt, oder ob ein Falkensteiner nach des Schäfers Tod einmal dessen Knochen gefunden hat und damit den Schlüssel fand zur Öffnung der Höhle und zur Eroberung des vielen Goldes, von dem der Schäfer nur drei Klumpen an sich nahm, die sein Verderben werden sollten. Die Höhle liegt verschlossen und von Graswuchs überwuchert, aber an schönen Sommertagen noch überglänzt von lichten Sonnenfäden, umsprungen von weichem Windhauch, der mit Bäumen und Gräsern spielt, wie einst.

Einst weidete hier ein Schäfer seine Herde in des Grafen Dienst. Es war ein friedlich schöner Johannistag, und die Bäume und Gräser sangen das feine Lied des Sommerwindes, die Sonne spann ihre goldenen Fäden und ließ eine rote, seltsame Blume bestechend aufleuchten und dem Schäfer so lange in den Augen tanzen, bis er sie schließlich, einer dunklen Stimme von innen folgend, mit bebender Hand brach.

Da klaffte der Eingang der Höhle, vor der die Blume stand, wie von Geistermacht berührt, weit auf und lud den erstaunten Schäfer zum Eintritt in einen ganz mit Gold gefüllten Raum ein. Scheu blickt sich der arme Mann um, birgt die Wunderblume sorgfältig in seinem Gewand und packt zögernd drei Klumpen des feinen Goldes in seine Brottasche. Als er hinausgeht, schließt sich die Höhle wieder von selbst. Tritt er aber mit der Blume in der Hand vor den Eingang, dann springt er sogleich wieder auf.

Erst nach Tagen vermag der Schäfer das Glück seines Geheimnisses zu fassen, er verkauft das Gold an den Goldschmied in der Stadt, dem er vertraut, daß es aus der Tidianshöhle stamme, aber nicht wie er dazu gekommen. Unglücklicherweise hat der Graf alsbald für seine Schwester einen Brautschmuck zu beschaffen, den er bei eben dem Goldschmied bestellt, der ihm versichert, er werde das feinste Tidiansgold verarbeiten. »Tidiansgold?« der Graf zieht sinnend die Brauen zusammen. Dann sucht er ohne Aufsehen den Ursprung des Goldes zu erfahren und reitet nach Hause.

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Nächsten Tages läßt er den Schäfer zu sich rufen und geht mit ihm hinaus auf die Weide, führt ihn an die Höhle und forscht, scheinbar ganz nebenhin, ob sein Schäfer etwas von dem Gold wisse. Es sei ihm nicht daran gelegen, doch möchte er niemanden sonst vertrauen, wie er den Eingang fände. Der Schäfer nimmt sogleich die Blume in die Hand, dem Eingang zuzuschreiten, da erspäht er auf des Grafen Antlitz ein böses, lauerndes Lächeln, errät sogleich die Gefahr und bietet dem Grafen die Teilung des Gewinnes an, da er ja der Herr der Höhle sei, er selbst aber den Schlüssel zu ihren Schätzen habe. Der Graf springt rasch hinzu, die Blume zu erfassen, und verrät seine böse Absicht, der Schäfer aber hat im gleichen Augenblick mit raschem Griff die rote Wunderblume zerfetzt und stampft die zarten Blätter wütend unter den Fuß.

Tags darauf ließ der Graf den Schäfer des Augenlichtes berauben und stieß den Geblendeten aus Dienst und Land. Irgendwo mag der Arme sein elendes Leben beendet haben, niemand weiß davon zu berichten, aber dem Grafen und seinem Geschlecht ward auf geheimnisvollem Wege Kunde, daß keine Macht der Erde würde die Tidianshöhle öffnen, es sei denn, daß ein Falkensteiner die Knochen des längst verschollenen Schäfers fände und dort in Ehren bestatte, wo die Wunderblume unter seinen Füßen zu Staub zerfallen sei.

Wohl schickten die Grafen vom Falkenstein ihre Knechte in alle Welt, nach dem Schäfer und seiner letzten Stätte zu forschen, doch kamen alle so klug nach Hause, als sie hinausgezogen waren. Nimmer wird einer wieder die Tidianshöhle öffnen können, kein Graf wird seinen treuen Schäfer in ewige Nacht und Not stoßen, kein Schäfer wird geheimen Reichtum mit dem kostbarsten Gut des leiblichen Lebens bezahlen müssen. Der Fluch des Goldes aber lebt fort und findet seine Höhlen, Grafen und Schäfer zu allen Zeiten.

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