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Die große Nacht ...

Zum erstenmal, Friedrich Peschke, darfst du auf der Jagd nach menschlichem Großwild der Weltstadt dabeisein! Sonst müllerst du friedlich auf deiner Verkehrsinsel. Jetzt siehst du, wie man vorsichtig zweibeinige Raubtiere einlappt, wenn Berlin unter dem Sternenhimmel dunkelt und der gute Bürger sich allgemach zu Bette gähnt.

Er würde nichts Auffallendes bemerken, um das Bankgebäude Wiebeking herum, der gute Bürger. Das liegt stumm und verschlossen. Draußen patrouilliert der Wächter mit seinem Hund. Die Fensterfronten zu beiden Seiten schlafen mit herabgerollten Läden hinter ihren Eisengittern. Auch die Kraftradhandlung Matthias Wanner hat heut keine dringenden Reparaturen. Sie macht keine Nachtschicht und keinen Lärm. Sie ruht in Frieden.

Er würde auf den menschenleeren Straßen dieser stillen Stadtgegend nichts Auffallendes bemerken – der gute Bürger. Ab und zu ein Vorübergehender. Ein verlorenes Mädchen. Ein Pärchen im Dunkeln.

Er würde in den Häusern nichts Auffallendes bemerken, der gute Bürger. In den wenigsten noch Licht. Die Scheiben des großen Bierrestaurants, eine Straßenecke weiter, leuchten noch hell in die Nacht. Drinnen sitzen spärlich die Gäste. Ein Ehepaar aus der Provinz dicht am Fenster. Ein rauchnebeliger, lauter Tisch von vier Skatspielern und ein paar Kiebitzen. Ein Jüngling mit seinem Verhältnis, in illustrierten Zeitschriften blätternd ...

Aber wer jetzt die Augen des Gesetzes hat, wie du, Schupo Peschke, der sieht da draußen auf der Straße die Masken des Gesetzes: der fliegende Händler, der mit seinem Bauchladen von Zigaretten den Bürgersteig entlangwandelt, ist kein fliegender Händler, und das Straßenmädchen, das im Vorüberstreichen eine Lippe riskiert, hat keinen Männerfang im Sinn, und der alte Herr, der sich an seinem Stock längs der Bank vorbeitastet, hat unter seinem weißen Hängebart die Vierzig noch nicht überschritten.

Und du kannst nicht wissen, Friedlich Peschke, ob der bleiche Mensch, der mit dem Zangenstock Zigarrenstummel vom Asphalt auffischt, nicht ein Spanner der Gegenpartei von drüben ist. Oder der behäbige Herr, der nachts noch unter der Laterne aufmerksam die Litfaßsäule studiert, ob der nicht Schmiere steht. Das offenbart im Kampf der Masken und der Maulwürfe erst die Mitternacht.

Da ist die Mitternacht ... Und plötzlich lebt die Mitternacht ... läuft ... leuchtet ... lärmt ...

Wo kommen – Schlag zwölf – die Männer in Mänteln und Tschakos her, die hastig, vom Überfallauto gesprungen, die Straßenecken besetzen und abriegeln? Sie kommen gerade zurecht, den Herrn von der Litfaßsäule abzufangen, der wie ein Rasender davonrennt. Warum stößt mit einemmal der Zigarrenstummelsammler einen durchdringenden Warnungspfiff aus und huscht wie eine gescheuchte Ratte die Hauswände entlang, den Blauen drüben in die Arme?

Und gellender als sein Pfiff zwischen zwei Fingern das Trillern einer Signalpfeife. Der Kriminalkommissar Dürisch führt sie an die schnurrbärtigen Lippen. Und von rechts, von links, von rückwärts, schrillt das Echo der Pfeifen der Kriminalpolizei als Zeichen: der Kriegsschauplatz ist rings umstellt.

Warum, Friedrich Peschke, läßt in dem Bierlokal plötzlich der Herr aus der Provinz seine Ehehälfte im Stich und der zeitungblätternde Jüngling seine Liebste und laufen hinaus? Warum fliegen dahinten die Karten auf den Tisch, und die Skatspieler und ihre Kiebitze, all die bisherigen heimlichen Beobachter der Reparaturwerkstatt auf der andern Straßenseite, stürmen zwischen den Stühlen durch die erschrockenen Spießer, nach dem Ausgang?

Was eilen auf dem Fahrdamm die Gestalten in Schlapphüten und Mänteln auf das verschlossene Hoftor der Kraftradhandlung des Matthias Wanner zu? »Aufgemacht! Im Namen des Gesetzes!« Tiefe Stille dahinter. Stemmeisen her! ... 'ne Königin von England ... ein Kuhbein ... einerlei ... die Torflügel knirschen und spalten sich. Hinein! Als erster, seinen Leuten voraus, der Kommissar Dürisch, den dünnen, wie ein Spazierstöckchen wippenden Totschläger mit dem Bleiknopf in der Rechten, die Linke in der Tasche am Pistolenkolben.

Und drüben – am Bankeingang läutet es Sturm. Ein graubärtiger, würdiger Greis steht da inmitten einer dunkeln Männergruppe. Er blickt, einen Begleiter neben sich, kurzsichtig zu dem Nachtpförtner empor, der aus seiner Luke blinzelt: »Ach – bitte – Schliephake! Ich bin's – der Prokurist Mörius ... und hier neben mir Herr Baumann, von der Firma! Beide im Auftrag des Herrn Geheimrats! Die Polizei will in die Bank ...«

Du hast wohl als Bub einmal aus Mutwillen einen Ameisenhaufen aufgestöbert, Schupo Peschke! So bringt ihr – du und die Polizei – jetzt die Häusergevierte ringsum zum Wimmeln. In wenigen Minuten kribbeln die Straßen hinter den Tschakoketten. Die Fenster erhellen sich. Menschen in Nachtgewand beugen sich hinaus. Drunten ist ein Gewühl. Ein Stimmengewirr. Ein dumpfes Tuten. Langsam bahnt sich die Limousine des Geheimrats Wiebeking, von einem Schupo neben dem Chauffeur behütet, ihren Weg. Hält vor der Bank. Der kleine, vollbärtige Herr steigt rasch aus. Eilt in das Innere. Ein Kriminalschutzmann faßt ihn warnend am Arm:

»Vorsicht, Herr Geheimrat! Da unten im Gewölbe wird geschossen!«

Zwei-, dreimal, dumpf wie Hammerschläge, der Widerhall der Pistolenknalle aus der Tiefe. Der Kommissar Dürisch kam die rechteckig gewinkelte Treppe von der Stahlkammer herauf.

»Die Kerle waren viel weiter, als wir dachten, Herr Geheimrat! Sie hatten schon eine Reihe Safes aufgesprengt. Aber es kann nichts weggekommen sein. Wir haben die ganze Kolonne festgenommen!«

»Und die Schüsse?«

»Das ist der Führer. Der sogenannte Dicke. Der weiß, daß er diesmal lebenslänglich kriegt. Der will sich nicht ergeben! ... Hier, bis zum Treppenabsatz, können Sie vorsichtig hinuntersteigen, Herr Geheimrat! Aber um Gottes willen keinen Zoll weiter!«

Ein halbes Dutzend Beamte standen da in Deckung. Zuweilen feuerte einer hinter der Mauerkante her einen Schuß in das leere, hell erleuchtete Gewölbe, in dessen wüstem Wirrwarr von Schuttbrocken, Aktenstücken, Schmuckkästen, aufgerissenen Briefen die durchschnittenen Alarmdrähte an den Wänden hingen. Hinter dem Knall klang ein Aufschlag auf Metall. Die gestauchten Bleipilze der Kugeln lagen abgeprellt rings um das schwarz klaffende Einsteigloch am Boden.

»Der Kerl hat sich in das große, aufgesprengte Schließfach ganz drüben in der Ecke geduckt!« sagte der Kommissar. »Er benutzt die Safetüre als Schutzschild und bestreicht durch ihren fingerbreiten Spalt ein winziges Stück der Wand gegenüber. Wenn es gelänge, da unversehrt vorbeizukommen, so könnte man die Türe von außen zudrücken und ihn einfach in seinem Kasten einsperren! ... Aber man kriegt vorher sicher sein Loch in den Leib! Herr Peschke ... Sie sind wohl verrückt!«

»Da springt er los!«

»Nee –«

Ein Schrei durch den Krach des Schusses von drüben.

»Da liegt er!«

»Finte, Mensch! Hat sich vorher hingeworfen und den Schuß über sich weggehen lassen! Nu schnell wieder auf! Drüben an die Wand in Deckung!«

»Donnerwetter! Der Junge kann was!«

»Nu ist der Dicke geliefert!«

»Nu kraucht er aus seinem Loch!«

Hinter der auffliegenden niederen Stahltüre hob sich breitnüstrig ein steingraues, wutfunkelndes Bulldogg-Gesicht. Eine blautätowierte Boxerfaust hob die Pistole gegen den Schupo Peschke. Aber schneller noch knatterte vom Treppenabsatz her ein Vierteldutzend Schüsse zugleich. Das Gewölbe donnerte. Durch den Rauchschleier klappte drüben ein vierschrötiger Körper zusammen. Breite Blutbäche krochen eilig unter ihm hervor. Ein paar Beine zappelten krampfhaft in der Luft.

Eine halbe Minute war es in dem bläulich-bitter schwelenden Gewölbe so still, daß man nur das Trommeln der Stiefelabsätze auf dem Zement des Bodens und ein ersticktes Gurgeln hörte. Dann verstummte das Geröchel. Die Beine streckten sich. Lagen starr und steif.

»Der is alle, Herr Kommissar!« Der Schupo Peschke stand stramm. Sein rundes, bartloses Gesicht lächelte dienstlich, befriedigt.

»Na – das vergesse ich Ihnen nicht, Peschke! Morgen fordere ich Sie an!«

»Er blutet immer noch wie ein Schwein!«

»Na – denn 'raus mit ihm, ehe die Sachen am Boden schmutzig werden!«

Auf dem Pflaster vor der Bank lag der Dicke. Auf dem Pflaster der Stadt, in der er ein halbes Jahrhundert gehaust. Mit vierzehn Jahren hatte er sein erstes Verbrechen begangen. Mit zwanzig hatte der Staat ihn wieder zum Kampf gegen seine Bürger hinausgeschickt. Die Hälfte seines Lebens hatte er im Zuchthaus verbracht. Ungezählte Tausende von Mark an Steuern sorgengeplagter Familienväter hatte die Gesellschaft durch anderthalb Menschenalter ausgegeben, um den Dicken zu beköstigen, zu behüten, zu bekleiden. Gelehrte hatten seinen Schädel gemessen, Professoren seinen Geisteszustand untersucht, Sachverständige lange Gutachten über ihn abgegeben, Gerichtshöfe sich über ihn den Kopf zerbrochen, Ärzte und Schwestern ihn in der Krankenabteilung betreut, Intellektuellen-Komitees sich zu seinem Schutz gebildet, mitleidige Damen ihm Weihnachtslieder vorgesungen, Machthaber ihn begnadigt. In regelmäßigen Zeitumständen war er in Freiheit gesetzt, nach der nächsten Missetat wieder eingesungen und nach einiger Zeit wieder auf die Menschheit losgelassen worden.

Nun war der Dicke tot. Man hatte noch keine Hülle gefunden, um ihn zu bedecken. Er lag im Laternenschein frei vor den neugierigen und bangen Augen der Menge hinter der Schupokette.

Inmitten der Menschen trat, soweit es ging, ein Mädchen aus der Nacht. In ihrem schmalen, hübschen Gesicht mit dem zierlichen Naschen starrten unter dem roten Topfhut die hellbraunen Augen auf den Toten.

»Dem hab ich's besorgt, Paule!« sagte sie leise zwischen den kleinen, weißen Zähnen, und es klang wie ein erstickter Aufschrei der gequälten Kreatur.

»Nimm dich in acht, Fränze!«

»Wenn ich nur wüßte, ob sie den Ale gekriegt haben! Wenn sie ihn jetzt nicht gekriegt haben, dann kriegen sie ihn nie. Der Dicke ist hin. Und der Dicke ist der einzige Mensch, der gewußt hat, wer der Ale ist!«

»Du hast den Dicken bei Wiebekings ins Haus gelassen, Fränze! Na – und auch vorher allerhand ...«, sagte der Spreeschiffer Paule Räder. »Wenn sie dich hier aufpieken, dann laden sie dich gleich zu 'ner netten, kleinen Spazierfahrt nach dem Alexanderplatz ein!«

»Ach – der olle Alex kann mich gernhaben! ... Wir gondeln morgen früh nach Holland!« Die Fränze Häselich hängte ihren Arm in den des Schiffers und ging leise mit ihm nach hinten.

»... und da heiraten wir. Und da bleiben wir, bis der ganze Klimbim mit dir verjährt und vergessen ist ...«

»... und da wird man nun endlich ein anständiger Mensch! Hab' ich doch mein Leben lang gewollt! Aber die andern nich!«

Die Kleine blieb stehen und schaute noch einmal nach dem Berliner Nachtbild zurück.

»... und was 'mal meine Kinder sind – die erzieh' ich propperer, als das mir vergönnt gewesen ist! Darauf dürfen die Bälge heut' schon Gift nehmen!«

»Rasch! Sonst sieht dich drüben der Dürisch! Da kommt er gerade mit dem ollen Leidtragenden, dem Millionäser, aus der Bank!«

»Ja – geglückt und doch nicht ganz geglückt, Herr Geheimrat – zunächst wenigstens!« versetzte der Kommissar. »Vorerst ist die Geschichte – entschuldigen Sie den harten Vergleich – 'n Bandwurm ohne Kopf. So'n Kopf bildet, wie Sie wissen, prompt neue Glieder, und der Ale, wenn mir ihn nicht heute kriegen, morgen 'ne neue Kolonne!«

»Aber Sie sagen doch, er sei dabeigewesen?«

»Die schweren Jungen, die ich eben einzeln in aller Eile vernommen hab', behaupten es einstimmig! So wie gewöhnlich – unkennbar mit seinem schwarzen Schal vor Mund und Nase!«

»Wo ist er denn hin?«

»Irgendwo hier an Ort und Stelle verborgen! Wir müssen den ganzen Kampfschauplatz durchsuchen!«

»Was das Bankgebäude betrifft – mein Herr Mörius ist seit dreißig Jahren im Haus! Der kennt jeden Winkel! Schliephake ... haben Sie Herrn Prokuristen Mörius nicht gesehen?«

»Der ist mit Herrn Baumann hinüber nach der Fahrradhandlung gegangen, um sich die Bescherung auch dort mal anzusehen, Herr Geheimrat!« meldete der verdatterte Nachtpförtner.

»Na – da finden wir ihn ja! Kommen Sie, Herr Kommissar!«

»Fabelhaft, wie weit die Frechheit der Kerle gegangen ist!« Der beleibte, kurzatmige Prokurist Mörius wandte inzwischen drüben auf dem von Schupomänteln blauen Hof der Werkstatt den grauen Bart zu seinem Kollegen von der Bankfirma. »Sehen Sie nur, Baumann, was der Herr da hat!«

»Das ist ja – und in größtem Maßstab – eine Blaupause des Gewölbes!«

»... mit dessen Umbau die Architekten dieser Tage beginnen sollten!«

»Wo kommt denn der Grundriß her?«

»Ein Rätsel für mich und meinen Sozius!« sagte der danebenstehende Architekt. »Wir beide haben bisher überhaupt nur Notizen gemacht und die Originale noch gar nicht kopiert. Diese Pläne liegen wohlverwahrt im Arbeitszimmer des Geheimrats Wiebeking! Und nun fährt auf einmal das Ding hier auf dem Boden herum! Ach – halten Sie es doch bitte einen Augenblick! Ich muß nur noch dort drüben jemandem etwas sagen!«

Er schritt durch die Schupokette auf der Straße nach der dahinter gestauten Menschenmauer. Von der Bank her rannte atemlos der Schutzmann Peschke den Bürgersteig entlang hinter dem Bankherrn und dem Kommissar drein.

»Herr Geheimrat ... Herr Geheimrat ... Wer ist der Herr, der sich da vor uns eben in die Leute 'reindrängt?«

»Ich kenn' ihn nicht ...«

»... ich seh' ihn ja nur von hinten! Aber genau so hat damals auf dem Ottoplatz der von hinten ausgesehen! Genau so ein kurzer Herbstpaletot! Genau so hat er den Kopf ein bißchen schief gehalten!«

»Herr Mörius ... Wer ist der Herr, mit dem Sie da eben sprachen?«

»Der Architekt, Herr Geheimrat!«

»Ich habe keinen Architekten bestellt ...«

»Aber Herr Geheimrat ... Er sagte mir doch selber, er wäre es!«

»Die beiden Architekten sehen ganz anders aus – der eine klein – der andere auffallend dick ...«

»Aber er hat doch die ganze Zeit hier auf dem Hof gestanden – mit dem Plan in der Hand und ihn studiert und den Kopf geschüttelt ...«

»Über Sie!«

»... und sich mit mir gut zehn Minuten über den Einbruch unterhalten ...«

»Und weil ihn die Polizei mit Ihnen, dem Vertreter des Bankhauses, im Gespräch gesehen hat, hat sie ihn jetzt eben unbeanstandet durchgelassen ...«

»Man muß hinter ihm her ...« Das zerkrampfte Pausblatt entfiel der Hand des Herrn Mörius. Der Kommissar Dürisch hob es auf und glättete es.

»Nun ist es zu spät!« sagte er. »Nun ist der Ale wieder über alle Berge!«


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